Dokumentation | Relotius
Schädliche Neigungen
Schon früh begann Relotius mit dem Tricksen – seine Beiträge in der Financial Times Deutschland
von Volker Lilienthal und Journalistik-Studierenden der UHH
„Alles, was ich erzähle, ist erfunden.
Einiges davon habe ich erlebt.
Manches von dem, was ich erlebt habe,
hat stattgefunden.“
Matthias Brandt: „Raumpatrouille“
Nicht nur der Spiegel ist eine betrogene Redaktion. Bekanntlich brachte Claas Relotius seine Lügengeschichten in vielen Zeitungen und Zeitschriften unter. Unter den Betroffenen ist auch die Financial Times Deutschland (FTD). Bislang hatte niemand die dort zwischen August 2010 und April 2012 erschienenen zehn Beiträge verifiziert. Eine Redaktion, die das tun könnte, gibt es ja nicht mehr. Auch der Verlag Gruner + Jahr kam nicht auf die Idee. Das Blatt wurde am 7. Dezember 2012 eingestellt. Sein Chefredakteur war von 2004 bis zum Ende Steffen Klusmann, der heutige Spiegel-Chefredakteur.
Die zehn FTD-Texte fanden sich in der Genios-Pressedatenbank. Das ausstehende Fact-Checking haben nun Journalistik-Studierende der Universität Hamburg nachgeholt. Das Kernergebnis ihrer Überprüfungsrecherchen, angestellt im Masterkurs „Recherche II“, widerlegt eine bei der Ursachenforschung seit Mitte Dezember wiederholt aufgestellte These: Relotius, Spiegel-Redakteur erst seit 2017, habe dem dort herrschenden Leistungsdruck genügen wollen. Zudem hätten die Journalistenpreise, die er bis kurz vor seinem Karriereende ergatterte, falsche Anreize gesetzt.
Die Wahrheit ist eine andere: Schon der frühe Relotius entwickelte schädliche Neigungen, er recherchierte seine Fakten nicht immer sorgfältig, er kupferte manchmal bei anderen ab, und er hübschte seine Storys gelegentlich auf, indem er Vor-Ort-Sein suggerierte und mutmaßlich auch Zudichtungen vornahm. Dies alles zu einer Zeit, als der damalige Mitzwanziger noch an der Hamburg Media School studierte bzw. kurz nachdem er dort Ende 2011 seinen Masterabschluss gemacht hatte.
Die Relotius-Texte erschienen allesamt im Agenda-Teil der lachsfarbenen FTD – einem Zeitungsbuch, in dem damals Kultur, Sport, „Out of Office“, auch Reportagen, Kommentare und Analysen ihren Platz fanden. Keine harten Wirtschaftsgeschichten mit Zahlen und Fakten, sondern bunte Erlebnisberichte, die häufig im „Weekend“ (freitags) ihren Platz fanden. Wie auf Genios dokumentiert, folgte der Relotius-Autorenzeile jeweils eine schillernde Ortsmarke – ganz so, als sei Relotius überall dort gewesen. Metropolen waren darunter – London, Moskau, Berlin und selbst Mexiko-Stadt. Eine norwegische Insel namens Bastøy, auch Bethlehem, Kopenhagen und weniger bekannte Orte wie Akaba, Askar und nicht zu vergessen die Grafschaft Kent im Südosten Englands.
Starten wir in Jordanien und wandern in chronologischer Reihenfolge des Erscheinens nach Norwegen.
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Ein Beduine hat noch nie solchen Lärm gehört – was hörte er in den sieben Jahren zuvor?
In dem Artikel „Die Bassprediger von Akaba“ (04.08.2010) berichtet Claas Relotius über das Distant Heat Festival in Jordanien im Juli 2010. Der Artikel zeichnet ein buntes Bild aus vielen Eindrücken, sodass der Leser das Gefühl hat, selbst vor Ort zu sein. Doch war Relotius tatsächlich Besucher des Festivals? Dies kann durch einige ungenaue Angaben zumindest angezweifelt werden.
So gibt er als Festival-Location die Wüstenlandschaft Wadi Tala an. In verschiedenen anderen Quellen, wie der New York Times (NYT) oder Vice, wird jedoch von Wadi Rum gesprochen. Wadi Rum liegt in der Wüste nahe der Stadt Akaba an einem Ausläufer des Roten Meeres im Süden Jordaniens. Die beiden genannten Artikel weisen des Weiteren darauf hin, dass das Festival wenige Tage vor Beginn nach Akaba verlegt werden musste, da es Beschwerden der Einheimischen gab. Von dieser Verlegung berichtet Relotius nicht, jedoch davon, dass das Festival im Jahr 2010 zum ersten Mal im Wadi Tala stattfand. Wadi Tala ist zu klein, um über Google Maps gefunden zu werden. Lediglich auf einer Webseite über eine Beduinentour ist von einem Wadi Tala in der Nähe („even closer to town“) des „St. Katherine village“ die Rede. Damit ist vermutlich das Katharinenkloster gemeint, welches allerdings zwischen dem Golf von Akaba und dem Suezkanal in Ägypten liegt.
Die Protagonisten des Artikels und ihre Aussagen sind kaum verifizierbar. Zunächst wird ein älterer Beduine vorgestellt. Verwunderlich dabei ist, dass dieser noch nie in seinem Leben einen solchen Lärm gehört haben soll, obwohl das Festival – laut Relotius – bereits seit sieben Jahren in seinem Ort stattfindet. Neben diesem Beduinen und einem Festivalbesucher aus Syrien kommt der deutsche DJ Alex M.O.R.P.H (bürgerlich Alexander Mieling) zu Wort. Dieser trat zwar nachweislich auf dem Festival auf, war aber leider nicht für eine Überprüfung seiner angeblichen Aussage im FTD-Artikel zu erreichen. In der NYT wird der DJ ebenfalls zur Besonderheit der Location zitiert – die beiden Aussagen sind aber nicht identisch.
Relotius schildert auch Probleme, mit denen das Festival zu kämpfen hat. In anderen Artikeln wird ebenfalls darüber berichtet, dass das Festival viele Gegner hat. Ob die jordanische Kulturbehörde das Festival tatsächlich unterstützt und ob in den Anfangsjahren wirklich der Geheimdienst vor Ort war, konnte nicht verifiziert werden. Die Webseite der jordanischen Kulturbehörde – nur auf Arabisch verfügbar – stellt jedenfalls keine Informationen über das Festival zur Verfügung.
Zu bestätigen sind Relotius’ Aussagen über das national und international gemischte Publikum, über die Teilnahme von Fans aus mittlerweile aller Welt. Doch lassen Relotius markante Beschreibungen der Festivalbesucher Zweifel aufkommen: „Sie sind grell geschminkt und haben auftoupierte Haare, Ringe in der Nase oder Trillerpfeifen im Mund.“ Im Beitrag der New York Times wird ein anderes Bild des Festivalpublikums geschildert. Die dort abgebildeten Besucher wirken weniger schrill.
Zusammenfassend können einige Unstimmigkeiten und Abweichungen von anderen Quellen festgehalten werden. Insbesondere die Nennung einer anderen Location ist auffällig. Die Mehrzahl der Aussagen des Artikels ist jedoch nicht verifizierbar, da Quellen aufgrund geographischer, kultureller und zeitlicher Hürden fehlen oder die Protagonisten nicht ausfindig gemacht werden können.
Fact-Checking: Julia Behre, Margarita Ilieva, Theresa Krieger
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„Mehr als 400 Besucher“ drängen sich in einen Club – bei dpa waren es erst 300
In dem Artikel „Beat über Bethlehem“ (17.09.2010) berichtet Claas Relotius über das „Cosmos“, den wohl einzigen Tanzclub im Westjordanland. Die Überprüfung seiner im Text getätigten Aussagen hinterlässt dabei einen gemischten Eindruck. Während sich einige problemlos nachprüfen lassen, sind andere schlichtweg nicht verifizierbar.
Viele von Relotius’ Aussagen lassen sich mithilfe einer Internetrecherche schnell überprüfen. So konnte zum Beispiel Peter Hosh, Betreiber des Tanzclubs und hauptsächlicher Protagonist in Relotius’ Text, als ebendieser identifiziert werden: Die Deutsche Welle berichtete ebenfalls über das „Cosmos“ und zeigt ein Foto, auf dem der Clubbesitzer unter Angabe des gleichen Namens zu sehen ist. Ebenso sieht man Peter Hosh auf einem Bild, das auf der Website gettyimages.co.uk käuflich erworben werden kann. Eine Aussage von Relotius, nämlich dass im „Cosmos“ Alkohol an Gäste ausgeschenkt werde, wird durch diese Aufnahme ebenfalls bestätigt: Der Barbesitzer steht vor einem mit Alkoholika gut gefüllten Regal. Dass Hosh diesbezüglich keinerlei Probleme mit den örtlichen Behörden haben soll – so Relotius in seinem Artikel –, thematisiert auch ein Artikel von The Jerusalem Post aus dem Jahre 2007. Bei Hosh selbst erfragt oder aus der Jerusalem Post abgeschrieben – letztlich lässt sich das nicht entscheiden.
Auch Relotius’ Beschreibung der Räumlichkeiten scheint zuzutreffen: Demnach gibt es im „Cosmos” LCD-Schirme, Stroboskoplicht, Nebelmaschinen und Wasserpfeifen. In einem Youtube-Video von 2012 sieht man die Tanzfläche und Fotos von anderen Bereichen des Clubs.
Die Aussage, dass das „Cosmos” der einzige Tanzclub in Palästina ist, ist ebenfalls zutreffend. Es scheint zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels tatsächlich nur einen richtigen Club, in dem getanzt und gefeiert wurde, in Palästina gegeben zu haben. Es gibt zwar viele Bars und Restaurants, aber keinen Club wie das „Cosmos“. Auch Relotius’ Aussagen über die Bevölkerungsanteile der Religionen in Bethlehem stimmen.
Was ließ sich nicht überprüfen? Relotius schreibt: „Jeden Donnerstagabend legen hier arabische DJs auf.” Da der Club keine eigene Internetseite hat und die Facebookseite nicht mehr existiert, ließ sich diese Aussage nicht überprüfen. Relotius schreibt auch, dass es 2008 in der Stadt Hebron einen Brandanschlag auf ein Konzerthaus eines Freundes von Peter Hosh gegeben habe. Es fanden sich jedoch keine Medienberichte über ein Konzerthaus, das 2008 in Hebron abbrannte.
Zu bemerken sind ferner einige Ungereimtheiten. Relotius schreibt, dass es „mehr als 400 Besucher” seien, die jede Woche im „Cosmos“ feiern gehen. Einen Tag vor Erscheinen des FTD-Artikels hat Relotius jedoch einen Artikel bei der dpa veröffentlicht, in dem er noch von 300 Besuchern schreibt. Im Sommer 2010 hatte Relotius als Praktikant für das dpa-Büro in Tel Aviv gearbeitet und in dieser Zeit laut Nachrichtenagentur drei längere Korrespondentenberichte verfasst. Dazu erklärte Unternehmenssprecher Jens Petersen Message: „Bei den Texten können wir Fälschungen oder erfundene Zitate bisher nicht nachweisen. Wir haben mit in den Berichten genannten Personen Kontakt aufgenommen. Es konnte sich aber keiner der nachprüfbaren Protagonisten an Relotius erinnern. Gleichzeitig gibt es aber Hinweise, dass er zumindest vor Ort gewesen ist.“ Die Berichte wurden vorsorglich gesperrt, der 2012 an Relotius verliehene Nachwuchspreis „dpa news Talent“ (2. Preis) aberkannt.
Nicht nachprüfbar sind die O-Töne von Clubbesuchern, da diese lediglich mit Vornamen, zum Beispiel als “Elina aus Schweden”, benannt werden und somit nicht von uns kontaktiert werden konnten. Clubbesucher Farid schwärmt laut Relotius über blonde Frauen und sucht im Club nach einer Bekanntschaft für die Nacht. Auch Farid konnten wir nicht auffinden, allerdings ist seine Aussage unwahrscheinlich, denn laut einem Artikel von 2007 aus einer israelischen Zeitung werden in das Cosmos nur Paare hinein gelassen und keine alleinstehenden Männer, die Ausschau nach hübschen Frauen halten. In dem israelischen Artikel heißt es: “If you were interested in meeting someone, this wouldn’t exactly be the place.”
Auffällig ist auch, dass sich die O-Töne von Relotius’ Protagonisten in dem dpa-Artikel und dem FTD-Artikel unterscheiden. Auch wenn es nur einzelne Formulierungen sind, deuten diese Unterschiede darauf hin, dass es Relotius nicht ganz genau genommen hat mit den Aussagen seiner Interviewpartner.
Aus unserer Überprüfungsrecherche schließen wir, dass Relotius nicht hätte vor Ort sein müssen, um einen Artikel über das „Cosmos” zu schreiben. Mehrere israelische Medien hatten bereits im Vorfeld über das „Cosmos” berichtet, die Fakten zu Eintrittspreisen, Räumlichkeiten und dem Clubbesitzer ließen sich einfach aus anderen Artikeln übernehmen. Die Protagonisten wurden bis auf den Clubbesitzer so anonymisiert, dass sie für uns nicht auffindbar waren. Vielleicht gibt es sie und Relotius war wirklich vor Ort. Es ist aber auch möglich, dass Relotius sich die Protagonisten ausgedacht hat. Die Formulierungsunterschiede in den O-Tönen im dpa– und FTD-Artikel lassen zumindest vermuten, dass Relotius nicht mit der nötigen journalistischen Sorgfalt gearbeitet hat.
Fact-Checking: David Baldauf, Clara-Franziska Kopiez
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Kauf dir eine Straße im Flüchtlingscamp – ein Monopoly der besonderen Art
Anfang 2011 kann Relotius in der FTD einen Artikel über das palästinensische Flüchtlingscamp Askar unterbringen. Dort konnte man zu der Zeit über eine Organisation, gegründet von Niederländern, Straßenschilder kaufen und sie mit einem eigenen Namen versehen. Das Geld sollte einem Jugendzentrum des Camps zugutekommen. Aber war Relotius wirklich vor Ort? Stimmen die Fakten?
Zu Beginn des Artikels „Das Geld liegt auf der Straße“ (27.01.2011) nennt Relotius einige Straßennamen, die es infolge der Aktion in Askar geben soll. Es ließ sich belegen, dass die jeweiligen Straßennamen zwar tatsächlich genutzt werden, dass sich jedoch bei drei von vier Straßennamen kleine Fehler in der Schreibweise eingeschlichen haben. Der erste Protagonist seines Artikels wird Khalid Ibrahim genannt und soll 61 Jahre alt sein. Er sei einer der wenigen, die Englisch lesen, sprechen und verstehen könnten, heißt es. Diese Beschreibung trifft interessanterweise auch auf einen Ibrahim zu, der in anderen zuvor erschienenen Artikeln (Stuttgarter Zeitung/Deutsche Welle) erwähnt wurde. Dort ist dieser allerdings deutlich über 61 Jahre alt und, anders als bei Relotius, mit einer ausführlichen Hintergrundgeschichte ausgestattet. Es stellt sich also die Frage: Gibt es zwei Menschen im Camp mit dem gleichen Namen, die beide Englisch sprechen, oder ist derselbe Mensch von einem Bericht zum nächsten plötzlich jünger geworden?
Bei der Vorstellung seiner Protagonisten schreibt Relotius weiter: „Zusammen mit einem Freund verkauft der 31-jährige Niederländer die Straßennamen von Askar im Internet“. Das stimmt nur teilweise. Der Niederländer namens Basthios Vloemans ist tatsächlich einer der Beteiligten des Straßenschild-Projekts, er hatte jedoch mehrere Mitstreiter, nicht nur einen. Das zeigt ein Blick auf ihre Website: Dort werden vier Gründer benannt. Wie konnte Relotius dies übersehen? Oder ließ er sich von einer missverständlichen Passage in der Stuttgarter Zeitung inspirieren? „Die Idee kommt aus den Niederlanden, aus Amsterdam. Job van Oel und Basthios Vloeman besuchen auf einer Reise das Flüchtlingslager, sie wollen helfen, doch nicht nur Geld sammeln“‘. Zwar stammt die Idee von zwei Personen, die Schilder wurden aber von vier Personen verkauft.
Zitate, die im Relotius-Artikel erscheinen, ähneln ebenfalls Abschnitten aus früheren Berichten. So zitiert er den Niederländer Vloemans mit den Worten: „Twitternamen, Geburtstagsglückwünsche, alles ist erlaubt. […] Nur bei politischen oder extremen Sachen machen wir nicht mit. Die Namen sollen für etwas Positives stehen.“ In dem Beitrag der Deutschen Welle heißt es ähnlich: „Alles ist erlaubt: Twitternamen, Websites oder Grüße an den Nachbarn – nur extrem darf’s nicht sein.“ Und wiederum in der Stuttgarter Zeitung: „[…] die Schilder sind schön und haben fröhliche Namen.“ In beiden Fällen wurde dort jedoch nicht Vloemans zitiert. Stattdessen handelt es sich einmal um eine Aussage der Autorin selbst und das zweite Zitat wird dem oben genannten Ibrahim zugeschrieben.
Die genauere Recherche konnte keine von Relotius aufgeführten Fakten widerlegen. Es bleibt jedoch unklar, ob er tatsächlich vor Ort war und mit den angegebenen Protagonisten gesprochen hat. Zentrale Elemente seiner Story, wie ein Heiratsantrag mittels eines Straßennamens, sind bereits in vorher erschienenen Artikeln erwähnt worden. Der gesamte Artikel von Relotius besteht aus Fakten, die mithilfe des Internets recherchierbar gewesen wären und theoretisch keine weitere Vor-Ort-Recherche benötigten. Hat Relotius demnach auch bei diesem Artikel betrogen? Die Überprüfungsrecherche lässt es vermuten.
Fact-Checking: Paula Lauterbach, Paul Meerkamp, Natalia Möbius
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In den eigenen Mehrfachauswertungen war Relotius inkonsistent
In dem Artikel „Es war einmal in Mexiko“, erschienen am 11.02.2011, berichtet Claas Relotius vom „Müllpaten“ Pablo Téllez und dessen „Mafia“, die auf dem Bordo Poniente, dem „größten Abfallhaufen Lateinamerikas, regiert“. Tatsache ist: Die Mülldeponie im Osten von Mexiko-Stadt existierte wirklich.
Im Jahr der Artikelveröffentlichung, Ende 2011, wurde sie dann aber geschlossen. Relotius steigt szenisch ein („Der Morgen graut“) und suggeriert damit, er sei als Reporter selbst vor Ort gewesen. Seine Beschreibungen der „600 Fußballfelder großen“ Müllkippe von „Don Pablo“ und seinen „1000 geschätzten Pepenadores“ (dt. Müllmenschen) ähneln aber an zahlreichen Stellen stark der bereits ein Jahr zuvor in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienenen Reportage von Alex Gertschen. Um die Größe der Deponie zu beschreiben, werden allerdings aus „700 Fußballfeldern“ bei Gertschen „600 Fußballfelder“ bei Relotius in der FTD.
Im weiteren Textverlauf taucht bei Relotius ein Mann namens Fredo auf. Fredo sei 49 Jahre alt und „einer der Ältesten“ Müllsammler auf der Deponie. Fredo kommt mehrmals zu Wort, u.a. mit der Aussage: „Handschuhe kann ich mir nicht leisten.“ In der FTD schreibt Relotius über Fredo: „Seit über zehn Jahren lebt und arbeitet er schon auf Don Pablos Müllkippe.“ Doch vier Monate zuvor hatte Relotius auf ZEIT Online schon einmal über die Müllkippe geschrieben, ebenso auf welt.de: Auch darin taucht Fredo auf, lebt da aber schon seit „über zwölf Jahren“ auf der Deponie. Und das, obwohl der ZEIT Online-Text zeitlich früher erschienen ist.
Dass freie Journalisten ihre Texte mehrfach verwerten, ist normal. Abweichungen zwischen Textversionen aber, zumal wenn sie Zahlenangaben betreffen, machen skeptisch und können nicht nur mit schludrigem Abschreiben von sich selbst erklärt werden. Die ZEIT hat bislang nicht verifizieren können, dass Relotius wirklich vor Ort war, wie sie in ihrem „Glashaus“-Blog berichtet. Auch die interne Nachprüfung durch die WELT hat eher Zweifel als Bestätigungen erbracht.
Der Schweizer Gertschen hatte für die NZZ mehrere Jahre lang aus Mexiko berichtet und war 2012 aus Mittelamerika nach Zürich bzw. Bern zurückgekehrt. Von ihm darf man annehmen, dass er wirklich auf dem Bordo Poniente war. Bei Relotius ist das fraglich. Der Textvergleich FTD/NZZ liefert handfeste Indizien, wonach Relotius bei Gertschen abgeschrieben hat. So berichtet Gertschen von Silvia Mazadiegos, der Buchhalterin von Deponie-Boss Pablo Téllez. Der Schweizer Reporter hatte sie in ihrem kleinen Büro getroffen. Bei Relotius werden aus einer Buchhalterin zwei Sekretärinnen. Und während es bei Gertschen hieß: „Das offene Fenster ihres Büros ist mit einem Gitter versehen, damit die Fliegen draussen bleiben“, macht Relotius daraus: „Die Klimaanlage brummt, durch das Fliegengitter am Fenster dringt der Lärm der Deponie hinein.“
Alex Gertschen will sich nicht festlegen, was womöglich bei ihm abgeschrieben wurde und was Relotius selbst erlebt hat. Ansonsten äußert sich der erfahrene Schweizer Reporter gegenüber Message eindeutig: „Grundsätzlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand, der sich in Mexiko nicht besonders gut auskennt und nicht lokal vernetzt ist, Zugang zum Bordo Poniente erhalten, geschweige denn ein Interview mit Téllez geführt hat.“
Fact-Checking: Leon Löffler
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„Eine fröhliche, rothaarige Frau namens Heidemarie“
Im Artikel „Du bist Deutschland“ vom 21. März 2011 stellt Claas Relotius das Interview Project Germany des US-Filmemachers Austin Lynch vor. Grundlage des 50-teiligen Dokumentarfilmprojekts sind die Lebensgeschichten von ebenso vielen Personen, die der Regisseur bei seiner Reise durch Deutschland zufällig auf der Straße getroffen hat.
Klaus Münstermann, Luci Lehmann und Neriman aus Lindau sind drei von ihnen. Relotius zitiert Teile ihrer Aussagen in seinem Artikel – und stellt die faktizierbaren Sachverhalte korrekt dar. Bei der näheren Betrachtung fällt jedoch auf, dass Relotius unsauber arbeitet, beispielsweise als er Luci Lehmanns Heimatort mit „Neubrandenburg“ angibt. In dem auf der Website des Interview Project Germany veröffentlichten Videos sagt diese jedoch: „Ich leb‘ jetzt in Rosenow bei Neubrandenburg“. Das Dorf liegt circa 20 Kilometer nordwestlich von der Stadt entfernt. Relotius ist auch in Bezug auf Lynch nachlässig gewesen. Der Filmemacher sei 24 Jahre alt, heißt es in der FTD. Laut Filmdatenbank IMDb (und anderen Quellen) ist er jedoch am 7. September 1982 geboren. Bei Veröffentlichung des Artikels am 21. März 2011 war der Regisseur also bereits 28.
Am 11. März 2011, also zehn Tage vor Erscheinen von „Du bist Deutschland“, veröffentlicht ZEIT Online ein Wortlautinterview, welches Relotius mit Lynch geführt hat und das vermutlich auch die Grundlage für den Artikel in der FTD bildete. Der Filmemacher wirft darin einen persönlichen Blick auf die von ihm porträtierten Menschen und erklärt, was dies seiner Meinung nach über Deutschland aussagt. Auf Relotius‘ Frage, ob er die Menschen im Ost- und Westteil der Republik unterschiedlich wahrgenommen habe, sagt Lynch:
„Es war seltsam: Als wir in den Osten fuhren, schien sich plötzlich eine dunkle Wolke über uns zu legen – es wollte sich einfach niemand mehr interviewen lassen. Wir dachten schon, die Menschen in Ostdeutschland wären möglicherweise wirklich ganz anders als im Rest des Landes. Aber dann trafen wir irgendwo auf einem Bauernhof eine fröhliche, rothaarige Frau namens Heidemarie und wir konnten unseren ersten Eindruck zum Glück wieder über den Haufen werfen. Menschen sind eben doch überall gleich.“
Am 21. Dezember 2018 stellt die ZEIT auf ihrem „Glashaus“-Blog fest, dass Lynch diese Aussagen so niemals getroffen hat. Die Wochenzeitung bezieht sich dabei auf ein Dokument, das sie von Lynchs Produktionsfirma übermittelt bekam. Der Regisseur sagt dort eher trocken und wenig prägnant auf dieselbe Frage:
„Bis jetzt haben wir keine signifikanten Unterschiede zwischen den geografischen Regionen festgestellt. Diese Frage wird besser zu beantworten sein, wenn wir den Schnittprozess abgeschlossen haben.“
Die oben zitierte Passage ist jedoch nur ein Beispiel für den ganzen Text. So attestiert der „Glashaus“-Blog, „dass die bei uns erschienenen Interviewaussagen zu etwa zwei Dritteln erfunden sind und zu einem Drittel zumindest sehr frei übersetzt“. Vor diesem Hintergrund ist auch vom FTD-Bericht über das Lynch-Projekt nichts Besseres zu erwarten.
Fact-Checking: Melina Kersten, Pascal Patrick Pfaff, Melina Seiler
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„MP 40 der Wehrmacht, ein Original aus dem Beutefundus der Roten Armee“
In dem Artikel „Zu Gast bei Hofe” (03.06.2011) berichtet Claas Relotius von dem Fotoprojekt „Little Adults” der deutschen Fotografin Anna Skladmann, die in Moskau Milliardärskinder porträtiert hat. Der Großteil der Informationen des Artikels lässt sich auf Aussagen der Fotografin zurückführen. In Bezug auf ihre Arbeit wird sie mehrfach direkt und indirekt zitiert. Für den Leser entsteht der Eindruck, dass Relotius Skladmann im Rahmen seiner Recherche kontaktiert hat. Die Ortsmarke „Moskau“ nach dem Autorennamen suggeriert, Relotius sei vor Ort gewesen und habe die Fotografin dort getroffen.
Somit bildet Anna Skladmann den Mittelpunkt der Überprüfungsrecherche und wurde in einem ersten Schritt telefonisch kontaktiert. Bei unserem Telefonat am 04.04.2019 stellte sich heraus, dass die Fotografin weder Claas Relotius noch seinen Artikel kennt. Sie zeigte sich sehr verwundert über ihre aktive Rolle in dem Text, bestätigte jedoch die Existenz des Fotoprojektes „Little Adults”. Auch die von Relotius verwendeten Zitate bestätigte sie mit dem Hinweis, dass sie diese in Interviews mit anderen Journalisten gesagt habe. Welche Interviews das sind, ließ sich indes nicht herausfinden.
Zudem bestätigt Skladmann alle genannten Fakten zum Fotoprojekt, wie zum Beispiel ihre Inspirationsquelle Walentin Serow sowie die Namen und Hintergründe der porträtierten Kinder. Das zeigt auch der Blick in den Fotoband: Die Relotius-Passage „ihre Eltern gehören zu den Nouveaux Riches. Einer Schicht, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zu großem Reichtum gekommen ist” lässt sich sinngemäß im Intro des Buches wiederfinden. Skladmanns berufliche Laufbahn ist ebenfalls im Fotoband angegeben. Auch die Bilder beschreibt Relotius zutreffend und seine Interpretationen der Motive sind nachvollziehbar.
Unstimmigkeiten gibt es bei der szenischen Einleitung: Relotius beschreibt ein Bild auf dem eines der porträtierten Kinder mit einer Waffe posiert und sagt, dass es sich dabei um eine „MP 40 der deutschen Wehrmacht, ein Original aus dem Beutefundus der Roten Armee“ handeln soll. Zudem sei es das „Lieblingsstück” des Jungen. Skladmann erinnert sich jedoch, dass sich der Junge beim Foto Shooting willkürlich für eine Waffe aus dem Waffensortiment entschieden habe – an das Modell könne sie sich nicht erinnern. Außerdem habe sie einen Deal mit den Eltern der Kinder, wonach keine privaten Informationen an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Von der Fotografin kann die Information demnach nicht stammen. Woher also will Relotius wissen, dass es das „Lieblingsstück“ des Jungen ist? Es ist eher unwahrscheinlich, dass Relotius diese Informationen direkt von der Familie des Jungen erhalten hat.
Weiterhin schreibt Relotius, dass „in Russland mehr als 25 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben”. Laut der Quelle Russland-Analysen (PDF) aus dem Jahr 2011, in dem der Artikel veröffentlicht wurde, waren es jedoch etwa sechs Millionen weniger. Ähnlich steht es im CIA World Factbook.
Fact-Checking: Wiebke Knoche, Julian Schröder, Sara Tavakoli
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Eine künstliche Skipiste als zweithöchster Berg Dänemarks? Mitnichten
In seinem Bericht aus Dänemark „Schussfahrt am Schornstein” (16.06.2011) schildert Claas Relotius den geplanten Bau eines Heizkraftwerks in Kopenhagen, welches neben modernem Design auch eine eigene Skipiste auf dem Dach haben soll. Im Artikel wird der Architekt des Projektes, Bjarke Ingels, häufig zitiert.
Die Vermutung, Relotius könnte hier plagiiert haben, kam dadurch auf, dass neben internationalen Medien auch ZEIT Online bereits vor ihm einen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht hatte, der teilweise sehr ähnliche Informationen und Zitate beinhaltet.
So behauptet Relotius, dass es vier Monate lang in Kopenhagen Nachtfrost gebe. Dies sagt Ingels im ZEIT Online-Interview ebenfalls, Relotius führt die zudem falsche Behauptung (tatsächlich sind es nur knapp zwei Monate) in seinem Artikel jedoch als Fakt an und kennzeichnet sie nicht als Zitat. Ebenso spricht er in seinem Artikel von „wintersportaffinen Dänen”. Ähnlich dazu hatte Ingels ZEIT Online gesagt, dass Kopenhagener häufig bis zu acht Stunden ins nächste Skigebiet führen. Auch bezieht sich Relotius auf die „hedonistische Nachhaltigkeit der Anlage”, von welcher Ingels in einem Vortrag spricht, der wiederum ebenfalls auf ZEIT Online erwähnt wurde. Relotius nennt für die Zitate keine Quellen.
Andere Relotius-Behauptungen stimmen wiederum nicht mit dem ZEIT Online-Artikel überein. So beschreibt Relotius, dass das Gebäude 103 Meter hoch werde, während ZEIT Online 100 Meter als Wert angibt und ergänzt, dass es damit eines der größten Gebäude von Kopenhagen sein werde. Relotius hingegen schreibt, dass die Anlage der zweithöchste Berg Dänemarks werde, was ebenfalls nachweislich falsch ist: Der neunthöchste Berg Dänemarks, Troldemose Bakke, ist beispielsweise bereits 110 Meter hoch. Der höchste Berg ist der Yding Skovhøj mit 172 Metern.
Viele der im Relotius-Artikel genannten Auskünfte und Zahlenwerte zu der Müllverbrennungsanlage sind, wie uns die Pressestelle der Anlage auf Nachfrage per Mail bestätigte, falsch oder ungenau formuliert. So behauptet Relotius in seinem Artikel, die Anlage „versorgt täglich 140.000 Haushalte mit Strom und Wärme” – tatsächlich versorgt sie derzeit laut Betreiber lediglich 60.000 Haushalte.
Auch ist von Protesten gegen die Müllverbrennungsanlage die Rede. Diese bezogen sich laut der Pressestelle allerdings auf die verwendeten Technologien, nicht aber auf die Anlage selbst. Relotius schreibt auch von einem Panorama-Restaurant, tatsächlich ist aber nur ein Café vorhanden – am Fuße der Anlage. Dass es sich um eine vorsätzliche Täuschung seitens Relotius handelt, ist jedoch nicht anzunehmen, da das Gebäude zum Zeitpunkt seines Artikels (2011) noch in Planung war und sich das Bauvorhaben mit der Zeit geändert haben kann.
Zusammenfassend lässt sich vermuten, dass sich Relotius für diesen Artikel aus mehreren anderen journalistischen Quellen bedient hat. Auch konnten einige faktische Fehler aufgezeigt werden, die durch eine gründliche Recherche hätten vermieden werden können. Ob ein Interview zwischen Relotius und Bjarke Ingels stattgefunden hat, ließ sich leider nicht verifizieren, da das Büro des Architekten auf unsere Anfrage nicht reagierte.
Fact-Checking: Christina Rech, Christian Schierwagen, Lennard Schmeller
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Verifiziert: „Yes, I remember him. All these details in the article are exactly true”
In dem Artikel „Going Underground“ (28.07.2011) berichtet Claas Relotius über leerstehende ehemalige U-Bahn-Stationen der Londoner „Underground“, die der Geschäftsmann Ajit Chambers in „moderne Amüsiermeilen“ mit Restaurants, Eventlocations und Museen umwandeln möchte. Der Text enthält zwar sachliche Ungenauigkeiten, jedoch keine konkreten Belege für Fälschungen oder Plagiate.
Auf Anfrage bestätigte Chambers uns sowohl sein Treffen mit Relotius in der beschriebenen U-Bahn-Station als auch die verwendeten Zitate und Aussagen des Geschäftsmannes: „Yes, I remember him. All these details in the article are exactly true.” Die Beschreibungen der U-Bahn-Station und die Szenerie lassen sich anhand von YouTube-Videos, unter anderem von Chambers selbst, sowie durch Artikel in britischen Medien bestätigen.
Im Hinblick auf geschichtliche Gegebenheiten fällt eine sachliche Ungenauigkeit auf. So stellt Relotius die Unterbringung von Rudolf Heß während des zweiten Weltkrieges als Tatsache dar, obwohl sich dies nicht verifizieren ließ. Zahlreiche Medien, darunter auch britische und österreichische, berichten in diesem Zusammenhang stets von Vermutungen oder Gerüchten, stellen aber keine Tatsachenbehauptung auf.
Ähnlich verhält es sich mit der von Relotius genannten Zahl der leerstehenden U-Bahn-Stationen, die er mit 26 beziffert. Die genaue Anzahl ist der Londoner Verkehrsgesellschaft (PDF) zufolge nur schwer anzugeben, liegt vermutlich aber höher. In einem Artikel auf Spiegel Online, der etwa drei Monate vor Relotius’ Text erschien, und in weiteren Medienberichten sowie auf der Webseite von Chambers‘ Unternehmen heißt es indes, dass der Geschäftsmann 26 Stationen für sein Vorhaben ins Auge gefasst habe. Auch wenn sich kein konkreter Plagiatsverdacht begründen lässt, legen inhaltliche Ähnlichkeiten der beiden Artikel nahe, dass Relotius sich möglicherweise von der Spiegel-Berichterstattung inspirieren ließ. So benutzt er zur Illustration dieselben Beispiele, z.B. Dreharbeiten zu Harry Potter-Filmen und historische Bezüge zu Winston Churchill.
Fact-Checking: Leon Tom Gerntke, Jana Krest, Leonie Wunderlich
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Kriegsspiele: Adam Riley „hat seine ganze Familie mitgebracht“
In dem Artikel „Einmal der Nazi sein“ (05.08.2011) berichtet Claas Relotius über die „War and Peace Show“ – einem Festival, auf dem Militaria-Fans Schlachten aus vergangenen Kriegen mit originalem Equipment oder detailgetreuen Nachbildungen von Waffen und Ausrüstung nachspielen.
Die Show findet, wie von Relotius beschrieben, jährlich in der südenglischen Grafschaft Kent an einem verlängerten Juli-Wochenende statt. Ebenso bestätigte unsere Recherche, dass an dem Festival Kriegsbegeisterte aus verschiedensten Ländern, u.a. auch aus Deutschland, teilnehmen. Die Beteiligung deutscher Neonazis, die Relotius in seinem Artikel beschreibt, wird somit durchaus plausibel. Auch zeigt Videomaterial, dass die nachgespielten Schlachten tatsächlich durch den Pfiff einer Trillerpfeife beendet werden.
Ungenau wird der Autor allerdings bei zwei grundlegenden Informationen. Laut Relotius liegt der Austragungsort „eine knappe Autostunde von London entfernt“. Das Überprüfen mittels Google Maps und dem Online-Routenplaner wego.here.com (1 Stunde 18 Minuten) ergab allerdings eine Fahrzeit von etwas mehr als einer Stunde.
Auch die Zuschauerzahl, die von mehreren Quellen mit bis zu 100.000 Zuschauern angegeben wird, schmückt Relotius mit „über 100.000 Besucher“ etwas aus. Zudem erweckt er den Eindruck, bei der „War and Peace Show“ erfolge lediglich ein Nachstellen von Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg. Videomaterial zeigt allerdings deutlich, dass ebenso Schlachten aus anderen Kriegen, wie z.B. dem Vietnam- oder Afghanistankrieg, nachgespielt werden. Unklar bleibt auch, ob der Organisator Rex Cadman, der nachgewiesenermaßen die Show bis 2015 veranstaltete, seine im Text zitierte Aussage so getätigt hat.
An der „War and Peace Show“ nimmt regelmäßig die Reenactment-Gruppe „Second Battle Group“ teil. Übereinstimmend mit Relotius‘ Angaben mimt diese die SS-Leibstandarte Adolf Hitler. Ihre Mitglieder wirkten auch als Statisten im Film „Der Soldat James Ryan“ mit. Wie uns die Second Battle Group jedoch via Facebook erklärte, hat es den von Relotius vorgestellten, angeblich begeisterten Nazi-Darsteller Adam Riley („hat seine ganze Familie mitgebracht, um bis ins letzte Details die Rolle des bürgerlichen Wehrmachtsoffiziers zu spielen“) nie in der Darstellertruppe gegeben. Es ist somit anzunehmen, dass diese Person frei erfunden ist.
Auch die Existenz des Protagonisten Tony Prescott ließ sich nicht nachweisen. Laut Relotius ist Prescott ein Busfahrer und Bowlingspieler aus dem Londoner Vorort Redhill. In einer Mitgliederliste der Bowlingvereine aus Redhill ließ sich sein Name jedoch nicht finden. Gegen Ende seines Artikels stellt Relotius Barry Adams vor – ein Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, der als Funker im Sturm auf Omaha Beach zum Einsatz gekommen sein soll. Wie Relotius schreibt, können sich Veteranen die Show als Ehrengäste kostenlos ansehen – dies bestätigten uns auch die Organisatoren:
Unsere Suche im Nationalarchiv sowie im Veteranenverzeichnis führte zwar zu mehreren Veteranen namens Barry Adams, jedoch gelang uns kein Treffer zu einem gleichnamigen Veteranen, der 1944 am Omaha Beach als Funker im Einsatz war. Somit erscheint die Existenz der Personen Tony Prescott und Barry Adams zumindest fragwürdig.
Insgesamt erweckt der Artikel von Claas Relotius den Eindruck, als habe er die grundlegenden Fakten zur „War and Peace Show“ recherchiert. Ungenauigkeiten in Detailfragen (z.B. Anfahrtszeit, Zuschauerzahl, welche Kriege werden nachgestellt) stellen die tatsächliche Anwesenheit des Autors auf dem Festival jedoch in Frage. Zudem existiert einer seiner Protagonisten, zumindest in seiner ihm zugeschriebenen Rolle, nachweisbar nicht. Die handelnden Personen scheinen eher der von Relotius erwünschten Dramaturgie zu dienen, als dass sein Artikel auf vor Ort gewonnenen, tatsächlichen Eindrücken und interviewten Personen beruht.
Fact-Checking: Paulina Marciniec, Sophie Prüfert, Ansgar Wagenknecht
- Frappierende Ähnlichkeiten zu einer Spiegel-Reportage von 2011
In dem Artikel „Gangster’s Paradise“, veröffentlicht am 27.04.2012, berichtet Claas Relotius über die norwegische Gefängnisinsel Bastøy, auf der die Insassen wie im Urlaub leben. Anstatt ihre Haft in Zellen abzusitzen, gehen Schwerverbrecher hier täglich angeln und reiten.
In Relotius‘ Geschichte gibt es zwei Protagonisten: Arne Nilsen, ehemaliger Gefängnisdirektor, und Cato Norkheim, ein Drogenschmuggler und Insasse. Dass beide Personen existieren, bestätigte uns der aktuelle Leiter von Bastøy, Tom Eberhardt, auf Anfrage. Allerdings fehlen Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit, sodass Eberhardt weder bestätigen noch falsifizieren kann, ob Relotius jemals vor Ort gewesen ist und mit Personal und Insassen gesprochen hat.
Die Angaben, die Relotius über die Anzahl und Freizeitbeschäftigungen der Insassen macht, stimmen mit denen der offiziellen Webseite der norwegischen Haftanstalt überein – er könnte sie auch von dort gehabt haben. Auch die Beschreibung der Häuser und der Insel scheinen sich zu decken. Die einzigen Zellen, die es laut Relotius auf der Insel gibt, beschreibt er als „einen Quadratmeter groß, rot lackiert, und man kann in ihnen kostenlos telefonieren“. Falls Relotius diese nicht mit eigenen Augen gesehen hat (weil er mutmaßlich nie auf der Insel war), dann hat er diese Details womöglich von einem Foto auf der Website der Daily Mail vom 25. Juli 2011. Dieser reich illustrierte Bericht bietet so einiges für Reporter, die aus der Ferne plastisch beschreiben wollen.
Bekanntlich hat Relotius auch in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag (NZZ aS) einen Artikel über Bastøy unterbringen können. Dieser erschien am 8. April 2012, also noch einige Wochen vor der Version in der FTD, die insgesamt kürzer ist. Die Schweizer Redaktion kam nach ihrer Überprüfungsrecherche zu dem Schluss, dass Relotius wahrscheinlich nicht auf Bastøy gewesen ist (niemand könne sich an ihn erinnern, so Eberhardt gegenüber der NZZ aS) und es habe auch niemals einen Gefangenen namens Per Kastaad gegeben.
Mit einem Protagonisten dieses Namens hatte Relotius seine große Reportage in der Schweizer Wochenzeitung enden lassen: „Er ist 47 Jahre alt, hat graue Locken, breite Schultern, einen verschlagenen Blick“. Kastaad sei ein Häftling, der mit dem relativ freien Leben auf Bastøy erst das große Los gezogen hatte, dann aber merkte, dass er mit der Freiheit nicht umgehen könne. Und sofort zurückwollte in einen normalen, strengen Knast.
Wir haben eine Vermutung, woher Relotius diese Idee hatte: von Nicola Abé, einer Spiegel-Reporterin, die schon Anfang 2011, also ein Jahr vor Relotius, über Bastøy berichtete und von der norwegischen Gefängnisinsel den Fall von Raymond Olsen mitgebracht hatte – auch er ein Straftäter, der die Freiheit nicht aushält und zurück will in eine Haftanstalt mit totaler Überwachung. Mit der Szene der kurz bevorstehenden Rücküberführung endet Abés Reportage – ebenso wie Relotius‘ Variante in der NZZ aS.
Die Textähnlichkeiten sind frappierend – auch für Nicola Abé, die Relotius‘ Text noch nicht kannte und ebenfalls den Eindruck hat, dass bei ihr abgeschrieben wurde. Abés Reportage kann man hier nachlesen, sie erschien auch auf Englisch.
Ein letztes Detail: Die Prozentzahlen, die Relotius über die Rückfallquote von freigelassenen Sträflingen nennt, lassen sich klar falsifizieren. So behauptet er, die Quote in Norwegen liege bei 37,5 Prozent („nur halb so hoch“, bezogen auf 75 Prozent als angeblichem gesamteuropäischem Durchschnitt). Wie aus einer Studie der Universität Lausanne im Auftrag des Europarats von 2010 hervorgeht, lag die Rückfallquote in Norwegen damals sogar bei nur bei 20 Prozent.
Fact-Checking: Louise Bot, Samira Debbeler, Carlotta Kurth
Das Muster: Plagiierte Partikel, die wenig akkurat neu synthetisiert werden
Message hat mit sechs ehemaligen FTD-Redakteuren in damals verantwortlicher Position gesprochen. In ihren Reaktionen überwog die Überraschung, auch das Erschrecken, und es gab Verwunderung, dass bislang noch niemand den Fall aufgegriffen hatte. Viele erinnern sich gar nicht an den Autorennamen „Relotius“. E-Mail-Verkehr aus der damaligen Zeit gibt es wohl nicht mehr (Papier überdauert da eher, heute regiert die digitale Vergesslichkeit). Ob von Relotius angelieferte Informationen je hinterfragt wurden, kann auch niemand sagen. Rainer Leurs, der als Koordinator des „Weekends“ mehrmals mit Relotius zu tun hatte, erinnert sich an einen „ganz tüchtigen, kreativen, aber sonst nicht weiter auffälligen Jungreporter“. Als der seine ersten Preise einheimste, habe er, Leurs, sich noch gewundert, ob er da wirklich ein großes Talent übersehen hatte. Heute ist Leurs, der in seiner Hamburger Zeit nie persönlichen Kontakt mit Relotius hatte, Online-Chef der Rheinischen Post.*
Die zehn Texte aus der FTD zeigen ein Muster, ein Verfahren, das schon der frühe Relotius karriereförderlich praktizierte: Attraktive Plot-Elemente seiner Stories (wie den Häftling, der von der Insel zurück will in den strengen Knast) fand er bei anderen. Er komplettierte diese Vorlagen zum einen mit Fakten, die er nicht immer akkurat recherchierte und verarbeitete, und zum anderen mit Zudichtungen, die die Geschichten offenbar nochmals aufhübschen sollten.
„Puh, schwer, du meinst, wie ich auf Themen komme? Einfach, denke ich, durch Querlesen anderer, eigentlich sämtlicher anderen Zeitungen, auch in internationalen.“
Die vielen ähnlichen, jeweils vor den FTD-Artikeln erschienenen Internet-Quellen, die die Master-Studierenden der Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der UHH bei dieser Übung im Kurs „Recherche II“ des laufenden Sommersemesters aufgefunden haben, zeigen auch die gefährliche Verführungskraft des Internets: In diesem Schaufenster zur Welt ist so vieles zu schnell gefunden. Interessant scheinende Realitätspartikel lassen sich mittels copy and paste allzu leicht in den eigenen, gerade erst entstehenden Artikel übernehmen. Bei dieser Übertragung unterlaufen dann Bearbeitungsfehler (wie eine plötzlich fehlerhafte Altersangabe), die später auffallen können – aber eben in Redaktionen wie der FTD (die keine Dokumentationsabteilung hatte) zu selten auffallen. Mindestens aber hätte ein skeptischer Redakteur das eine oder anderen via Google gegenprüfen können.
Claas Relotius jedenfalls scheint ein ganz eifriger Googler gewesen zu sein. Einer, der die Berichte anderer synthetisierte. In einem Interview, dass Eleni Klotsikas am 6.12.2013 für das RBB-Medienmagazin mit Relotius führte, antwortete er auf die Frage, wie er bei der Themenwahl vorgehe, so: „Puh, schwer, du meinst, wie ich auf Themen komme? Einfach, denke ich, durch Querlesen anderer, eigentlich sämtlicher anderen Zeitungen, auch in internationalen. Und oft entdeckt man da ja Aspekte von Geschichten, aus denen sich wieder neue Geschichten ergeben. Und das ist, glaube ich, so immer noch wie man auf Geschichten kommt, also eigentlich ganz profan, aber ich wüsste gar nicht, wie es anders laufen soll.“
Für einen Reporter, der vom eigenen Augenschein lebt, der Neues, noch nicht Berichtetes in die mediale Öffentlichkeit bringen sollte, ist das ein Armutszeugnis – und eine Selbstentlarvung, die man damals noch nicht verstehen konnte.
HMS hält Masterarbeit unter Verschluss – warum?
Würde man seinen oben überprüften Reiseerzählungen glauben, wäre Relotius vor allem im Jahr 2011, als die meisten, nämlich sieben der zehn FTD-Beiträge erschienen, ein Vielreisender gewesen. Und das, obwohl er sich doch anschickte, an der Hamburg Media School seine Abschlussprüfung im (inzwischen eingestellten) Studiengang „Master of Arts in Journalism“ abzulegen. 2011 war also demnach ein überaus arbeitsreiches Jahr für ihn.
Die damals geltende Prüfungsordnung sah vor: „Die Anfertigung der Master-Thesis dient dem Erwerb und Nachweis der Qualifikation, eine anwendungsbezogene Problemstellung aus einem Fachgebiet des Studiums selbständig (sic!) und nach wissenschaftlichen Grundsätzen und Methoden im Rahmen einer größeren schriftlichen Arbeit zu bearbeiten.“
Ob es dazu kam und welche akademische Qualität das Ergebnis hatte, lässt sich bislang nicht überprüfen, weil die HMS Externen jegliche Einsicht in die Abschlussarbeit strikt verweigert. Auch Fragen zu Relotius werden nicht beantwortet. „Zu seiner konkreten Arbeit kann ich Ihnen insbesondere aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft geben“, beschied HMS-Geschäftsführerin Katharina Schaefer den Autor knapp.
Natürlich sind gerade bei Prüfungsarbeiten die Persönlichkeitsrechte von Prüflingen zu achten. Grundsätzlich herrscht Vertraulichkeit, es sei denn, ein Absolvent, eine Absolventin stimmt der Einstellung seiner/ihrer Arbeit in eine Bibliothek zu. Die Frage ist aber, ob hier nicht wegen des hohen öffentlichen Interesses ein besonderer Fall gegeben ist. Und ob sich die HMS nicht besser an der Transparenzoffensive aller Organisationen, die von Relotius betroffen waren, beteiligen sollte.
Folgt man einem Tweet der HMS vom 26. Juli 2012, bestand die Prüfungsleistung vor allem aus einem Filmbericht: „Reportage im NDR: Dieser Film ist 2011 als Masterarbeit von Mareike Müller und Claas Relotius entstanden.“ Der in dem HMS-Tweet angegebene Link zum Film führt heute ins Leere – laut NDR war der Film zwölf Monate nach Ausstrahlung regulär offline gegangen, dem damals geltenden Telemedienkonzept entsprechend.
Doch der Film ist nicht verloren. Als Videodatei liegt er dem Autor vor. Warum? Der schon damals auf Anerkennung erpichte Relotius hatte sich damit 2012 um den Brenner-Preis in der Sparte „Newcomer“ beworben. Der Autor ist Brenner-Juror und fand den Film in seinem digitalen Archiv. Relotius‘ Mitbewerberin war seine Ko-Autorin Mareike Müller, heute Journalistin in Berlin. Kurz zuvor hatten die beiden schon einen Nachwuchspreis erhalten: den RTL Com.mit Award für Integration. Die RTL-Website zeigt noch heute einen forsch in die Kamera blickenden Preisträger Relotius neben RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel und der damaligen Staatsministerin der Bundesregierung für Integration, Maria Böhmer.
Inhaltlich handelt es sich um einen gut 6-minütigen Filmbericht „Luftschloss Europa – Keine Perspektive für afrikanische Flüchtlinge“, der im Sommer 2011 entstand und den das NDR Fernsehen am 24. Juli 2012 in der Reihe „Weltbilder“ ausgestrahlt hatte. Der Filmbericht zeigt afrikanische Arbeitsmigranten, die auf ein besseres Leben in Europa gehofft hatten, dann in der spanischen Provinz Huelva gestrandet waren und nun in einem Wald vor sich hinvegetieren – geduldet von der Polizei und notdürftig versorgt von einem Gewerkschafter und dem spanischen Roten Kreuz. Der Filmtext ist hier abrufbar (PDF).
Betrachtet man den Film unvoreingenommen, löst er keinerlei Fälschungsverdacht aus. Alles scheint authentisch, nicht zuletzt, weil Offizielle des Roten Kreuzes im Bild erscheinen. Auch bezeugt Mareike Müller auf Message-Anfrage, dass die beiden Jungreporter im Sommer 2011 elf Tage vor Ort in Spanien waren – und zwar genau vom 15. bis zum 25. August 2011. Die Reisekosten übrigens wurden gegen Nachweis von der HMS bezuschusst, mit 800 Euro pro Person, erinnert sich Müller.
NDR zeigt „Luftschloss Europa“ mit einem Jahr Verspätung
So weit, so unbedenklich. Und doch ist der Fall voller Merkwürdigkeiten. Es stellen sich zwei Kernfragen – eine an die HMS und die andere an den NDR.
Erstens: War die kleine Auslandsreportage über die in Spanien gestrandeten Afrikaner überhaupt durch die 2011 geltende Prüfungsordnung gedeckt? Schließlich war in dieser rechtsverbindlichen Vorschrift, siehe oben, von einer „größeren schriftlichen“, nicht von einer kleineren audiovisuellen Arbeit die Rede.
Zweitens: Wie ist es zu erklären, dass das NDR Fernsehen den Film noch ein Jahr nach Entstehen in der Auslandsreihe „Weltbilder“ zeigte? Die Verhältnisse vor Ort in Spanien konnten sich geändert haben. Wollte man dem Publikum im Ernst weismachen, der Film schildere aktuelle Gegebenheiten? Gilt die Qualitätsnorm „Aktualität“ nicht gerade im Fernsehen?
Der NDR sieht gar kein größeres Problem darin, dass der Bericht erst ein Jahr nach Entstehen gesendet wurde. „Die Problematik der afrikanischen Arbeitsmigranten in Spanien war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den ,Weltbildern‘ thematisiert worden, das wird vermutlich die Grundlage für die Entscheidung zum Ankauf gewesen sein.“ Genaueres lasse sich nicht mehr sagen, da der begleitende E-Mail-Verkehr nicht archiviert wurde.
Grundsätzlich gelte: „Wenn zwischen der Veröffentlichung und dem Dreh eines Filmes ein längerer Zeitraum liegen sollte, was nur äußerst selten vorkommt, dann wird mit journalistischer Sorgfalt geprüft, ob sich dies inhaltlich vertreten lässt. Dazu werden die Protagonisten erneut vom Autor/der Autorin bzw. dem Producer/der Producerin kontaktiert. Außerdem wird aufgrund einer Analyse der möglichen politischen/gesellschaftlichen Entwicklungen eingeschätzt, ob die Situation im Allgemeinen gleich geblieben ist oder sich geändert hat.“
Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen sein sollte, dann hätte also die NDR-Redaktion Claas Relotius als Autor und Producer in einer Person aufgefordert, die Lage vor Ort in Spanien noch mal zu prüfen. Aber ist die Annahme realistisch, dass das geschehen ist? Eine zweite Auslandsreise wird er deshalb wohl kaum angetreten haben.
Ein Jahr ist lang. Obwohl das Migrationsproblem natürlich chronisch ist, auch in Spanien, könnte der Wald bei Huelva 2012 bereits geräumt gewesen sein – dem Publikum wäre also verspätet über ein Phänomen berichtet worden, das sich mit seinen Protagonisten längst verflüchtigt hatte.
Ob die Zuschauerinnen und Zuschauern des NDR Fernsehens wenigstens darüber aufgeklärt wurden, dass sich alles so vor einem Jahr zugetragen hatte? Der Sender räumt ein, dass dies nicht geschah, zeigt sich ansonsten aber wenig problembewusst: Die Redaktion halte es „inhaltlich weiterhin nicht für notwendig“, diese Einschränkung der Gültigkeit offenzulegen. Wie ein billig zu habendes Zugeständnis an kritische Nachfrager wirkt es da, wenn der NDR-Sprecher hinterherschiebt: „Im Sinne eines transparenten Umganges wäre aber z. B. ein Hinweis in der Moderation auf die Masterarbeit und den damit verbundenen Dreh-Zeitraum problemlos möglich und für den Zuschauer sicherlich interessant gewesen.“
Wir wüssten sogar eine Eselsbrücke, über die der NDR hätte gehen können. Das wäre der schon erwähnte, am 20. Juni 2012 in Berlin an Relotius und Müller verliehene RTL Award gewesen. Eine aktuelle Auszeichnung für Hamburger Nachwuchsjournalisten als Sendeanlass, das hätte man in einer Moderation gut verpacken können. Aber das hätte ja bedeutet, Publicity für einen kommerziellen Fernseh-Konkurrenten zu machen. Geht irgendwie auch nicht.
* Hinweis: Eine Stellungnahme von Steffen Klusmann als ehemaligem FTD-Chefredakteur ist angefragt, traf aber bis Redaktionsschluss nicht ein und wird ggf. nachgetragen.
17. Mai 2019