Ringvorlesung "Lügenpresse"
Gniffke: Tagesschau sollte mehr erklären und auf Etiketten verzichten
Die ARD-Tagesschau und -Tagesthemen sind die meistgesehenen deutschen Nachrichtensendungen. Gleichzeitig sind die Journalisten Adressaten von heftiger Kritik bis hin zu blankem Hass. Welche Konsequenzen die Redaktion daraus zieht, hat Chefredakteur Dr. Kai Gniffke im Rahmen der „Lügenpresse“-Ringvorlesung an der Uni Hamburg erklärt.
Von Leonard Kehnscherper
Ein Asylbewerber vergewaltigt und tötet mutmaßlich eine Freiburger Studentin. Ein Aufreger-Thema in ganz Deutschland – doch die Tagesschau berichtet nicht über den Fall. „Wer fand unsere Entscheidung richtig?“, fragte Dr. Kai Gniffke, erster Chefredakteur von ARD-Aktuell und damit verantwortlich für die Nachrichtensendungen Tagesschau und Tagesthemen. Im Rahmen der „Lügenpresse“-Ringvorlesung an der Uni Hamburg hielt Gniffke am 5. Dezember 2016 einen Vortrag mit dem Titel „Medienkritik als Hassrede – aus der Sicht eines Betroffenen“.
Ein Großteil der Ringvorlesungsbesucher fand die Entscheidung der Tagesschau-Redaktion richtig, das zeigten die vielen Handzeichen. „Dann habe ich hier ja fast ein Heimspiel“, kommentierte Gniffke die Meinung des Publikums. Wenige Stunden zuvor hatte Gniffke per Facebook-Live-Video mit Zuschauern über den Fall diskutiert. „Habt ihr nicht alle Latten am Zaun?“, habe ein Nutzer gefragt. Da war es mit seiner Geduld fast vorbei gewesen, erzählte Gniffke, dennoch habe er tief durchgeatmet und seine Entscheidung sachlich gerechtfertigt.
„Bei der Tagesschau berichten wir über Themen, die national oder international viele Menschen betreffen – zum Beispiel über Freihandelsabkommen“, so Gniffke. Auch der Gesprächswert eines Themas ist für die Redaktion wichtig. Deshalb berichteten die Tagesthemen nun über die Debatte zum Freiburger Mordfall und die damit verbundene Kritik an der ARD. „Unsere Entscheidung finde ich nach wie vor okay. Ein einzelner Mordfall ist für ganz Deutschland in der Regel nicht relevant“, sagte Gniffke.
300 Beschwerde-Mails
Doch Mails, Tweets und Kommentare wie „Kai Gniffke… erschieß dich du Hurensohn!“ lassen den Chefredakteur, seine Redakteure und Reporter nicht kalt – auch wenn ihnen der Hass täglich entgegenschlägt. Die Redaktion erreichen im Durchschnitt 8000 Kommentare bei Facebook, 2000 Kommentare auf meta.tagesschau.de, 300 Beschwerde-Mails sowie eine offizielle Programmbeschwerde pro Tag.
Allein mit den Mails und Programmbeschwerden beschäftigen sich drei Redakteure in Vollzeit. Vier weitere Redakteure kümmern sich im Schichtbetrieb um die Social-Media-Auftritte der Tagesschau und vier Assistenten betreuen die Plattform Meta-Tagesschau. Diesen Publikumsservice richtete die Redaktion erst 2015 ein, als die ARD immer massiver für ihre Russlandberichterstattung kritisiert wurde.
Mit öffentlicher Selbstkritik ist Gniffke dennoch vorsichtig. Denn leider würden auch viele Medienkollegen die geäußerten Punkte aus dem Zusammenhang reißen und eingeräumte Versäumnisse skandalisieren. Das Vertrauen der Zuschauer könne er, Gniffke, dadurch also kaum gewinnen. Intern gebe es hingegen viel Selbstkritik und -kontrolle. „Ich bereite mich akribisch auf die ARD-Gremiensitzungen vor“, sagte Gniffke. Einmal im Monat müsse er in den Rundfunkrat und zwei Mal im Monat in Programmausschüsse. In einem offenen Redaktionsgespräch gehe das Tagesschau-Team mit sich selbst hart ins Gericht. Diese Selbstkritik könne jedoch – einmal nach außen getragen – nur „schwer wieder eingesammelt“ werden.
Die Kritik von außen, etwa beleidigende Facebook-Kommentare, will Gniffke jedoch auch nicht konsequent anzeigen. „Wir möchten nicht den Social-Media-Cowboy raushängen lassen, der auf alles schießt, was sich bewegt“, sagte Gniffke. Die Tagesschau sei mit ihrer starken Quote ein wenig wie der FC Bayern unter den Nachrichtensendungen: „Wir werden von vielen gnadenlos ausgepfiffen, doch die Stadien sind immer voll“, erklärte Gniffke mit einem Augenzwinkern und fügte hinzu: „Ich halte sehr viel von der Kritik an uns für überzogen, einiges ist jedoch auch berechtigt.“
Die Tagesschau will beispielsweise weniger „Etikettierungen“ vornehmen – etwa bei Reizthemen wie der AfD. „Wir wollen den Begriff Rechtspopulismus weniger oft verwenden“, sagte Gniffke. Stattdessen sollte die Redaktion fragen: „Wo treffen Abgeordnete rassistische oder antisemitische Aussagen?“ Wenn die Redaktion das benennen könne, müsse sie auch keine Etiketten verteilen.
Nicht abstumpfen lassen
Die Tagesschau wolle Zuschauern die Möglichkeit geben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Diese Aufgabe könne man nicht Verschwörungstheoretikern überlassen, denn das Erklären sei eine ureigene journalistische Aufgabe. Deshalb gehe die Tagesschau in sozialen Netzwerken mit kurzen Erklär-Clips an den Start, etwa zum Unterschied zwischen den Freihandelsabkommen TPP und TTIP.
„Wir müssen in unseren Sendungen mehr Platz schaffen, um die Phänomene dieser immer komplexeren Welt zu erklären“, sagte Gniffke. Die ARD dürfe den Zuschauern nicht zwischen den Zeilen sagen, was sie zu denken haben, und beispielsweise den Eindruck vermitteln: „Wenn TTIP scheitert, geht die Welt unter.“
Zudem dürften sich die Journalisten von dem massiven Hass nicht abstumpfen lassen und sollten den Dialog mit den Zuschauern weiter führen. Gniffkes Losung lautet: „Mehr Erklären führt zu mehr Verstehen und zu mehr Vertrauen.“ Dies sollte die Tagesschau-Redaktion weiter beherzigen. „Denn die neutrale und objektive Berichterstattung der Tagesschau könnte angesichts politisch unruhiger Zeiten wichtiger sein denn je“, sagte Gniffke in seiner Vorlesung an der Universität Hamburg. Das „Heimspiel“-Publikum im Hörsaal klopfte zustimmend auf die Pulte.
1. August 2017