Digitaler Journalismus
Geschichten neu erzählen
Soziale Medien machen innovative Formate auch im Bewegtbild möglich. Der Dokumentarfilmer Stephan Lamby spricht im Message-Interview über ein neues Genre, gebaut aus Youtube, Facebook und Skype.
Herr Lamby, zusammen mit Golineh Atai erhalten Sie am 22. Oktober den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Stephan Lamby: Eine Menge. Mit Hanns Joachim Friedrichs habe ich mich schon als Student beschäftigt. An der Universität Hamburg habe ich Fernsehnachrichtenmagazine untersucht. Damals war Hanns Joachim Friedrichs Moderator der Tagesthemen. Also habe ich unzählige Sendungen von ihm auf VHS analysiert, auch vom Heute-Journal und APF-Blick bei Sat1. Ich kann mich erinnern, wie wir damals diskutiert haben, was eigentlich eindrucksvoller an Hanns Joachim Friedrichs ist: die Texte der Moderation oder seine Grundhaltung, die sich ja auch in seiner Stimme ausgedrückt hat – diese enorme Gelassenheit. Eigentlich ist es das, was mir mehr in Erinnerung geblieben ist: dass Friedrichs es schaffte, auch angesichts von welthistorischen Ereignissen diese Ruhe auszustrahlen.
Die Jury, die den »journalistischen Profiler« Lamby würdigt, glaubt zu wissen: Die »stundenlangen Gespräche in der Vorbereitung seiner filmischen Porträts werden von Politikern eher als hilfreiche Therapiesitzungen denn als klassische Interviews empfunden«. Stimmt das?
Das müssten Sie die Politiker fragen. Von einigen Interviewpartnern weiß ich aber, dass sie – nachdem sie den Film über sich gesehen hatten – feststellten, sie hätten in den Interviews Dinge gesagt, die sie sonst noch nie öffentlich geäußert hatten. Bei einer Veranstaltung in Hamburg habe ich einmal den Film »Schlachtfeld Politik« präsentiert, mit der ehemaligen Gesundheitsministerin Andrea Fischer und dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Beide sind Profis, jedoch sehr unterschiedliche. Nach der Vorführung wurden sie auf die Bühne gebeten, wo beide sich erschrocken darüber zeigten, was sie da alles gesagt hatten. Kubicki hatte von Selbstmordgedanken gesprochen und Fischer von jahrelangen Depressionen nach Auseinandersetzungen mit Parteifreunden. In der Tat dauerten die Interviews drei, vier, fünf Stunden. Und wenn man sehr lange spricht und nicht nur auf kurze Nachrichten aus ist, bekommt man in der Regel eine Atmosphäre und auch Erkenntnisse, die man in kurzen Interviews so nicht bekommt.
Sie kennen Friedrichs’ Sentenz, ein Journalist mache sich nicht gemein mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Was halten Sie davon?
Ich habe damit gerechnet, dass diese Frage jetzt kommt. Hanns Joachim Friedrichs war niemand, der sich nicht engagieren wollte oder der sich nicht auch aufregen konnte. Der hat sich mächtig aufgeregt, nachzulesen in seiner Autobiografie. Was er allerdings meint – und diesem Grundsatz fühle ich mich sehr wohl verpflichtet – ist, dass man sich nicht instrumentalisieren lassen soll, von welchen Interessengruppen auch immer. Diesen Satz kann man nicht dick genug unterstreichen.
Lassen Sie uns nun über digitalen Journalismus sprechen. Würden Sie sagen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk die digitalen Herausforderungen verstanden und angenommen hat?
Nach meinem Eindruck haben die großen öffentlich-rechtlichen Sender die Herausforderungen noch nicht angenommen und ausreichend verstanden. Es gibt zum Beispiel ein Video von Julia Engelmann, einer Studentin, die bei einem Poetryslam ein Gedicht aufgesagt hat. Das Video wurde ein halbes Jahr später auf Youtube gestellt und hatte fünf Millionen Klicks. Die öffentlich-rechtlichen Sender berichten dann darüber, und vielleicht gibt es einen Beitrag im Heute-Journal. Aber sie berichten zu spät und ohne sich auf die spezifische Form einzulassen. Das ist ja auch klar: Für ein Fünf-Minuten-Gedicht ist in der Programmstruktur der Hauptprogramme von ARD und ZDF kein Platz vorgesehen.
Längst haben viele Dokumentaristen und TV-Journalisten das Netz als Alternative zum herkömmlichen Sendersystem entdeckt. Auch Sie unterhalten einen eigenen Youtube-Kanal. Wie kam es dazu?
Der Impuls kam durch Fukushima. Wir haben uns die Frage gestellt, wie wir als Dokumentaristen solche Ereignisse abbilden und sehr schnell einen Film dazu machen können. Uns war klar, dass es mit konventionellen Mitteln nicht gelingen würde, …
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