Sprache
»Ein Hauch von Plauderton«
Seit mehr als 60 Jahren erklärt die Tagesschau die Welt – vor allem in den ersten Jahrzehnten leider nicht immer besonders verständlich. Wie die Tagesschau das Sprechen lernte.
von Anna Wahdat
»Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich begrüße Sie zur Tagesschau.« Irgendetwas war anders an diesem Märztag 2012. Es menschelte plötzlich in der 20-Uhr-Nachrichtensendung im Ersten. Der Zusatz »Ich begrüße Sie«, den der Sprecher damals sagte, war neu – eine Veränderung nach beinahe 60 Jahren Tagesschau. »Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass die Tagesschau am Anfang und am Ende noch zuschauerfreundlicher gestaltet werden kann«, sagte damals Thomas Hinrichs, seinerzeit 2. Chefredakteur von ARD-aktuell und heute Informationsdirektor beim Bayerischen Rundfunk. Zuschauerfreundlichkeit also als erklärtes Ziel der Nachrichtensendung, die – laut einer Quotenauswertung des Marktforschungsinstituts media montrol 2012 – die niedrigsten Zuschauerzahlen seit 20 Jahren verzeichnete: 4,92 Millionen Menschen schauten demnach im Durchschnitt die Tagesschau, 20 Jahre zuvor noch 8,33 Millionen. Die ARD bestritt zwar das Ergebnis dieser Studie. Mit einem offenen Kritikpunkt, der stets auch mit Einschaltquoten in Verbindung gebracht wird, werden die Tagesschau-Macher jedoch nicht erst seit Kurzem konfrontiert: Unverständlichkeit.
Seit den 1960er Jahren wird der Sendung immer wieder vorgeworfen, ihre Nachrichten seien zu kompliziert, zu schwer zu verstehen. Die Kritik kam von vielen Seiten: angefangen bei Sprachwissenschaftlern über Journalisten bis hin zu Schulkindern. So ermittelte eine Studie des Allensbacher Instituts schon 1963, dass sich der durchschnittliche Zuschauer nur an weniger als 20 Prozent der gesendeten Meldungen erinnern konnte. Wissenschaftler und Schriftsteller – wie zum Beispiel Reinhard Lettau und Hans Magnus Enzensberger – nahmen unter anderem diesen Befund zum Anlass, Vorwürfe gegen die Tagesschau-Redaktion zu erheben: Ihre Meldungen seien viel zu elaboriert formuliert, zu sehr an die schriftliche Sprache angelehnt und zu weit entfernt vom gesprochenen Deutsch. Sätze wie »Die Aktivitäten der Dissidenten in der Sowjetunion werden sanktioniert« – ein Beispiel, das 1977 die Fernsehzeitschrift Funk Uhr zitierte – waren in der Tagesschau keine Seltenheit.
Sonnabend oder Samstag?
Als die Tagesschau 1952 erstmals auf Sendung ging, stellte sich den Verantwortlichen sogleich eine sehr grundsätzliche Frage: Sprechen die Deutschen überhaupt eine einheitliche Sprache? Sagen sie Sonnabend oder Samstag? Brötchen oder Semmeln? Tischler oder Schreiner? Horst Jaedicke, einer der ersten Redakteure der Tagesschau, schildert einen wahren Kulturkampf zwischen den Regionen, der sich an der Wortwahl der ersten gesamtdeutschen Nachrichtensendung entzündete. »Ohne Vorankündigung hatte man der Tagesschau die Aufgabe aufgehalst, eine Art stämmeverbindende Nationalsprache zu schaffen, die in Nord, Süd und West, ja sogar in den östlichen Landesteilen zu verstehen war«, schrieb Jaedicke zum 50. Geburtstag der Tagesschau im Jahr 2002. Die Samstag-Fraktion konnte sich in der Frage, wie der Wochentag nun bezeichnet werden soll, übrigens durchsetzen.
Fast vierzig Jahre lang beschäftigte sich Jürgen Lembeck mit der Sprache der Tagesschau. Er kam 1968 zur Tagesschau, war dort während seiner Amtszeit bis 2007 unter anderem Redakteur, Chef vom Dienst und Wortchef. Unter den Kollegen wurde er auch »Sprachpapst« genannt. Kurz vor seinem Ruhestand erinnert er sich in einem Interview, dass die Redakteure in seinen Anfangsjahren oft keine eigenen Texte formulierten. »Agenturmeldungen wurden im Wortlaut übernommen«, sagte er – und die wurden früher ausschließlich und heute weitestgehend für Printmedien verfasst. Es waren also Texte zum Lesen, nicht zum Hören.
Die Meldungen in der Tagesschau zeugten jahrzehntelang zudem nicht gerade von einem abwechslungsreichen Wortschatz; an innovativen Formulierungen mangelte es ebenso wie an aktiven Verben. Ein Text in der Hauptausgabe vom 18. Januar 1978 begann so: »Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international hat heute in London einen Bericht über die Situation politischer Häftlinge in Südafrika veröffentlicht.« Und zehn Jahre später, am 05. Januar 1988, begann eine Meldung wie folgt: »Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international hat heute in London einen Bericht über die Folterung von Kindern vorgelegt.« Der Sprachwissenschaftler Ulrich Schmitz schrieb daher, die Tagesschau sei in ihrer Wortwahl und Satzstruktur so festgefahren und stereotypisiert, dass sie von einer Maschine hergestellt werden könnte.
An RTL & Co. orientiert
Bereits im Februar 1963 hatte die Tagesschau ihre Monopolstellung im deutschen Fernsehen verloren: Das ZDF erschien mit der Nachrichtensendung heute auf den heimischen Bildschirmen. Doch Auswirkungen auf die Nachrichtensprache hatte das zunächst nicht. Der Konkurent heute hatte zwar im ersten Sendejahr noch versucht, mit einer lockeren, moderativen Präsentationsform einen Gegenentwurf zur Tagesschau zu schaffen. Doch bald begann das ZDF, sein Nachrichtenformat dem der Tagesschau anzugleichen: Das Sprecherkonzept wurde kopiert, die Sprache von heute war betont sachlich und neutral. Erst im Laufe der Jahrzehnte entwickelte die heute-Hauptausgabe um 19 Uhr ihren eigenen Stil: direkte Ansprache der Zuschauer, konkrete und bildhafte Formulierungen, einfache und erklärende Sprache.
Seit 1984 lockten dann die Privaten ihre Zuschauer nicht nur mit leicht konsumierbaren und reißerischen Themen, sondern auch mit einer für deutsche Nachrichten bis dahin untypisch lebendigen und lockeren Sprache. Eine eindrucksvolle Gegenüberstellung der gegensätzlichen Wortwahl lieferte 1998 der Medienwissenschaftler Manfred Muckenhaupt. Er zeigt, wie eine Meldung zum Stolpe-Untersuchungsausschuss von 1992 bei RTL aktuell zu einem »Schlachtfeld« wird, auf dem »alte Stasi-Rechnungen beglichen werden«. Die Formulierung der Tagesschau war wie gewohnt nüchtern und eher sperrig: »In der Auseinandersetzung um die Verleihung der DDR-Verdienstmedaille an den Brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe steht weiter Aussage gegen Aussage.«
Die Öffentlich-Rechtlichen standen durch die »Neuen« unter einem enormen Druck. Deren lockerer Ton kam bei den Zuschauern gut an, und die privaten Nachrichtensender freuten sich über steigende Quoten. Ganz im Gegensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen, die einen stetigen Zuschauerverlust zu beklagen hatten. Das alte Nachrichtenflaggschiff Tagesschau musste sich in Bewegung setzen. Und das tat es – wenn auch zunächst eher schwerfällig. »Ich habe im Vergleich gesehen, dass es manchmal besser klingt, so zu sprechen wie die Privaten«, räumt auch Ex-Wortchef Jürgen Lembeck ein. Die Redaktion der Tagesschau orientierte sich zunehmend an den veränderten Ansprüchen der Zuschauer und nahm auch die Erfolgsrezepte der Privaten wahr. So wurden die Sätze der Tagesschau-Meldungen nach und nach etwas kürzer, Fremdwörter möglichst übersetzt und Formulierungen umgangssprachlicher.
Im Jahr 1975 hörten die Zuschauer in der Tagesschau um 20 Uhr diesen langen Satz: »Auf der größten norddeutschen Maikundgebung des DGB in Hamburg hat der Vorsitzende der IG-Metall Eugen Loderer die Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der sozial-liberalen Koalition als erfolgreich bezeichnet und eine Fortsetzung der Reformpolitik gefordert.« Am 1. Mai 2007 hat der zuständige Redakteur den ersten Satz wesentlich kürzer und salopper formuliert: »Die Gewerkschaften haben auf ihren traditionellen Mai-Kundgebungen für gesetzliche Mindestlöhne mobil gemacht.«
Nachmittags locker, Abends sachlich
1997 sorgte die Einführung der moderierten Tagesschau-Sendungen am Nachmittag zu einem weiteren Umdenken in der Redaktion. Dort hatte man fortan mehr Spielraum bei den Texten für die Moderatoren. »Die Sprache ist lockerer, leider manchmal aber auch gefährlich nahe am Kommentar«, so Lembeck. Ein Hauch von Umgangssprache und Plauderton weht also seitdem durch die Tagesschau – wenn auch bis heute vor allem nachmittags.
Der Unterschied zwischen den früheren Ausgaben und der »klassischen« Tagesschau ist deutlich zu hören. Hier ein Nachmittag-Abend-Vergleich am Beispiel einer Meldung vom 1. Juli 2014 zu Martin Schulz’ Wiederwahl zum EU-Präsidenten: Um 17 Uhr leitet Moderatorin Susanne Holst locker in das Thema ein: »Eigentlich wollte Martin Schulz ja EU-Kommissionspräsident werden, dann liebäugelte er mit dem Vize-Posten, und jetzt steht der SPD-Politiker wieder da, wo er vor der Wahl war: an der Spitze des EU-Parlaments.« In der 20-Uhr-Ausgabe folgt der Meldungsaufbau den Regeln des klassischen Nachrichtenjournalismus – der Kern der News steht am Anfang, den Jan Hofer wie gewohnt sachlich vorliest: »Der SPD-Politiker Schulz ist in seinem Amt als Präsident des Europäischen Parlaments bestätigt worden.«
Im Gegensatz zur Sprache hat sich die Hauptausgabe in puncto Technik aber inzwischen den Nachmittagssendungen angepasst. Seit 2009 lesen die Sprecherinnen und Sprecher auch abends ihre Meldungen nicht mehr vom Blatt ab, sondern vom Teleprompter, einem Monitor, der sich unterhalb der Studiokamera befindet und den Text anzeigt. Geblieben ist ein bedruckter Blätterstapel, der bis heute vor den Sprechern auf dem Tisch liegt. Er scheint aber vor allem als vermeintliches Echtheitszertifikat und Beweis der Seriosität zu dienen. Da macht es auch nichts, dass Chefsprecher Jan Hofer etwa in den 20-Uhr-Nachrichten am 1. Juli 2014 kein einziges Mal auf den Blätterstapel heruntersieht.
Trotz Teleprompter und kürzerer Sätze: An der insgesamt nüchternen Sprache und den sachlichen Formulierungen hat sich in der 20-Uhr-Ausgabe nichts geändert. Fast nichts. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend«, sagt Jan Hofer zum Schluss der Nachrichtensendung, und über sein Gesicht huscht ein kleines Lächeln. Schließlich will die Tagesschau bei aller Seriösität auch zuschauerfreundlich sein.
Anna Wahdat arbeitet als freie Redakteurin unter anderem im Bewegtbild-Ressort von Spiegel Online. Nach ihrem Journalistik-Master an der Uni Hamburg volontierte sie beim Audio- und Videodienst der dpa in Berlin.
17. März 2015