#nr15 Spezial | Interview
„Scharfmacher sind zu weit gegangen“

Wenn Journalisten als Lügner beschimpft werden, stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit? Message fragt nach. Teil 3: Philosoph Markus Enders

Ein Interview von Anna Ullrich

 Professor Dr. Markus Enders lehrt Christliche Religionsphilosophie an der Universität Freiburg. Im Interview erklärt er, warum die persönliche Perspektive des Autors im Journalismus so wichtig ist und warum sie unbedingt transparent gemacht werden sollte.


Professor Dr. Markus Enders lehrt Christliche Religionsphilosophie an der Universität Freiburg. Im Interview erklärt er, warum die persönliche Perspektive des Autors im Journalismus so wichtig ist und warum sie unbedingt transparent gemacht werden sollte.

Message: Wie definieren Sie als Philosoph den Begriff Wahrheit?
Enders: Die Wahrheitstheorie, die unserem alltäglichen Denken am ehesten entspricht und sich in der Philosophiegeschichte des abendländischen Denkens ausgebildet hat, ist die sogenannte Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ihr zufolge ist die Wahrheit eine Relation der Übereinstimmung zwischen dem Inhalt einer Aussage und dem von ihm beschriebenen Sachverhalt in der objektiven Wirklichkeit. Auf der einen Seite dieser Relation steht also ein durch einen sogenannten „assertorischen“ Satz behaupteter Gehalt: der Wahrheitsträger. Auf der anderen Seite steht ein bestimmter Sachverhalt in der objektiven Wirklichkeit: der Wahrmacher. Dabei muss der Wahrheitsträger nicht notwendigerweise auch sprachlich geäußert werden. Er kann auch einfach nur gedacht sein. Wenn dieser aber den beschriebenen Sachverhalt nicht so wiedergibt, wie er sich in der objektiven Wirklichkeit tatsächlich verhält, dem Wahrmacher also nicht entspricht, besitzt er einen negativen Wahrheitswert – ist also falsch.

Klingt ganz einfach. Warum ist es dann manchmal so schwer die Wahrheit zu finden?

Weil die Sachverhalte in den allermeisten Fällen nicht offensichtlich und unmittelbar zugänglich sind. Man muss natürlich unterscheiden zwischen Sachverhalten, die unmittelbar einleuchtend oder empirisch verifizierbar und beweisbar – sind, und solchen, die es nicht sind. Im Journalismus müssen viele Sachverhalte beschrieben werden, die nicht vollständig empirisch verifizierbar sind. Dabei bleibt immer ein Ermessensspielraum, der eine Interpretation des Journalisten erforderlich macht. Die persönliche Sichtweise auf solche Themen einfließen zu lassen und die von ihnen behandelten Sachverhalte dementsprechend zu deuten, einzuschätzen und einzuordnen, ist deshalb unvermeidbar. Grundsätzlich sollte allerdings kein Missverhältnis zwischen der journalistischen Darstellung und dem nachprüfbaren Kern des berichteten Ereignisses oder Sachverhaltes bestehen. Träte nämlich die Interpretation in einen Widerspruch zum empirischen Gehalt der Recherche, müsste man entweder von einer fahrlässigen Verzerrung oder sogar von einer bewussten Lüge in propagandistischer Absicht sprechen.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den aktuellen Journalismus?

Das ist sicher sehr unterschiedlich – so unterschiedlich wie die Journalisten selbst. Es gibt Presseorgane, die im Ruf stehen, unseriös zu berichten, sodass das beschriebene Missverhältnis offensichtlich wird. In der Boulevardpresse geht es oft um Sensationen, die die Auflagenzahlen in die Höhe treiben sollen. Aber bei dem Journalismus, der sich intensiv mit politischen Themen beschäftigt, ist das nach meinem Eindruck eher selten. Daher halte ich den pauschalen Vorwurf der „Lügenpresse“ für ungerechtfertigt und unangebracht. Ich bedauere es sehr, dass dadurch ein ganzer Berufsstand unter Druck geraten ist, und hoffe, dass die Scharfmacher, die den aktuellen Journalismus pauschal als „Lügenpresse“ diskreditieren, doch noch einsehen, dass sie zu weit gegangen sind.

Welche Gründe vermuten Sie hinter dem wachsenden Vertrauensverlust in deutsche Medien?
Vielleicht ist es die zunehmende Erfahrung, dass über ähnliche Themen medial auf sehr unterschiedliche Weise berichtet wird. Das an sich ist aber noch nicht anstößig. Nach meinem Verständnis sollte der Rezipient bei seriösem Journalismus zwischen dem empirischen Gehalt der Nachricht und der persönlichen Interpretationsperspektive des Journalisten oder Mediums unterscheiden können. Je leichter dem Rezipienten diese Unterscheidung fällt, umso seriöser ist die journalistische Berichterstattung. Wenn beides aber sehr stark ineinander verwoben ist, wird die journalistische Darstellung tendenziell unseriös. Denn dann ist es für den Rezipienten unglaublich schwer, diese Unterscheidung selbst vorzunehmen – es wird ihm sogar unmöglich gemacht. So kann leicht der Eindruck entstehen, dass hier nicht mehr seriös berichtet wird, sondern Tatsachen gleich von vornherein manipulativ dargestellt werden. Deshalb sollte der Journalismus dem Rezipienten diese Unterscheidung ermöglichen, so dass er eine kritische Distanz zu der journalistischen Bewertung einnehmen kann. Indem er Bewertungsperspektiven unterschiedlicher Medien vergleicht, kann er dann für sich entscheiden, welche ihm plausibel erscheinen.

13. Juli 2015