#nr20 | Vielfalt
Was? Weiß? Ich?
In deutschen Redaktionen gibt es viel zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund. Wie viele es sind, weiß niemand – vielleicht, weil man es lieber gar nicht so genau wissen will. #ausGründen
von Vanessa Bilardo
Ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Deutsche Redaktionen spiegeln diese Vielfalt nicht wider. So haben laut einer Studie der Interessenvereinigung Neue Deutsche Medienmacher*innen (ndm) nur sechs Prozent der deutschen Chefredakteur*innen einen Migrationshintergrund. Über die Zahl der Journalist*innen mit Migrationshintergrund in deutschen Redaktionen insgesamt gibt es keine verlässlichen Daten. Eine Studie zu Migrant*innen als Journalist*innen (2016) schätzte den Anteil in Deutschland auf höchstens vier bis fünf Prozent. Angeblich aus Datenschutzgründen würden keine systematischen Erhebungen stattfinden, heißt es in der Studie der ndm. Für Kommunikationswissenschaftlerin Christine Horz von der Ruhr-Universität Bochum, die die ndm–Studie erstellt hat, ist der Datenschutz aber nur eine Schutzbehauptung der jeweiligen Redaktionen. Verlässliche Angaben würden Medienhäuser in Handlungszwang bringen, etwas zu verändern. Der Datenschutz sei eine Möglichkeit, sich diesem Druck zu entziehen, sagt Horz.
Vielfalt ist toll, aber…
Ihre Studie verdeutlicht zwar, dass das Bewusstsein für Diversität in den Redaktionen gestiegen ist. Die im Rahmen der Studie befragten Chefredakteur*innen gaben jedoch an, nicht gezielt nach Journalist*innen mit Migrationshintergrund zu suchen.
Die Folge: „Es gibt zu wenig vielfältige Perspektiven in den Redaktionen“, sagt Horz. Der Großteil der Journalist*innen komme aus sehr homogenen Bevölkerungsschichten.
Bei Libuse Cerna ist das anders. Die gebürtige Tschechin kam Mitte der 1970er Jahre nach Deutschland und arbeitete mehr als 20 Jahre bei Radio Bremen. Dort war sie jahrelang die einzige Redakteurin mit Migrationshintergrund und musste sich bei jedem Leitungswechsel persönlich vorstellen. „Alle wollten wissen, zu wem der Akzent gehört“, erinnert sie sich und sagt, dass mit dem Begriff Migrant*in „etwas Defizitäres“ wie Sprachmängel verbunden werde.
Horz hält die Vorurteile zu Leistungs- und Sprachdefiziten von Journalist*innen mit Migrationshintergrund für untragbar: „Es sind Fachleute, die haben in irgendeiner Form ein journalistisches Ausbildungssystem durchlaufen.“
Alexandra Duong ist Absolventin der Henri-Nannen-Schule und hat damit die wohl renommierteste Ausbildungsinstitution im deutschen Journalismus durchlaufen. Trotzdem kreist in ihrem Hinterkopf immer der Gedanke, mehr leisten zu müssen, um genauso anerkannt zu werden wie Journalist*innen ohne Migrationshintergrund. Sie fragt sich, ob redaktionelle Entscheidungen von einem bewussten oder unbewussten Bias beeinflusst werden. „Wenn du einen sichtbaren Migrationshintergrund hast, dann hast du nicht das Privileg zu denken, dass du nur aufgrund deiner Leistung beurteilt wirst“, sagt die 30-Jährige.
Duong wird immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass sie deutsche und vietnamesische Wurzeln hat. In einem Bewerbungsgespräch wurde sie gefragt, warum sie ihren sichtbaren Migrationshintergrund nicht im Bewerbungsschreiben erwähnt habe. Ein Redakteur, dem sie bei einer Übersetzung helfen sollte, meinte überrascht, sie sehe gar nicht wie eine Vietnamesin aus. Auch hört sie immer wieder das Klischee, Vietnames*innen seien fleißig und würden nicht widersprechen. „Vermeintlich positiven Rassismus“ nennt Duong das.
Kompetenzen aus den Augen verloren
Die freie Journalistin Merve Kayikci findet die Stereotypisierung von Personen mit Migrationshintergrund im Journalismus noch aus einem anderen Grund problematisch. Aufgrund ihrer türkischen Herkunft werde angenommen, dass sie sich „nur mit Islam- und Migrationsthemen beschäftigen möchte“. Die Radiojournalistin Cerna fügt hinzu: „Häufig weiß man gar nicht, welche Fachkenntnisse jemand hat, weil nicht danach gefragt wird.“ Bei der Reduzierung auf Migrationsthemen würden individuelle Interessen und Kompetenzen aus den Augen verloren.
Auch ohne belastbare Zahlen ist klar: Die Einwanderungsgesellschaft wird in deutschen Redaktionen personell nur unzureichend abgebildet. „Muslimische Kollegen fallen mir deutschlandweit nur so viele ein, dass ich sie an den Händen abzählen könnte“, sagt Kayikci. Dabei leben allein 2,8 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland.
Damit sich die gesellschaftlichen Gruppen in der Berichterstattung wiederfinden, muss in den Redaktionen ein Gespür für ihre Themen wachsen. „Der Pluralismus in den Medien hängt stark von der Diversität in Redaktionen ab“, fasst es Forscherin Horz zusammen.
11. August 2020