#nr20 | Digitalisierung
„Weckruf für den Journalismus“
Heimarbeit war vor Corona eher eine Seltenheit, in der Krise gehört sie fest zum Redaktionsalltag. Die Notlage stellt den Journalismus vor Herausforderungen – und zeigt zugleich neue Wege auf. Eine Zwischenbilanz
von Felix Theuerkauf
„Hätte ich vor Corona um dauerhaftes Homeoffice gebeten, wäre ich wahrscheinlich ausgelacht worden.“ Bis vor Kurzem war Amelie Marie Weber noch Volontärin beim Magazin Focus. An das Arbeiten von zu Hause sei in ihrer Redaktion vor der Krise nicht zu denken gewesen – allein schon, weil den meisten der Zugriff auf das Redaktionsnetzwerk fehlte. Auch in der Redaktion von ZDF-Reporter Carsten Behrendt wurde Heimarbeit zuvor nicht praktiziert: „Es gab dafür noch keine Regelungen. Alles musste sehr spontan umgesetzt werden.“ Homeoffice-geübter ist das Hamburger Abendblatt. „Das hat bei uns immer schon eine Rolle gespielt“, erzählt die Ressortleiterin für Lokales und Norddeutschland, Insa Gall. Die Kolleg*innen, die daran Interesse hatten, seien auch schon vor Corona mit Laptops ausgestattet worden.
Der Überraschungsmoment Pandemie offenbart nun vielerorts ungeahnte Möglichkeiten. NDR-Radiomoderator Christian Haacke schaltet sich jetzt von zu Hause ins Funkhaus: „Das läuft problemlos per App. Ich brauche nur ein Tablet. Mit einem Tastendruck bin ich live auf Sendung.“ Ganz ohne Einbußen bleibt die Umstellung jedoch nicht: „Zusammenzusitzen und auf einer Idee herumzukauen, das geht schneller und ist kreativer, wenn wir vor Ort sind.“ Auch aus Sicht von Christian Tretbar, Mitglied der Chefredaktion beim Tagesspiegel in Berlin, besteht im Homeoffice größerer Absprachebedarf: „Der Kommunikationsaufwand ist viel komplexer geworden.“ Außerdem sei das Einfühlungsvermögen von Vorgesetzten noch mehr gefordert: „Zu beurteilen, wie es den Kollegen mit ihrer Arbeit ergeht, fällt im Homeoffice viel schwerer.“ Tretbar wünscht sich einen offeneren Umgang mit Überlastung.
Komplett autark
ZDF-Mann Behrendt hat sich abgenabelt, dreht, schneidet und vertont eigenständig: „Sonst habe ich nur ab und zu Beiträge komplett allein produziert. Jetzt weiß ich, dass ich das auch über einen längeren Zeitraum vom Homeoffice aus leisten kann.“ Ganz missen möchte er die Arbeit im ZDF-Studio allerdings nicht. Vielmehr sehe er einen kommunikativen Nachteil, würden Teile der Redaktion dauerhaft zu Hause arbeiten: „Sobald die Mehrzahl wieder persönlich in Konferenzräumen ist, wird es schwierig, Kollegen im Homeoffice in die Prozesse zu integrieren.“ Das könne auch die Themenvergabe betreffen, befürchtet Behrendt. Alle Kolleg*innen im Blick zu behalten, sei Aufgabe der Vorgesetzten, sagt Insa Gall vom Abendblatt: „Für mich als Ressortleiterin ist das ein erhöhter Aufwand.“ Wie Tretbar empfindet auch sie einen wachsenden Bedarf nach engem Austausch – vor Ort genauso wie mit den Heimarbeiter*innen. Doch genau darin bestehe das Problem: „Per Zuruf 30 Zeilen mehr für einen Artikel zu erbitten, das geht von zu Hause nicht mehr so einfach“.
Laut Gall hat Heimarbeit nur dann eine Perspektive, wenn sie nicht jede*r macht: „Es ist nicht das Modell der Zukunft, dass wir alle im Homeoffice sind.“ Die Chefredaktion des Blattes stehe einer Ausweitung der Homeoffice-Struktur zwar sehr aufgeschlossen gegenüber. Gall ist es jedoch wichtig, dass ein Großteil wieder im Büro schreibt, „denn eine Redaktion ist mehr als ihre Einzelteile“. Tagesspiegel-Digitalchef Tretbar erachtet eine vollständige Rückkehr vor dem Frühjahr 2021 für nicht umsetzbar: „Halten wir uns an alle Maßgaben, könnten maximal zwei Drittel der Belegschaft im Haus arbeiten.“
Medienproduktion im 21. Jahrhundert
Überwiegend positiv ist die Wahrnehmung des technischen Lerneffektes in den Redaktionen infolge der Umstellung. Die ehemalige Focus-Volontärin Weber sieht in der Krise gar die Chance für einen Digitalisierungsschub: „Da mussten einige mal geschüttelt werden. Das ist ein Weckruf für den deutschen Journalismus.“ Trotzdem sei gerade der Magazinjournalismus abhängig vom Unterwegssein: „Ich möchte die Welt sehen, über die ich schreibe.“ Tagesspie-gel-Journalist Tretbar zeigt sich erfreut, dass Mobile Journalism für viele Kolleg*innen jetzt eine völlig neue Bedeutung bekommen habe. „Dieser Ansatz wird sich verfestigen“, ist er sich sicher.
Der Hamburger N-JOY-Moderator Haacke erhofft sich langfristig mehr Toleranz: „Für Tage, an denen ich für die Kinderbetreuung früher Urlaub nehmen musste, wünsche ich mir, auch mal Homeoffice machen zu können.“ Ziel müsse es sein, nachhaltig umzudenken, sagt ZDF-Reporter Behrendt: „Wenn das nur als Krisenmodus angesehen wird, dann ist das Bedürfnis, schnell zur Normalität zurückzukehren, umso größer.“ Aus seiner Sicht sollte die Erkenntnis wachsen, dass das nicht bloß Krisenbewältigung ist, sondern flexible Medienproduktion im 21. Jahrhundert.
19. August 2020