#nr21 | Vielfalt
„Was machst Du da in der Wildnis?“
Mehr als 30 Jahre nach der Einheit sind ostdeutsche Stimmen in der gesamtdeutschen Medienlandschaft immer noch Mangelware. Eine Studie spricht
gar von medialer Spaltung. Kann eine Quote Abhilfe schaffen?
von Philine Klinger
Ein Anglerhut in Deutschlandfarben, darunter der Titel „So isser, der Ossi“ – mit diesem Titelbild erregte der Spiegel 2019 deutschlandweit Aufsehen. Kritiker:innen monierten: Die Berichterstattung eines westdeutschen Mediums für westdeutsche Leser:innen basiere mal wieder auf Stereotypen. Denn der Anglerhut hatte eine Vorgeschichte: Der sogenannte „Hutbürger“ pöbelte 2018 im Rahmen einer sächsischen Pegida-Demonstration gegen ein Kamerateam der ZDF-Sendung Frontal21.
Als Steffen Winter, Spiegel-Korrespondent in Dresden und Autor der Titelgeschichte, das Titelbild zum ersten Mal sah, griff er direkt zum Hörer: „Ich habe gefragt, ob sie noch normal sind.“ Die Bildredaktion habe das Bild jedoch ironisch und spannend gefunden. Den Text, der Klischees kritisch hinterfragen sollte, so Winter, hätten viele aus Empörung daraufhin gar nicht gelesen.
Wie verbreitet Klischees in der eigenen Redaktion waren, merkte er erstmals, als er vor 17 Jahren seinen Korrespondentendienst in Dresden antrat. Viele Kolleg:innen hatten ihn daraufhin gefragt: „Was machst Du da in der Wildnis?“
Westdeutsche Prägung
Dass über Ostdeutschland im Spiegel meist als negative Abweichung vom „idealen Westen“ berichtet wird, zeigt eine Analyse der Journalistin Claudia Laßlop. Eine Untersuchung der gesamtdeutschen Presse im Auftrag des MDR belegt darüber hinaus, dass die Medien Ostdeutschland in den vergangenen Jahren zunehmend im Zusammenhang mit Armut, Rechtsextremismus und dem Gefühl, abgehängt zu sein, thematisierten.
Ein Diskussionspapier des Medienwissenschaftlers Lutz Mükke*, herausgegeben von der Otto Brenner Stiftung (OBS), zeigt die starke westdeutsche Prägung der Medienlandschaft. Demnach sind in den Führungsetagen deutscher Leitmedien nur neun Prozent Ostdeutsche vertreten, obwohl diese über 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Selbst in den Chefetagen ostdeutscher Regionalzeitungen seien westdeutsche Journalist:innen überproportional oft vertreten. Beim MDR sind nach eigenen Angaben 2021 über 83 Prozent der Führungskräfte Ostdeutsche. Die aktuellsten Zahlen für leitende Positionen bei NDR und rbb stammen aus dem Jahr 2016: Zu diesem Zeitpunkt lag der Anteil bei nur elf Prozent.
Absatz im Osten desaströs
Kritisiert wird eine daraus resultierende einseitige Berichterstattung, die erklären könnte, warum die Absatzzahlen überregionaler Zeitungen in ostdeutschen Bundesländern so desaströs sind. Der Spiegel verkauft vier Prozent der Gesamtauflage in Ostdeutschland, die Süddeutsche Zeitung nur 2,5 Prozent. Ulrike Nimz, Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, sieht die Ursache dafür aber nicht unbedingt in einer undifferenzierten Berichterstattung. In Gesprächen mit Ostdeutschen habe sie deswegen selten Ablehnung erfahren. Meist gebe es eher eine generelle Abneigung gegenüber klassischen Medien oder schlichtweg eine Absage, weil Süddeutschland zu weit entfernt scheine.
Die Zeit verkauft mit 32.000 Zeitungen immerhin sechs Prozent der Gesamtauflage in ostdeutschen Bundesländern, Tendenz steigend: „Die Zeit ist die einzige überregionale Zeitung mit wachsender Auflage in Ostdeutschland. Dabei wächst die Auflage sogar etwas schneller als in den westdeutschen Bundesländern“, so Martin Machowecz, Leiter der Zeit im Osten. Als Grund dafür sieht er, dass das stetig wachsende Leipziger Team mit seinen drei Seiten eine regionale Vertiefung von Themen bieten könne. Darüber hinaus beobachtet Machowecz jedoch auch, wie die Arbeit seiner Redaktion die Themen anderer Ressorts der Zeit beeinflusse.
Als Mitglied der Auswahlkommission der Deutschen Journalistenschule (DJS) sieht jedoch auch Machowecz, dass ostdeutscher Nachwuchs Mangelware ist. Die DJS erhebt keine Statistiken, geht aber von drei Schüler:innen mit Geburtsort in Ostdeutschland aus. Auf der Hamburger Henri-Nannen-Schule kommen nur zwei der 18 Journalist:innen aus Ostdeutschland, die RTL-Journalistenschule in Köln besucht nicht eine:r.
Quote als Drohung
Damit mehr Ostdeutsche den Weg in den Journalismus finden können, schlägt das Diskussionspapier der OBS eine Ostquote vor. Speziell ARD und ZDF sollten „dafür sorgen, die Repräsentanz Ostdeutscher und ostdeutscher Perspektiven in Leitungsgremien und zentralen Nachrichtensendungen wie Tagesschau oder heute und investigativen Formaten zu sichern und die Chancen von Quotenlösungen zu diskutieren“. Spiegel-Korrespondent Winter unterstützt diesen Ansatz, Machowecz findet die Ostquote vor allem als Droh-Kulisse interessant: „Allein die Drohung mit einer Quote kann Unternehmen dazu bringen, die Verhältnisse zu ändern.“ Kritiker:innen betonen die Schwierigkeit der Operationalisierbarkeit, da auch ein Geburtsort in Ostdeutschland mit einer westdeutschen Sozialisierung durch die Eltern einhergehen kann. Auch die Journalismusschulen stehen einer Quote skeptisch gegenüber. Stattdessen wollen sie über Infoveranstaltungen und eine stärkere Online-Präsenz gezielter für Aufmerksamkeit und Diversität sorgen. Machowecz plädiert zudem dafür, die Zugangsbedingungen für den Journalismus zu überdenken.
Ohne Psychogramme
Sowohl Machowecz als auch SZ-Korrespondentin Nimz sehen bereits jetzt eine verbesserte Sensibilisierung für ostdeutsche Perspektiven und Expert:innen. Langfristig sehnt Nimz sich nach einer Normalisierung der Berichterstattung: „Ich möchte nicht als Ostdeutsche ‚den Osten‘ mit möglichst ausführlichen Psychogrammen erklären müssen. Von diesem Reflex müssen wir weg.“ Andreas Oppermann, Leiter des rbb- Studios in Frankfurt, sieht weder Institutionen noch einzelne Personen in der Pflicht, die Missstände zu beheben. Für ihn gehe es um das richtige Gespür für relevante Themen, unabhängig von der Herkunft der Journalist:innen. Dazu sagte er im Berliner Mediensalon: „Wir müssen einfach unseren Job richtig machen, damit ein konstruktiver Diskurs entsteht.“
* Lutz Mükke ist Mitherausgeber von Message
1. Juli 2021