Wolf sieht fern
Aus den Parallelwelten
Der Tagesthemen-Kommentator türkischer Herkunft spricht über ein Thema mit Migrationshintergrund. Wie lange wird es dauern, bis er auch ein Thema mit gewöhnlichem innen- oder finanzpolitischem Hintergrund kommentieren darf?
von Fritz Wolf
Das Fernsehen entdeckt das Prekariat. Eben noch saß die Unterschicht wenig beachtet vor Unterschicht-Programmen, von denen sie sich mit ihren eigenen Erziehungs- oder Finanzproblemen unterhalten ließ – plötzlich rückte sie in den Fokus auch mittelstands-nivellierter Beobachter.
Sie wurde sogar Gegenstand von politischen Debatten, ob sie, die Unterschicht, überhaupt exis- tiere. Wie um ihre Existenz zu beweisen, fanden plötzlich Reporter in schneller Folge Menschen, die Bierflaschen und Dosen sammeln, um ihr Hartz-IV- Einkommen aufzubessern.
Oder sie entdeckten in Großstädten Menschen, die im Sozialkaufhaus Gebrauchtes kaufen und vor Suppenküchen Schlange stehen. Frontal 21 legte in ihr gewohntes Themenspektrum eine Szenenfolge ein unter dem Titel »Gelebte Armut«, in der ARD fanden Reporter in »Abgehängt – Leben in der Unterschicht« eine »parallele Welt« von Hartz-IV-Empfängern. Arte ließ in der Doku-Soap »Stellmichein« vorführen, wie Menschen sich abstrampeln, um überhaupt in den Arbeitsmarkt zu gelangen und ihre Arbeitskraft ver- kaufen zu dürfen.
Man sieht aber noch Verwirrung, mindes- tens Verunsicherung im Umgang mit den neuen Protagonisten. Das heute-journal setzte einmal einen älteren Arbeitnehmer, der nach dem Rüttgers-Modell länger Arbeitslosengeld bekommen könnte, effektvoll in Szene. Die Kamera umkreiste den Mann mehrmals, erhob ihn durch Untersicht zu Übergröße, als sei er ein Kinoheld in der Stunde der Läuterung oder kurz vor dem Aufbruch in ein großes Abenteuer.
Entweder war dem Kamerateam langweilig, oder die Szene war ein Zeichen für einen Paradigmenwechsel in der Aufmerksamkeit. Vorerst bleibt sie allerdings ein Einzelfall und vielleicht ist ja in der allgemeinen Hektik das Prekariat als Protagonist auch schon wie- der abgehängt.
Das Fernsehen entdeckt auch die ausländischen Mitbürger. Sie werden meist politisch korrekt, mit vollem Namen angesprochen: als Menschen mit Migrationshintergrund. Als die Innenminister der Länder auf ihrer Tagung in Nürnberg über das Bleiberecht berieten, konnte man plötzlich in allen TV-Nachrichten ausländische Familien sehen, die ihr Schicksal darlegten. Meist tragisches, manchmal höchst ungerechtes Schicksal. Solches Mitgefühl wärmt die Zuschauer, während die Politik eher kühl bleibt. Deshalb blieb auch weitgehend unbeachtet, wie der hessische Innenminister Volker Bouffier sich beschwerte, sie, die Innenminister, müssten die politischen Entscheidungen dann »ausbaden« (nicht die Migranten), weil sie, die Politiker, dann »abschie- ben« müssten (die Migranten, nicht sich).
Dennoch wird demnächst alles gut. Auf einem großen Migrations-Medien-Kongress in Essen, den WDR, ZDF und France Télévisions veranstalteten, war mutig gefordert worden, es sollten künftig mehr Journalisten und Kommentatoren mit Migrationshintergrund Programm präsentieren, als Moderatoren und Kommentatoren. Das Ansinnen ist nicht ganz neu und war vor zwanzig Jahren auf einem vergleichbaren Kongress in Köln formuliert worden. Es ist aber immer noch aktuell. Inzwischen bietet die ARD in der Riege der Tagesthemen-Kommentatoren einen Journalisten türkischer Herkunft auf. Birand Bingül kommt vom WDR. Das letzte Mal sprach er über ein Thema mit Migrationshintergrund. Wie lange wird es dauern, bis er auch ein Thema mit gewöhnlichem innenoder finanzpolitischem Hintergrund kommentieren darf? Die ausländischen Familien übrigens sind aus den Nachrichten weitgehend wieder verschwunden, mit oder ohne Bleiberecht. Sie waren mit ihren Schicksalen ohnehin nur zur Illustration gedacht.
Das Fernsehen entdeckt auch das internationale Prekariat, das im Zug der Globalisierung würdige Widersprüche tun sich auf, einiges unterläuft die gewohnten Bilder und Ansichten regelrecht.
Von den regierungsfeindlichen Demonstrationen in Beirut berichtend, stellt das heute-journal auch eine libanesische Familie vor. Anhänger der Hisbollah. Eine normale Familie, mit normalen Sorgen und dem Wunsch nach sozialer Sicherheit. Nichts, was auch nur annähernd nach Fundamentalismus, gar nach Terrorismus aussah. Sehr irritierend.
Oder, kleiner Sprung in eine andere Weltgegend: Als in Venezuela Hugo Chavez die Wahl gewann, zeigte das Fernsehen Berichte aus den Elendsvierteln. Von kostenloser medizinischer Betreuung vor Ort wurde berichtet, finanziert aus den Öleinnahmen des Landes – Milton Friedman, grade noch mit vielen Nachrufen gewürdigt, würde sich im Grab umdrehen. Einmal liefen einem Berichterstatter junge Leute in roten T-Shirts vor die Kamera, eine junge Frau rief »Revolution« ins Mikrophon und war schon wieder weg. Revolution? Man möge bedenken, sagte der Kommentator, dass 38 Prozent der Wähler Chavez nicht gewählt hätten. Das war vermutlich als Trost gedacht für Zuschauer, die sich vor revolutionär gestimmten Jugendlichen in roten T-Shirts fürchten. Wie viel Prozent haben übrigens die große Koalition in Deutschland nicht gewählt?
Parallel zur Entdeckung des Prekariats ist ein partielles Verschwinden der Politik zu beobachten. Nicht nur aus den Talkshows, wo große Panik vor großkoalitionärem Geschmuse ausgebrochen ist, sondern auch aus der Berichterstattung. Eben noch war Donald Rumsfeld mit flotten Sprüchen bildschirmpräsent, schon sah man ihn – Bush legt ihm noch schnell einen Arm über die Schulter – aus der Pressekonferenz auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Von Bushs UNO-Botschafter John Bolton gab es überhaupt nur noch einige Szenen aus dem Archiv zu sehen, welche die Meldung von seinem Rücktritt illustrierten.
Aus der deutschen Politik waren zwischenzeitlich einige heftig aufflammende und peinliche Fernsehauftritte von Gerhard Schröder zu vermelden, bei denen sich die ARD ziemlich ungeniert zum Handlanger von PR-Strategen machte. Inzwischen aber ist das Buch im Verkauf und der Ex-Kanzler zwar noch auf Lesetour, aber sonst: abgehängt im Medienzirkus.
Kommentar hinterlassen