Leserbindung
Durchmarsch der Amateure

Seit einem Jahr streitet die Branche um »Leser-Reporter« und »Volks-Paparazzi«. Was ist der rationale Kern dieser Debatte? Bestands- aufnahme eines Phänomens, das den Journalismus verändern könnte.

von Christoph Neuberger

Als Geburtsstunde des filmenden »Laien- Reporters« gilt der 22. November 1963, der Tag, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde. Der Hobbyfilmer Abraham Zapruder zeichnete das Attentat mit sei- ner 8-Millimeter-Kamera auf. 150.000 Dollar zahlte das Life Magazine für das Original. Heute ist der Zapruder-Film bei Youtube abrufbar – wie so viele andere privat gedrehte Videos.

Flächendeckende Beobachtung

Die Geräte für die Aufzeichnung von Bild und Ton wurden seither besser, billiger und kleiner. Die weite Verbreitung des »Camcorders« war Anfang der neunziger Jahre die Voraussetzung für das »Reality TV«. »Heute 22 Uhr: Selbstmord im TV« lautete die Schlagzeile der Bild-Zeitung am 5. August 1992. Das Selbstmord-Video, das Sat.1 damals ausstrahlte, war der Auftakt für das Realityfernsehen in Deutschland.

Die Sender hatten erkannt, dass sich ganze Formate alleine mit privaten Videos füllen ließen, etwa mit Zufallsaufnahmen von »Pleiten, Pech und Pannen«.

Auch in Nachrichtensendungen fanden diese Videos ihren Weg. Denn Journalisten und Kamerateams kommen meistens zu spät, wenn es aufregend wird. Katastrophen, Unfälle und Verbrechen finden meis- tens ohne sie statt, weil ein Unglück in der Regel ganz plötzlich passiert und nur wenige entscheidende Momente dauert.

Heute sind Kamera und Mikrofon ins Handy inte- griert, über das die Daten direkt in die Redaktion wei- tergeleitet werden können. Dass nun jeder Regisseur und Kameramann sein kann, ist die Botschaft eines Werbespots für das Nokia N93-Handy. Der Hollywood- Regisseur Gary Oldman erklärt darin einige Prinzipien des Filmemachens. Die Resultate können die Handybesitzer im »Nokia Nseries Studio« im Internet veröffentlichen. Die Digitalisierung führt zu einer flä- chendeckenden Beobachtung und Dokumentation der Wirklichkeit. Fest installierte Überwachungskameras und Satellitenfotos (»Google Earth«) werden durch mobile Kameras ergänzt, die viele mit sich herum- tragen. »Big Brother« sind nun auch Nachbarn und Passanten – oder die Fans von Prominenten. Die Wahrscheinlichkeit von Zufallsaufnahmen steigt.

Laien verfügen inzwischen nicht nur über die digi- tale Technik für Foto-, Film- und Tonaufzeichnungen, sondern mit dem Internet auch über ein Verbreitungsmedium, das ihnen den Umweg über die Redaktionen erspart. Im »Web 2.0« können sie problemlos selbst publizieren: in Weblogs, Videoblogs und Podcasts oder auf Nutzerplattformen wie Youtube und Flickr.

Großes Informationsreservoir

Der »Leser-Reporter« ist der späte Versuch der Redaktionen, diese technische Aufrüstung gezielt für sich zu nutzen. Augenzeugen, Betroffene und Informanten, auf die der Journalismus bisher zurück- greifen konnte, drohen sich zu verselbstständigen.
Zunächst haben sich die Redaktionen selbst im Internet bedient. Ereignisse wie die Tsunami- Katastrophe in Südostasien oder die Londoner Bombenanschläge haben gezeigt, welches Informationsreservoir das Internet birgt. Die Frankfur- ter Allgemeine Sonntagszeitung füllte eine ganze Seite mit Zitaten aus Weblogs, in denen Tsunamiopfer ihre Erlebnisse schilderten. Augenzeugenberichte von Bloggern druckte die Süddeutsche Zeitung nach den Attentaten in London. Immer häufiger sind auch Bilder zu Nachrichtenereignissen im Internet auffindbar.

Der Amokläufer von Emsdetten hinterließ gewalt- verherrlichende Videos auf Internet-Plattformen. Als die Polizei den Zugang zu diesen Videos sperrte, hatten sie einige Redaktionen bereits entdeckt und heruntergeladen. Ausschnitte daraus konnte man auf der RTL-Website und bei Spiegel Online betrachten. Die systematische Beobachtung und Auswertung des »User generated content« im Internet, das zeigt eine Befragung von Nachrichtenredaktionen des Instituts für Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster, ist inzwischen weit verbreitet (Media Perspektiven 1/2007; Projekt-Website: http://egora. uni-muenster.de/ifk/forschen/dfg_vermittlung.html).

Ähnliche Motive

Das Prinzip »Leser-Reporter« geht nun einen Schritt weiter: Hier wird das Publikum direkt zur Mitarbeit aufgefordert. Das erspart nicht nur die Suche, sondern sichert den Redaktionen auch exklusiv die Rechte. Das Internet eignet sich auch dazu, zur Mitarbeit auf- zurufen, die Nutzer zu schulen und die Einsendung der Dateien ohne großen Aufwand zu organisieren. Auch der Handy-Versand ist oft möglich.

Die Idee des »Leser-Reporters« verbreitet sich in Windeseile. Vor allem Boulevardzeitungen haben die Idee im deutschsprachigen Raum aufgegriffen: Den Hinweis »Leser-Reporter« findet man nicht nur auf der Website der Bild-Zeitung, sondern auch bei Blättern in Österreich (Kronen-Zeitung, Kleine Zeitung, Österreich) und der Schweiz (Blick).

Den Anfang machte in Deutschland im Januar 2006 die Saarbrücker Zeitung. Die Motive der ver- öffentlichten Fotos ähneln sich: Prominente, mög- lichst in unvorteilhaften Situationen und Positionen, Verkehrsunfälle, Tiere, Landschaften und alles, was zum Lachen anregen soll. Auch die Konditionen sind vergleichbar: Mit der Weitergabe an die Redaktion wer- den die Rechte abgetreten – oft ohne Gegenleistung. Bild honoriert bundesweit gedruckte Fotos mit 500 Euro, in Regionalausgaben mit 100 Euro. Erscheinen sie nur im Internet, wird nichts dafür gezahlt. Für das beste Papstfoto wurden 5.000 Euro ausgelobt. Der Stern, der unter augenzeugen.de eine FotoCommunity gegründet hat, bezahlt bis zu 1.000 Euro für den Abdruck. Dumpingpreise verglichen mit dem, was ein Berufsfotograf erhielte.
Auch das Fernsehen fordert mittlerweile seine Zuschauer zur Mitarbeit auf. Der US-Fernsehsender Current TV, den Al Gore mitbegründet hat, ist seit August 2005 auf Sendung. Rund ein Viertel des Programms wird angeblich von den Zuschauern selbst produziert. Die BBC hatte bereits nach den Bombenanschlägen im Juli 2005 um Texte und Bilder gebeten. Inzwischen hat die Nutzerbeteiligung bei der BBC einen hohen Stellenwert.

Nach dem Strategiepapier »Creative Future« vom April 2006 will die BBC künftig nicht nur im Nachrichtenbereich ihr Publikum stärker einbeziehen, sondern auch beim Aufbau einer Wissensplattform, auf der unter anderem Erinnerungen an jeden Tag in den letzten hun- dert Jahren gesammelt werden sollen.

Der Nachrichtensender CNN hat im August die Website CNN Exchange gestartet, nachdem es während der Fußball-Weltmeisterschaft bereits ein Pilotprojekt für »user generated content« gab. Premiere hat ebenfalls zur WM eine Sendung mit Fanvideos von probono produzieren lassen (Meine WM), die eine Begleitwebsite hatte.

Aufmerksamkeit und Anerkennung

RTL sucht »Handy-Reporter« und bezahlt 150 Euro für ausgestrahlte Fotos, Videos werden mit 500 Euro honoriert. N24 dagegen sagt seinen »Augenzeugen« lediglich die Namensnennung zu: »Lassen Sie alle N24-Zuschauer an Ihren Erlebnissen teilhaben!«

Der Kölner Regionalsender Center.tv stattet seine Zuschauer mit Kameras aus und sendet täglich eine Stunde heimatvideo.tv. Die gegenwärtig etwa 50 »Veedelsreporter« (Stadtteilreporter) waren zuerst während der WM unterwegs, nun sollen sie vor allem den Karneval dokumentieren. Für Großereignisse aus Teilnehmersicht sind Zuschauerreporter offenbar am besten einsetzbar. Sie liefern den subjektiven Blick auf das Geschehen.
Im Internet finden sich einige kleinere Angebote, die nach dem Prinzip der »Leser-Reporter« ihren redaktionellen Inhalt bestreiten wollen (myheimat. de, faktuell.de). Und auch Nachrichtenagenturen springen auf den fahrenden Zug auf: Reuters und Yahoo wollen mit einem gemeinsamen Dienst (You Witness) Amateurfotos vermarkten. Die dpa-Tochter Infocom nutzt die Mobilplattform MINDS für die Weiterleitung von Handyfotos an die Redaktionen (siehe Erfahrungsbericht Seite 35).

Die Leser- und Zuschauerreporter sind also ausge- schwärmt, beauftragt von Redaktionen und im Fall der Bild-Zeitung sogar mit einem Journalistenausweis in der Tasche. Sie gehen auf Prominenten-Pirsch und hoffen auf den großen Scoop. Ihnen genügt die Aufmerk- samkeit und Anerkennung, die ihnen der Abdruck oder die Ausstrahlung in einem reichweitenstarken Medium ein- bringt. Sie nehmen den Redaktionen die Arbeit vor Ort ab, für die die professionellen Journalisten immer weniger Zeit haben.

Die repräsentative Befragung »Journalismus in Deutschland« ergab einen Rückgang der Zeit, die ein Journalist durchschnittlich an einem Arbeitstag für die Recherche aufbringen kann, von 140 Minuten im Jahr 1993 auf nur noch 117 Minuten im Jahr 2005 (Weischenberg u.a. 2006). Laienreporter sind deshalb auch als Mittel der Kostenreduzierung zu sehen.

Prüfung des Rohstoffs

Bedroht sind durch sie weniger die Journalisten, son- dern in erster Linie die Fotografen. Dan Gillmore, Autor des Buches »We the Media: Grassroots Journalism by the People, for the People« hat kürzlich den Niedergang des professionellen Fotojournalismus vor- hergesagt (Gillmore 2006). Mit Schnappschüssen in hoher technischer Qualität, die zufällig Anwesenden gelingen, könnten die Profis nicht konkurrieren. Die redaktionelle Prüfung des Rohstoffs, den die Laienreporter abliefern, ist nicht nur deshalb schwierig, weil es eine Flut an Einsendungen gibt, sondern auch deshalb, weil nicht unterstellt werden kann, dass sich die »Leser-Reporter« an journalistischen Standards orientieren. Noch ist wenig über die »Leser- Reporter« bekannt; wissenschaftliche Studien fehlen. Doch eins ist sicher: Die rechtlichen Hinweise, etwa über die Respektierung der Privatsphäre, und wenige handwerkliche Tipps machen aus einem Laien keinen Journalisten.

Neues Selbstverständnis

Das Wort »Bürgerjournalisten«, das immer wie- der als Bezeichnung für sie auftaucht, ist ein dop- pelter Etikettenschwindel: »Leser-Reporter« sind bloße Zuträger der Redaktionen, Informanten und Lieferanten von Fotos und Videos. Sie treten weder in der Rolle von »Bürgern« noch von »Journalisten« auf.

Mit der amerikanischen Tradition des »citizen journalism«, der sich um ein Mehr an Partizipation und eine Verbesserung öffentlicher Diskurse bemüht, haben »Leser-Reporter« wenig gemein. Ansätze, die in diese Richtung zielen, finden sich eher dort, wo Redaktionen ihr Publikum respektvoll als aktiv beteiligte Bürger einbeziehen. Sie stehen vor der Herausforderung, das Spannungsverhältnis zwischen Redaktion und Partizipation aufzulösen. Hier müs- sen die Journalisten ein neues Selbstverständnis als Moderatoren entwickeln. Zur Anregung kann hier der Aufsatz »The 11 Layers of Citizen Journalism«von Steve Outing dienen, der in Poynter Online erschie- nen ist und in dem ein Überblick über solche Projekte gegeben wird.


 

Literatur:

  • Gillmor, Dan (2004): We the Media. Grassroots Journalism. By the People, For the People. Sebastopol, CA: O’Reilly.
  • Gillmor, Dan (2006): The Demise of the Professional Photojournalist. In: Center for Citizen Media. 04.12.2006. http://citmedia.org/blog/2006/12/04/the-demise-of-the- professional-photojournalist.
  • Neuberger, Christoph (2006): Nutzerbeteiligung im Online- Journalismus. In: Rau, Harald (Hrsg.): Zur Zukunft des Journalismus. Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a.: Peter Lang, S. 61-94.
  • Outing, Steve (2005): The 11 Layers of Citizen Journalism. In: Poynter Online. 13.06.2005. Updated: 15.06.2005. http:// www.poynter.org/content/content_view.asp?id=83126 Weischenberg, Siegfried u.a. (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft, Konstanz: UVK.

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