Editorial

Liebe Leserinnen, Liebe Leser
Michael Haller

Lang ist es her, und doch aktuell: die Affäre um Kaiser Friedrichs Tagebuch 1870/71. Die einflussreiche Deutsche Rundschau erschien am 20. September 1888 mit sensationellen Auszügen aus dem Tagebuch des toten Kaisers, die sich auf den deutsch-französischen Krieg bezogen. Ein paar Tage später wurde das Blatt auf Veranlassung von Bismarck wegen Landesverrats beschlagnahmt. Der Reichskanzler ließ den Herausgeber wegen Landesverrats strafverfolgen und behauptete, die Tagebücher seien gefälscht, was eine Lüge war. Der wirkliche Grund: Bismarck passten die Enthüllungen politisch nicht in den Kram.

Warum das aktuell sein soll? Weil die Vorgänge in Osteuropa jenen Zeiten ähneln, als der Rechtsstaat schwach und die Pressefreiheit von der Gnade des Staates abhängig waren. Die Deutschen haben seit damals (in mehreren Anläufen) gelernt, dass die Pressefreiheit zuerst als ein Abwehrrecht gegen den autoritären Staat erstritten werden muss. Dann erst kann der Journalismus seine Rolle als Beobachter finden und das Prinzip Unabhängigkeit für sich reklamieren.

Ob Putins Russland den Weg zurück geht zum autoritären Machtstaat? Unser Themenschwerpunkt Osteuropa soll Ihnen Einblicke geben in die Umstände, unter denen derzeit Journalisten in Russland arbeiten. Mein Eindruck:
Wenn Staatsdirigismus der Maßstab ist, dann gibt es viele Belege für den Niedergang der Pressefreiheit. Russische Verhältnisse auch in Rumänien und Bulgarien: In allen drei Ländern bewegen sich Journalisten auf sehr unsicherem Terrain, wie die Berichte auch aus den beiden der EU beigetretenen Staaten augenscheinlich machen.

In Westeuropa gibt es keine Bomben- oder Mordanschläge auf Journalisten. Hier wird das Prinzip Unabhängigkeit auf erheblich elegantere Weise unterlaufen. Zum Beispiel mit strategisch geplanten PR-Kampagnen, die das Radarsystem des Journalismus unterlaufen. Wie das geht, erzählen zwei Geschichten: die eine über das schöne Thema Demografischer Wandel, die andere über das weniger schöne Thema Mobilfunkstrahlung.

Dass Ihnen auch unsere anderen Themen – etwa Hajo Seppelts Erfahrungen in und mit der ARD – nützliche Informationen über den aktuellen Zustand des Journalismus geben, dies wünscht sich

Michael Haller

N.B. Die von Bismarck gegen die Zeitungsleute betriebene Anklage wegen Landesverrats endete mit einem Freispruch der Publizisten. Das Urteil stärkte den Rechtsstaat und läutete das Ende der Bismarck-Ära ein. Die Moral von der Geschicht: Rechtsstaatlichkeit ist die wichtigste Funktionsbedingung für kritischen Journalismus. Und dies stimmt uns, was Russland betrifft, eher pessimistisch.

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