Nutzungsforschung
Erzählend den Leser fesseln

Erzähltexte sind oft aufwändig und lang. Wollen die Leser so etwas? Die Nutzungsforschung ermittelt das Leseverhalten zeilengenau. Das überraschende Ergebnis: Erzähltexte steigern die Lesequote.

von Michael Haller

Der Leuchtpunkt springt von oben her über die Zeitungsseite zum bunten Dreispalter- Bild, dann hinauf zur Überschrift, dann in die linke Spalte auf ein Porträtfoto, nach rechts auf eine Infografik; er streift zwei zwei- spaltige Überschriften, landet plötzlich wieder beim Aufmacher, geht in den Vorspann, hüpft nach rechts in den Kommentar und springt wieder zurück zum Aufmacher, huscht über die ersten Zeilen, wandert wieder über das große Bild, tanzt nach unten und hangelt sich über ein paar Zwischentitel zurück in die erste Spalte des Aufmachertextes, folgt nun den Textzeilen bis in den zweiten Absatz – und jumpt plötzlich nach unten weg. Nun tauchen die Finger der rechten Hand im Bild auf, sie greifen zum Seitenrand, um umzublättern.

Dies ist das Protokoll eines Blickverlaufs. Der Leuchtpunkt zeigt, wo und was die Augen des Lesers fixieren. In diesem Falle handelte es sich um einen »typischen« Zeitungsleser. Er hat die Seite 3 aufge- schlagen und sein Blick erschließt sich das Angebot dieser Seite. Dauer des oben beschriebenen Ablaufs: dreikommafünf Sekunden.

Wie gehen Leser mit Texten um?

Das Leipziger Institut für Praktische Journalis- musforschung (IPJ) führt systematisch Zeitungs- leseforschung durch. Eine der dafür verwendeten Methoden ist das »Eyetracking«: Mit winzigen Kameras wird die Pupillenbewegung der Leser 24-mal pro Sekunde gemessen und per Video aufgezeichnet.

Dank dieser Methode haben wir inzwischen recht genaue Kenntnis, wie die Zeitungsleser mit welchen Themen und Texten umgehen: Wann sie sich lang- weilen – und wo sie neugierig werden, sich zu inte- ressieren beginnen, in den Text hineinlesen und dran- bleiben – oder abbrechen und aussteigen.

Wie man Leser interessiert

Eine wichtige Erkenntnis dieser Studien lautet: Problematisch ist nicht die Textlänge; auch längere Geschichten werden gelesen. Als Problem erweist sich oft die fehlende (oder unzureichende) Dynamik der Zeitungsseiten – und oft auch die mangelnde Qualität längerer Texte. Wer länger als rund hundert Zeilen (ab 4.000 Zeichen) schreiben will, der muss für seine Leser etwas zum Erzählen haben.

Wer nichts erzählen kann, der sollte sich kurz fassen oder sein Thema untergliedern. Denn neben sprachlich-stilistischen Mängeln spielt der Textaufbau eine entscheidende Rolle: Folgt nach dem blumigen Einstieg ein Berichtsmuster (unddannunddann)? Hebt er ab in akademische Strukturbeschreibungen? Montiert er Fakten und Zitate in ein beliebiges Nacheinander – oder bietet er eine Dramaturgie, die den Leser von Absatz zu Absatz neugierig macht, wie es weitergeht?

Noch entscheidender ist die Perspektive: Vermittelt der Text nur Sachverhalte, garniert mit ein paar Situationsbeschreibungen – oder begleitet der Text handelnde Menschen, beobachtet er sie aus der Nähe und erzählt deren Handlungen so, dass eine Geschichte daraus wird? Journalisten, die dies üben, entwickeln wie zwangsläufig eine andere Sprache: Aus abstrakten Beschreibungen werden anschauliche Schilderungen; statt der üblichen schwachen Verben wimmelt der Text plötzlich von starken Verben. Die nichtssagenden Zitate verschwinden; wenn jemand spricht, sagt er Charakteristisches. Und mit einem Mal wird aus dem drögen Bericht eine lebendige Erzählung.

Bestätigung durch ReaderScan

Am IPJ wurden auch Nutzungsdaten von drei Regionalzeitungen wissenschaftlich ausgewertet, die Carlo Imbodens Lesestift ReaderScan eingesetzt haben. Die Analyse der Daten erbrachte ganz ähnliche Ergebnisse: Sobald es der Redaktion gelingt, dem Thema eine erzählerische Perspektive zu geben und im Text handelnde Personen auftreten zu lassen, steigt die Lesequote markant an.

Da brachte die Zeitung zwei Wochen nach der Eröffnung der großen Riemenschneider-Ausstellung eine Geschichte, die hinter den Kulissen handelt und erzählt, wie die Organisatoren den Besucher- Ansturm managen, ergänzt mit Tipps für die Leser (Stichwort Nutzwert) und einem knappen Kommentar. Im Text geht es lebhaft zu: Ein Besucher darf schimpfen, und die Ausstellungschefin erklärt daraufhin ihr Konzept; Gastronomen sagen, was sie zur Ausstellung alles aufbieten und ein Vertreter der Verkehrsbetriebe schildert, wie man die Besuchermassen durch die Stadt kutschiert: Anhand verschiedener Personen wird entlang eines Erzähl- fadens gezeigt, wie die Stadt mit dem Kultur-Ereignis umgeht – lebensnah und aus der Leserperspektive. Drei von vier Lesern haben den ganzen Text gelesen – fürs lokale Feuilleton eine Traumquote.

Selbst Rezensionen erreichen plötzlich Leser, die sich für das Kulturelle sonst nicht interessieren: Einer Autorin gelang es beispielsweise, mit einer erzählerisch geschriebenen Besprechung des Kinofilms »Höllentour«, einer Tour-de-France-Dokumentation, fast ein Drittel der Leserschaft für das Thema zu interessieren. Und mehr als die Hälfte von ihnen las den Text trotz seiner 150 Zeilen bis zu Ende. Das Besondere: Der Artikel erschien im Sportteil.

Nicht alles ist Erzählung

Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Erzähljournalismus ist kein Allheilmittel, um die Tageszeitungen zu sanieren. Sein Mangel ist indessen Ausdruck der Trägheit vieler Blattmacher, wenn es darum geht, den Journalismus weiterzuentwickeln.

Die am IPJ durchgeführten Untersuchungen belegen, dass Zeitungen aus der Sicht ihrer Leser dazu da sind, Orientierung zu geben. Natürlich müssen sie in erster Linie informieren. Und dies leisten auch weiterhin (prägnant formulierte) Meldungen und Berichte. Zur Orientierungsfunktion gehören zudem Hintergrundberichte und Analysen. Und die mei- nungsbetonten Formen wie Kommentar und Glosse. Doch diese Angebotspalette ist für ein Lesemedium viel zu karg: Auch Zeitungen brauchen Texte, die vergnüglich zu lesen sind und zugleich Durchblicke geben auf das, was die Menschen bewegt.

Aufwändige Benchmark-Studien des IPJ ergaben, dass die Leser des Lokalteils der Tageszeitungen doch immerhin erwarten, dass rund 10 Prozent des Angebots »subjektive Erzähltexte« sein soll- ten: kleine Reportagen, einfühlsame Porträts, Erlebnisschilderungen und recherchierte Features. Die Textanalyse der Lokalteile von 14 verschiedenen Regionalzeitungen offenbarte jedoch, dass nur gerade zwei Prozent sämtlicher Texte diesem Genre genü- gen. Sie sind demnach die seltene Ausnahme. Und dies muss sich ändern.

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