Sprache und Stil
Sickernde Menschen
Eine Kolumne des Deutschen Literaturinstituts Leipzig
Wenn Flüchtlinge aus Afrika als »Flut illegaler Einwanderer« bezeich- net werden, dann ist klar, wer in Gefahr ist: wir Europäer! Plötzlich sehen wir uns, in einem lächer- lich kleinen Schiffchen treibend, den auf uns zukommenden Wassermassen ausgeliefert.
von March Höld
Wer einmal versucht hat, eine Konzerthalle zu betreten, die gerade von hunderten Menschen verlassen wird, weiß, wie sich eine von A nach B bewegen- de Menschenmasse anfühlt: All die Oberkörper, Ellenbogen, spitzen Knie und scharfkantigen Gürtelschnallen, die einem da entgegenkommen, die einen mit- und fortzurei- ßen drohen, als wäre man ein Spielzeugschiffchen zwischen Stromschnellen. In Anbetracht so einer Erfahrung ist es plausibel, die sich bewegende Menschenmasse als »Strom«, »Welle« oder »Flut« zu bezeichnen – eine einfache Metapher. Eine, die uns auch bei der Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre regelmäßig unter- kommt, allerdings seltener im Zusammenhang mit Musikliebhabern als im Zusammenhang mit Flüchtlingen. Wir lesen vom »Flüchtlingsstrom« (SZ 21.8.2006), von »Flüchtlingswellen« (Welt 6.8.2006), von einer »Flut von Migranten« (NZZ 22.11.2006), und diese Formulierungen halten wir nicht nur deswegen für normal, weilwir sie ob ihrer Häufigkeit gewohnt sind,sondern auch weil sie unseren Erfahrungen mit Menschenmassen entsprechen. Menschenmassen, die so groß und unaufhaltbar sind, dass sie auf uns bedrohlich wirken.
Trotzdem, die Problematik dieser einfachen Metapher ist hinter ihrer Plausibilität nur schlecht versteckt. Wenn nach Europa kommende Flüchtlinge als »Flut illega- ler Einwanderer« (Die Presse 19.7.2006) bezeichnet werden, dann ist klar, wer in Gefahr ist: wir Europäer. Und die Gefahr, die wie eine Naturkatastrophe über uns hereinbricht, das sind jene, die zu uns kommen (wollen). Im Bild vom »anschwellenden Strom von Menschen aus dem Ausland« (Magdeburger Volksstimme 7.8.2006) wird die Realität umgekehrt: Plötzlich sehen wir uns, in einem lächerlich kleinen Schiffchen treibend, den auf uns zukommenden Wassermassen ausgeliefert. Aber jene, die tatsächlich in desolaten, übervollen Booten hocken und auf dem Seeweg nach Europa ihr Leben riskieren (und oft verlieren), das sind die Flüchtlinge.
Auf diese Verdrehung der Wirklichkeit hinzuweisen, heißt nicht, die Schwierigkeiten der Zielländer mit der Integration der Einwanderer herunterzuspielen. Es geht vielmehr darum, die Situationen der Menschen (sowohl die der Meere, Wüsten und Stacheldrahtzäune überquerenden Flüchtlinge, als auch die der in den Einwanderungsländern lebenden Europäer) realistisch einzuschätzen – ohne dass die eigene Wahrnehmung vor lauter strömendem, wellendem, flutendem Wasser in den Augen ihre Schärfe verliert.
Die Wahrnehmung hat es schwer, Wasser und Mensch auseinanderzuhalten, weil die Menschen im Bild der Wassermasse aufgelöst werden. So, als würde man Salz in Wasser auflösen, bis es seine Kristallstruktur verliert; übrig bleibt salzig schmeckendes Wasser. Auf ähnliche Weise schmeckt die metaphorische Welle oft menschlich: Etwa wenn wir lesen: »Die Todesverachtung, mit der immer neue Wellen afrikanischer Elendsflüchtlinge gegen die Zäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla anrennen, beunruhigt Europa.« (SZ 13.10.2005) Nun, sollte es tatsächlich wahr sein, dass Wasser (»Wellen«) verachten kann, und noch dazu den Tod, dann ist die europäische Beunruhigung verständlich, denn zur altbekannten Frage »Was unterscheidet den Menschen vom Tier?« gesellt sich nun die Frage: »Was unterscheidet den Menschen vom Wasser?« Das Schlafen in Betten kann es nicht sein, denn: »Viele der Ausländer, die aus dem Libanon flüchten, nehmen den Seeweg über Zypern. Bisher kommt es auf der Insel noch nicht zu Engpässen, aber wenn die Welle weiter rollt, könnten die Betten knapp werden.« (FAZ 23.7.2006) Werden da vielleicht die Flussbetten knapp?
Obwohl hier das Wasser nach Mensch schmeckt, verlieren die Menschen in diesem Wasser ihre menschlichen Eigenschaften, etwa die Art und Weise, wie Menschen sich gewöhnlich fortbewegen. So wie im Wasser aufgelöstes Salz nicht länger rieselt, gehen oder kommen in der Metapher aufgelöste Menschen nicht mehr – sondern sie sickern. Das lesen wir beispielsweise in einem Artikel über afrikanische Immigranten auf Teneriffa: »Jeden Abend sickern sie aus ihren Unterkünften in den Bergen in die Küstenorte, streifen um die Tische an den Promenaden und bieten Sonnenbrillen an.« (Zeit 20.7.06) Das Bild von den Menschen als »Welle« und »Flut« hat sich verselbstständigt, wirkliche Masse ist für die Auflösung des menschlichen Körpers nicht mehr notwendig: Es reicht, der relativ kleinen Gruppe der Sonnenbrillenverkäufer auf Teneriffa anzugehören. Auch hier zeigt sich, dass hinter der Wassermetapher mehr steckt als Plausibilität. Zur Umkehrung der tatsächlichen Gefährdungssituation (Wer treibt hilflos im desolaten Schiffchen?) gesellt sich eine Entmenschlichung der Flüchtlinge. Das liest sich dann beispielsweise so: »Nun ist wieder eine Flüchtlingswelle über Spanien hereingebrochen. (…) Stets im Sommer schwillt der Strom an.« (Zeit 20.5.2006) Im Satz mit dem anschwellenden Strom bleibt von Menschen kein Wort übrig.
Wenn wir die Menschen erst einmal los sind, wenn wir uns nur noch mit Wasser konfrontiert sehen, dann können wir unsere Handlungsmöglichkeiten angesichts dessen, was (und nicht mehr wer) da auf uns zukommt, anders versprachlichen: Dann wird in der Debatte um eine europäische Immigrationspolitik von zu öffnenden oder zu schließenden »Schleusen« (SZ 13.10.2005) geschrieben, und ob wir uns »völlig abschotten« (FAZ 5.10.2005) sollen. Eine Diktion, die sich ganz aufs Wasser und nicht auf die Menschen bezieht und die sich nicht eignet, politische und ökonomische Lösungen für die Ursachen des Problems zu diskutieren. Eine Diktion, die das Leid der Migranten völlig ausblendet: die Armut, die oft miese Menschenrechtssituation, die Heimatlosigkeit derer, die aufgebrochen sind, und die zurückgelassenen (durch die Fluchtkosten verschuldeten oder zumindest um ihre Ersparnisse gebrachten) Familien.
Und doch gibt es einen Punkt, an dem die Flüchtlinge wieder zu Menschen werden: ihren Tod. Wer im Wasser ertrunken, in der Wüste verdurstet oder sonstwie ums Leben gekommen ist, kommt nicht mehr als Strom, Welle oder Flut nach Europa; »an den Stränden von Lampedusa und Sizilien werden Tote angespült« (Stern 19.7.2004). Mit dem Tod werden Mensch und Wasser wieder auseinanderdividiert: gestorbene Menschen, spülendes Wasser. Wenn von toten Flüchtlingen die Rede ist, werden auch meist Zahlen genannt, selbst wenn diese nur geschätzt sind. Die Toten treiben im Wasser, sie sind es nicht. Dadurch sind sie, zumindest grammatikalisch, zählbar: Der Mensch ist wieder da! Ist es beruhigend, dass wir nichts lesen von Leichenströmen, Leichenwellen und der Flut der Toten?
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