Recherche
»Das Mitgefühl kommt danach«

Anita und Marian Blasberg haben den ersten von Deutschland organisierten Sammel-Abschiebeflug recherchiert. Im Gespräch mit Message geht es um anonymisierte Quellen, rekonsturierte Augenzeugenberichte und professionelle Distanz zum Geschehen.

In Ihrer Reportage »Abschiebeflug FHE 6842« beschreiben Sie die Schicksale afrikanischer Flüchtlinge, die über EU-weit organisierte Flüge von Hamburg aus in ihre Heimatländer abgeschoben wurden. Wie sind Sie auf dieses Thema aufmerksam geworden?

Anita Blasberg: Mein Bruder und ich haben vor dieser Geschichte bereits zwei Reportagen über die Schicksale afrikanischer Flüchtlinge geschrieben. In einer davon, den »Sklaven von Altona«, ging es um die Lebensbedingungen illegaler Afrikaner in Europa. Der Anwalt eines Protagonisten dieser Geschichte erzählte uns von diesen Sammelabschiebeflügen, die damals völlig neu waren. Der »Abschiebeflug FHE 6842« ist also so etwas wie eine Follow-up-Geschichte.

Wie haben Sie dieses Thema recherchiert?

Anita Blasberg: Wir haben zunächst Hintergrundgespräche geführt – mit Vertretern des Flüchtlingsrates, mit Abschiebebeobachtern der Evangelischen Kirche und mit Anwälten, die auf Asylverfahren spezialisiert sind.

Marian Blasberg: Die Anwälte haben sich für uns unter ihren Mandanten umgehört. Und einer von ihnen kannte jemanden, der auf einem solchen Flug dabei war. Er spielt in unserer Geschichte eine wichtige Rolle: Hamid, der eine Deutsche geheiratet hat – und deshalb nach Deutschland zurückkehren durfte.

Anita Blasberg: Hamid war ein Glückstreffer für uns: Er war am 18. September 2006 beim ersten von Deutschland aus organisierten Abschiebeflug dabei. Damit war klar, dass wir diesen Flug beschreiben werden. In der Folge haben wir versucht, die anderen Passagiere ausfindig zu machen.

Marian Blasberg: Zum Beispiel die Familie Kpakou, die eine der Hauptrollen in unserer Reportage spielt. Ihr Schicksal war in Hessen bereits durch die Presse gegangen, weil sich in der Gemeinde Cölbe, in der die Familie vor ihrer Abschiebung lebte, ein Unterstützerkreis für sie gebildet hatte.

Über diesen Kreis haben wir Kontakt zu den Kpakous in Togo bekommen. Wir haben uns ins Flugzeug gesetzt und vor Ort mit den Familienmitgliedern über ihre Erlebnisse während der Abschiebung gesprochen. Anschließend haben wir weitere Passagiere des Abschiebeflugs in verschiedenen Städten Benins zu Interviews getroffen.

Wie arbeiten Sie als Team bei so einer Recherche zusammen?

Anita Blasberg: Wir führen Gesprächsprotokolle, notieren Stichwörter, Thesen, Gedanken, Zitate und sammeln Hintergrundinformationen. Zwischen 50 und 60 Seiten Material kam in diesem Fall zusammen. Das gehen wir gemeinsam durch und strukturieren es. Anschließend entwerfen wir eine Dramaturgie für den Text und jeder schreibt einzelne Abschnitte davon.

Marian Blasberg: Dabei redigieren wir unsere Texte gegenseitig extrem.

Anita Blasberg: Bei einer solch dramatischen Geschichte ist das wichtig. Man muss sich sprachlich zurücknehmen, nicht unnötig emotionalisieren.

Angesichts des Schicksals der Flüchtlinge ist Parteinahme eine naheliegende Gefahr. Wie haben Sie versucht, die notwendige professionelle Distanz aufrechtzuerhalten?

Marian Blasberg: Wenn ich ein Interview führe, bin ich in einer Art Funktionsmodus. Ich konzentriere mich auf die nächste Frage, auf das Interviewziel.

Anita Blasberg: Was heißt hier professionelle Distanz? Wir haben keine Analyse geschrieben, sondern eine Reportage. Und dabei ist es gerade wichtig, sich in die Perspektive seines Gegenüber einzufühlen – das haben wir bei dem Mann von der Ausländerbehörde genauso versucht wie bei den Abgeschobenen. Ich glaube aber auch, dass man als Reporter wie ein Arzt funktioniert: Das eigentliche Mitgefühl kommt erst im Nachhinein.

Sie haben die Geschehnisse 10 Monate später anhand der Erinnerungen der Passagiere rekonstruiert. Wie haben Sie diese abgesichert?

Anita Blasberg: Als Journalist bei so einem Flug dabei zu sein, ist ausgeschlossen. Also bleibt nur die Möglichkeit der Rekonstruktion. Für uns war es wichtig, mit so vielen Augenzeugen wie möglich zu sprechen, um die verschiedenen Erinnerungen miteinander abzugleichen. In diesem Fall hatten wir das Glück, zwölf Gesprächspartner zu finden, die an Bord der Maschine waren.

Können Sie dies an einem Beispiel zeigen?

Marian Blasberg: Wenn wir schreiben, dass ein Polizist während der Landung des Flugzeugs in Togo »welcome to Miami« sagt, dann haben uns das mindestens zwei Personen unabhängig voneinander so erzählt.

Anita Blasberg: Wir haben zudem mit mehr Leuten gesprochen, als im Text auftreten: zum Beispiel mit dem Arzt der Bundespolizei, der diesen Flug begleitet hat und den kranken Vater der Familie Kpakou am Flughafen untersucht hat. Der Arzt konnte uns auch sagen, wer im Flugzeug wo gesessen hat.

Geht in der Erinnerung der befragten Quellen nach einer solch langen Zeit nicht einiges durcheinander?

Marian Blasberg: Wie schon gesagt: Die Erinnerungen einzelner, die wir im Text verwenden wollten, haben wir gezielt bei anderen Interviewpartnern abgefragt. Ein Beispiel: Wenn uns etwa alle Abgeschobenen berichtet haben, dass es beim Halt in Guinea zu Unruhe in der Maschine kam, dann haben wir uns das zusätzlich vom mitreisenden Beamten bestätigen lassen: Ja, da haben ein paar Guineer rumgepöbelt. Hilfreich waren für uns zudem die Briefe der Kinder der Familie Kpakou, die diese unmittelbar nach der Abschiebung an den Unterstützerkreis in Deutschland geschickt haben. Die Briefe beschreiben detailliert die Umstände ihrer Abschiebung.

Ihre Reportage beginnt mit dem Abschiebeflug. Diese spannende Geschichte erzählen sie im Präsens. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Sie an Bord waren. Vermitteln Sie dem Leser eine Realität, die es nicht gibt? Die Reportage lebt ja von der Authentizität.

Anita Blasberg: Wir haben an mehreren zentralen Stellen im Text deutlich gemacht, dass wir nicht an Bord waren. Und im Vorspann der gedruckten Version wird die Geschichte als »Rekonstruktion« angekündigt. Dennoch haben wir bewusst das Präsens Historicum verwendet, ganz einfach, weil eine ganze Reportage im Imperfekt sich furchtbar liest.

Marian Blasberg: Ein gängiges Stilmittel, um den Leser trotz zeitlicher Distanz buchstäblich auf die Reise mitzunehmen.

Eine der Hauptpersonen ist ein »leitender Angestellter« der Hamburger Ausländerbehörde. Sie nennen ihn Udo Radtke. Durch die Anonymisierung des Protagonisten kann der Leser nicht erkennen, ob es diesen wirklich gibt. Wird damit nicht die Glaubwürdigkeit der Geschichte gefährdet?

Marian Blasberg: Uns wäre neu, dass die Anonymisierung einer Quelle ein Problem ist. Bei investigativen Geschichten, auch bei vielen Schicksalsgeschichten, ist die Anonymisierung einer Quelle meist sogar die Bedingung, dass …

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