Recherchen
Der Mann, der Mathias P. war
Als Leiharbeiter getarnt, recherchierte Markus Breitscheidel undercover in großen Wirtschaftsunternehmen – und spürte die Folgen staatlich subventionierter Billiglohnpolitik am eigenen Leib.
von Markus Breitscheidel
Faul, unflexibel, kein Schulabschluss – das sind unsere Vorurteile Menschen gegenüber, die abhängig von Sozialleistungen sind, von Hartz IV leben oder sich als Leiharbeiter durchkämpfen müssen. Aber stimmen diese Vorurteile auch? Ich wollte es genau wissen und arbeitete eineinhalb Jahre undercover als Leiharbeiter bei vielen namhaften Wirtschaftsunternehmen wie Opel oder Bayer, aber auch in der Landwirtschaft.
Ich wollte die persönlichen und ökonomischen Auswirkungen der Billiglohnpolitik am eigenen Leib erfahren. Die Idee kam mir bereits während einer vorherigen Recherche zur desaströsen Situation in Altenheimen (»Abgezockt und totgepflegt«). Denn auch dort konnte ich beobachten, dass die Arbeitgeber statt auf festangestellte Altenpfleger eher auf Leiharbeitskräfte setzen. Die Erzählungen der damaligen Leiharbeitskollegen festigten in mir das Bild eines modernen Wanderarbeiters. Doch wie ist das Leben eines Leiharbeiters tatsächlich – und verdrängt die Leiharbeit die Festbeschäftigung?
Der geliehene Angestellte
Zunächst recherchierte ich vier Wochen in Berlin und an der Fachhochschule Gelsenkirchen/Bochum zur aktuellen Gesetzgebung und deren Entstehung.
Zentral ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von 1972. Es ermöglicht sogenannten Leih- oder Zeitarbeitsfirmen, ihre Arbeitnehmer an verschiedene Unternehmen zu verleihen und als Vermittler einen Anteil des Arbeitslohns als Provision einzubehalten. Vorbild dieses Modells waren die ersten Leiharbeitsfirmen, die Anfang der 50er Jahre in den USA gegründet worden waren. Allerdings entwickelte man in Deutschland zusätzlich einen sozialen Schutz, um Leiharbeiter vor Ausbeutung zu bewahren.
Die Politik sieht Leiharbeit vorrangig als Instrument für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Als die Arbeitnehmerüberlassung in den 70er Jahren hierzulande erlaubt wurde, geschah dies mit dem Argument der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit des Verleihers und war erzwungen worden durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1972.
Leiharbeit wurde damals vielfach als prekäres Beschäftigungsverhältnis abgelehnt. Die Lobbyarbeit von privaten Verleihern führte jedoch immer wieder zur Lockerung der gesetzlichen Regelung von 1972. So wurde die zulässige Dauer, während der ein Arbeiter verliehen werden kann, im Jahr 1985 von drei auf sechs, im Jahr 1994 auf neun und 1997 schließlich auf zwölf Monate verlängert. Der arbeitsrechtliche Schutz der Beschäftigten wurde in den folgenden Jahren nach und nach komplett aufgehoben.
Seitdem erfreut sich die Branche der Leiharbeitsfirmen eines starken Wachstums. Auf mehr als acht Milliarden Euro ist der Umsatz seit der Reform gestiegen – immerhin ein Plus von 16 Prozent. Im Jahr 2007 gab es mit mehr als 550.000 Leiharbeitern fast viermal mehr von diesen Beschäftigungsverhältnissen als noch zehn Jahre zuvor.
Neue Identität gesucht
Nach dieser vierwöchigen Literaturrecherche stand ich vor einem praktischen Problem: Durch den enormen Erfolg meiner Altenheim-Recherche »Abgezockt und totgepflegt« konnte ich jetzt unmöglich unter meinem richtigen Namen als Leiharbeiter arbeiten. Bei der ersten Recherche war der Name noch kein Hindernis, aber durch Fernsehauftritte, Radiointerviews, Zeitungsberichte und mehr als 300 öffentliche Auftritte war eine Folgerecherche unter meiner richtigen Identität unmöglich.
Ich musste unter einem anderen Namen auftreten, ohne dabei gegen bestehende Rechte zu verstoßen, ohne Urkundenfälschung zu begehen. Schließlich würde ich nicht nur die notwendigen Arbeitspapiere benötigen, sondern darüber hinaus auch noch Arbeitsverträge unterzeichnen müssen.
Künstlername als Glücksfall
Bei der Lösung des Problems spielte der Zufall eine entscheidende Rolle. Vor der Veröffentlichung von »Abgezockt und totgepflegt« entschieden der Verlag und ich, meine Identität zu schützen: Vorankündigungen des Buches gingen unter dem Namen Mathias P. an die Presse. Damals war mir noch nicht bewusst, welchen Vorteil ich hieraus für künftige Recherchen ziehen könnte. Durch die damalige Veröffentlichung des Buches unter dem Pseudonym Mathias P. war es mir jetzt möglich, diesen Namen als Künstlernamen offiziell eintragen zu lassen. So war der Weg frei, Arbeitsverträge als Mathias Peters zu unterzeichnen, ohne dabei Urkundenfälschung zu begehen. Dieser kleine Trick brachte die Anwälte der Gegenseite nach der Veröffentlichung von »Leiharbeit undercover« zur Weißglut.
Kein Mitschwimmen möglich
Unter dem Pseudonym Mathias Peters meldete ich mich bei der Agentur für Arbeit in Gelsenkirchen arbeitssuchend. Mein Ziel war es, alle mir von meinem Fallmanager angebotenen Stellen anzunehmen. Von Freunden hatte ich bereits erfahren, dass es sich dabei meist um Leiharbeitsstellen handeln würde.
Weil aber erstmal gar nichts geschah, besuchte ich einen Bewerbertag im Berufsinformationszentrum, zu dem die Arbeitsagentur einmal im Monat einlädt. Wie bei einer Messe sind dabei die verschiedenen Leiharbeitsfirmen von Adecco bis Randstad mit Informationsständen präsent.
Normalerweise nehmen unzählige Menschen auf der Suche nach Arbeit die kostenlose Möglichkeit wahr, einen der Computer zu benutzen. Doch an jenem Tag waren die Räume nahezu menschenleer. Mich wunderte das sehr – schließlich liegt die offizielle Arbeitslosenzahl in Gelsenkirchen bei 20 Prozent. Meine Hoffnung, in der Bewerbermasse unterzugehen und unauffällig mit ihr zu schwimmen, konnte ich aufgeben.
Aalglatt und gelangweilt
Dafür zog ich das Interesse der in feinstem Zwirn gekleideten Berater auf mich. Ein aalglatter Vertreter der Firma …
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