Normen
Haftet man auch für Zitate?
Wer haftet, wenn in einem Interview falsche Tatsachen behauptet werden? Die Zeitung als »Verbreiter«, meint das Oberlandesgericht Hamburg. Doch die Details der Verbreiterhaftung sind umstritten.
von Endress Wanckel
Die Verbreiterhaftung hat sich ihren Platz erobert in der Geschichte des deutschen Medienrechts: Seit Jahren urteilen die Gerichte, dass nicht nur derjenige, der etwas Falsches behauptet, verklagt werden kann, sondern auch derjenige, der die Falschbehauptung in die Öffentlichkeit trägt – also verbreitet. Trotz dieses Grundsatzes sind die Begründungen und Differenzierungen in den Urteilen nicht einheitlich und widerspruchsfrei. Es gibt daher immer wieder Fälle, die diskussionswürdig sind und öffentliche Aufmerksamkeit verdienen.
Ein solcher Fall ist der Streit Markwort gegen Saarbrücker Zeitung. Focus-Chef Helmut Markwort klagte gegen Passagen eines Interviews der Saarbrücker Zeitung mit Roger Willemsen. Willemsen hatte zu seinem kabarettistischen Bühnenprogramm »Weltgeschichte der Lüge« Rede und Antwort gestanden. Dabei sah sich Markwort unberechtigt als Beispiel eines besonders dreisten Lügners genannt.
Zwei Jahre altes Interview?
Im Interview hieß es auf die Frage »Lügt man heute differenzierter?« zunächst »… Heute wird offen gelogen.« Sodann erfuhren die Leser zu der Frage: »Bringen Sie in Ihrem Programm auch neue Lügen ans Tageslicht?« den Stein des Anstoßes: »…: Wir haben den Ehrgeiz, ein paar Lügen aufzudecken. … Das Focus-Interview, das Helmut Markwort mit Ernst Jünger geführt haben will, war schon zwei Jahre zuvor in der Bunten erschienen.« Nachdem Willemsen aufgrund dieser Interview-Äußerung abgemahnt worden war, bestritt er, die Äußerung wie zitiert getätigt zu haben. Er wisse sehr wohl, dass Markwort das Focus-Interview mit Jünger nicht geführt habe, sondern als Chefredakteur nur verantwortet habe.
Markwort klagte daraufhin gegen die Saarbrücker Zeitung. Die Zivilkammer 24 des Landgerichts Hamburg verurteilte das Blatt, das Interview in der streitigen Passage zukünftig nicht mehr zu veröffentlichen (Urteil vom 29.2.2008, 324 O 998/07). Dabei kam es im Ergebnis nicht darauf an, ob das Interview zutreffend wiedergegeben worden war oder nicht.
»Das Ende des Interviews«
Die Zeitung sei jedenfalls als intellektueller Verbreiter für die Äußerung Willemsens verantwortlich, weil sie sich in keiner Weise von dessen Behauptung distanziert habe. Bei Interviews handele es sich um originär redaktionelle Beiträge, die von der Redaktion maßgeblich beeinflusst würden. Würde man Interviews von der Haftung freistellen, könne dies dazu führen, dass Presseunternehmen allein durch die Wahl der Form des Interviews unwahre Tatsachenbehauptungen sanktionslos verbreiten könnten.
Damit würde das Risiko geschaffen, dass allein durch die Wahl der Interviewform einem Betroffenen die Möglichkeit genommen würde, ein Verbot der Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen durchzusetzen. Eine Haftung für Interviews könne daher ausnahmslos nur dann entfallen, wenn sich das Medium von einer Interviewäußerung deutlich distanziere. An einer derartigen Distanzierung fehle es aber im Fall Markwort/Willemsen.
Nicht nur der Spiegel (Spiegel Online vom 8.5.2008) äußerte unter der Überschrift »Das Ende des Interviews« deutliche Kritik an der Entscheidung, genauer gesagt an deren zu pauschaler Begründung. Denn die Richterschelte wendete sich nicht gegen das Ergebnis im konkreten Fall. Zwar war der Spiegel – wie viele andere Stimmen – der Auffassung, angesichts der Schwere des Vorwurfs hätte man es der Saarbrücker Zeitung durchaus zumuten können, der Sache vor Abdruck des Interviews im Wege der Nachrecherche auf den Grund zu gehen.
Doch die Kritik richtete sich gegen die allzu allgemeinen Haftungsmaßstäbe des Urteils. Nach den Grundsätzen des landgerichtlichen Urteils hätte jede Redaktion ein generelles Problem mit der Veröffentlichung von Interviews, müssten doch alle dort enthaltenen Fakten nachgeprüft werden. Denn eine Beschränkung auf besonders schwerwiegende Punkte enthielt die Urteilsbegründung nicht.
Auch der Hinweis auf die Möglichkeit einer Distanzierung ist für die Praxis kein gangbarer Weg. Denn Distanzierung bedeutet nach herrschender Meinung im Presserecht, dass den Aussagen aus Lesersicht die Möglichkeit ihrer Wahrheit genommen werden muss. Mit generellen Hinweisen darauf, dass Interviews nur die Aussage des Interviewten seien, wäre es somit nicht getan.
Nur bei gravierenden Vorwürfen
Das Hanseatische Oberlandesgericht hat das landgerichtliche Urteil bestätigt (Urteil vom 5.8.2008, Az: 7 U 37/08). Auch die Richter des siebten Senats gelangten zu der Auffassung, dass die Redaktion der Saarbrücker Zeitung für die Verbreitung der Interview-Äußerung haftbar sei. Formal stärkten die Richter dabei ihren Kollegen der ersten Instanz den Rücken und nahmen auf die Begründung des ersten Urteils Bezug.
Aus den weiteren Ausführungen der Urteilsbegründung wird allerdings deutlich, dass die reine Verbreiterhaftung nur bei gravierenden Vorwürfen gilt. Im konkreten Fall werteten die Richter die Äußerung allerdings rechtlich als eigene Behauptung der Zeitung, da diese die Passage »Heute wird offen gelogen« als Überschrift gesetzt und damit ausdrücklich als Beispiel für erlogene Behauptungen besonders hervorgehoben hatte.
Die Zeitung habe durch die Auswahl und die Montage dem Leser gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass in dem Beitrag tatsächliche Beispiele für Lügen offenbart würden und sich das Interview nicht etwa darauf beschränke, welche Vorgänge aus der subjektiven Sicht des Interviewten (Willemsen) als Lügen anzusehen seien.
Mit dieser Begründung, die deutlich differenzierter als noch die erste Instanz auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abstellt, liegt die Hamburger Rechtsprechung auf der Linie des Bundesgerichtshofs (BGH). So rechnet der BGH generell Zitatäußerungen, die aufgrund einer redaktionellen Entscheidung in einem Beitrag aufgenommen werden, den eigenen Behauptungen des Mediums zu und stellt sie rechtlich den eigenen Behauptungen des Autoren gleich. Genau genommen behandelt der Fall Markwort/Saarbrücker Zeitung, so wie ihn das OLG Hamburg gesehen hat, also gar keinen Fall der Verbreiterhaftung.
Beleg für eigene Behauptung?
Die Frage der Verbreiterhaftung für Interviews ist ein umstrittenes Thema. Es gibt weder eine klare gesetzliche Regelung, noch verbindliche Vorgaben des BGH zu der Frage, wann die Inhalte von Interviews vor einer Veröffentlichung auf den Wahrheitsgehalt überprüft werden müssen.
Einerseits gibt es die Auffassung, dass eine rechtliche Verantwortlichkeit für Inhalte von Interviews nur ausnahmsweise bestehen könne, wenn sich die Zeitung die Äußerungen zu eigen gemacht habe. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Redaktion das Interview als Beleg für eigene Behauptungen anführt oder sich aus Lesersicht an die Seite des Interviewten stellt. Diese Auffassung entspricht in der Meinung des OLG Hamburg im Markwort-Fall.
Andererseits wird geltend gemacht, ein Journalist kenne die Äußerungen, die er veröffentlicht und treffe die Entscheidung über deren Abdruck. Die Redaktion müsse daher nach den Grundsätzen der Verbreiterhaftung für den Interviewinhalt einstehen, auch wenn sie sich den Inhalt nicht zu eigen mache. Nur eine deutliche und ernsthafte Distanzierung, für welche standardisierte Formeln nicht ausreichen sollen, könne die Haftung ausnahmsweise entfallen lassen.
Entsprechend unterschiedlich fallen auch die bisherigen Urteile der Gerichte aus. Das Hamburger Ober-andesgericht hatte sich schon im Jahre 2005 der These von der Verbreiterhaftung für Interviews angeschlossen (Urteil vom 25.10.2005, in AfP 2006, 564, 565). Für Presseinterviews gelte die allgemeine Verbreiterhaftung ohne Einschränkungen, weil die Medien in der Lage seien, den Inhalt der Aussagen ihrer Interviewpartner vor deren Publikation zu überprüfen. Wenn das OLG Hamburg diese Ansicht auch auf den Fall Markwort angewendet hätte, wäre die Saarbrücker Zeitung auch dann verurteilt worden, wenn die Reaktion die Aussage nicht durch die Ausgestaltung des Beitrags als eigene Behauptung übernommen hätte.
Der Fall Schwarzer
Das OLG München hält bei Interview-Äußerungen, die sich die Redaktion nicht zu eigen macht, eine Haftung und Prüfungspflicht nur bei schweren Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts für geboten (Urteil vom 12.12.2006, in AfP 2007, 229, 230). Im Fall eines Interviews von Alice Schwarzer in der FAZ führte das Gericht aus: »Nach Auffassung des Senats trifft den Verleger bei Abdruck eines Interviews nur eine eingeschränkte Prüfungspflicht hinsichtlich der vom Interviewpartner aufgestellten Behauptungen.«
Und weiter heißt es: »Wie auch beim Abdruck von Leserbriefen muss eine Überprüfung nur vorgenommen werden, wenn die aufgestellten Behauptungen eine besonders schwere Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten enthalten. Eine solche schwere Beeinträchtigung, wie sie bei beleidigenden, ehrverletzenden Äußerungen gegeben wäre, liegt nicht vor. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich der Verlag (…) die Äußerungen Alice Schwarzers zu eigen gemacht hätte. Die Veröffentlichung des Interviews war damit rechtmäßig.« Schwarzer hatte über die islamische Gesellschaft Milli Görus geäußert, sie trete für vieles ein, was nicht im Grundgesetz, aber in der Scharia stehe, wie zum Beispiel kein Schulsport für Mädchen, kein Sexualkundeunterricht.
Das Landgericht Düsseldorf hatte in einer älteren Entscheidung (AfP 1999, 518, 519) eine noch pressefreundlichere Auffassung vertreten: Schon die ersichtliche Wiedergabe eines Interviews als Interview führe zu einer rechtlichen Distanzierung, was eine Haftung der Presse für die Inhalte regelmäßig ausschließe.
Klagen kann man überall
Bis zu einer abschließenden Klärung dieser Frage durch den BGH als höchste Instanz kommt es also darauf an, vor welchem Gericht geklagt wird. Da jedoch ein Kläger jedes Gericht anrufen kann, in dessen Bezirk die beklagte Publikation bestimmungsgemäß vertrieben wird, ist damit zu rechnen, dass wegen der guten Erfolgsaussichten solche Prozesse bis auf weiteres vermehrt in Hamburg geführt werden, auch wenn der Kläger oder der Verlag in München oder irgendwo anders im Bundesgebiet sitzt.
Umgekehrt müssen Journalisten, Redaktionen und Verlage, die wegen der Verbreitung von Interviews in Anspruch genommen werden, ihre Reaktion in erster Linie davon abhängig machen, vor welchem Gericht geklagt wird oder werden kann. Vor dem Landgericht Düsseldorf wird man sich wenig Sorge machen müssen, solange das Gericht seiner Linie treu bleibt. Bei Fällen vor Münchener Gerichten muss geprüft werden, ob es sich um schwerwiegende Anschuldigungen handelt und ob diese bewiesen werden können. In Hamburg stehen die Chancen hingegen immer schlecht, wenn das Interview falsche Behauptungen enthält.
Aust klagt an
Derartige Überlegungen stellen sich auch in anderen aktuellen Fällen: Im Juni 2008 ging der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner gegen die FAZ wegen einer Passage aus einem Interview mit dem früheren Springer-Chef Jürgen Richter vor, in der es um den Misserfolg beim Briefzusteller Pin ging.
Auch die Stuttgarter Zeitung sah sich im Oktober 2008 einer Abmahnung des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs und RAF-Chronisten Stefan Aust ausgesetzt, nachdem sie ein Interview verbreitet hatte. Dabei ging es um Äußerungen des Generalstaatsanwalts Klaus Pflieger über die RAF-Bücher Austs. Gegen Pflieger persönlich hatte Aust bereits zuvor eine einstweilige Verfügung erwirkt – vor dem Landgericht Hamburg. Neben der Stuttgarter Zeitung ging Aust auch gegen einen anderen Verbreiter der Pfliegerschen Thesen vor: den Radiosender SWR 2.
Dort hatte sich Pflieger in einer Radiodiskussion geäußert. Allerdings hatte auch Aust an der Sendung teilgenommen, was den Fall in einem anderen Licht erscheinen lässt. Denn die Verbreiterhaftung findet nach allgemeiner Auffassung keine Anwendung, wenn ein Medium nur einen »Markt der Meinungen« eröffnet, in dem es die Kontrahenten angemessen zu Wort kommen lässt und so die Öffentlichkeit über den Streitstand informiert.
Überdies hat der BGH schon im Jahre 1976 Livediskussionen in der berühmten Panorama-Entscheidung (BGH in NJW 1976, 1189) von der Verbreiterhaftung ausgenommen, weil die Redaktion nicht wissen kann, welche Äußerungen in solchen Runden getätigt werden und zeitlich keine Möglichkeit der Nachrecherche besteht. Dies gilt aber nur für echte Livesendungen, also solche, die in Echtzeit ausgestrahlt werden.
Die mittlerweile weit verbreitete Sendeform »live on tape« dürfte nicht in die Privilegierung fallen. Denn dann hat die Redaktion Zeit, problematische Äußerungen zu überprüfen und – wenn sie sich als falsch erweisen – zu entfernen.
Ausdrückliche Distanzierung
Zurück zum Fall Markwort: Das OLG Hamburg wollte den Fall trotz seiner grundsätzlichen Bedeutung zum Abschluss bringen und ließ keine Revision zu. Die Saarbrücker Zeitung versucht nun mit einer Beschwerde, den Weg in die dritte Instanz freizukämpfen. Selbst wenn ihr dies gelingt, ist nicht sicher, dass der BGH das Hamburger Urteil kippt oder auch nur neue, pressefreundlichere Kriterien zum Umfang der Verbreiterhaftung formuliert.
Dazu müsste der BGH von der Tendenz vergangener Entscheidungen abweichen. In einer gegen Stern-TV ergangenen Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1996 heißt es zum Beispiel: »Bei der bloßen Übernahme von Tatsachenbehauptungen Dritter durch die Medien ist diesen die Äußerung jedenfalls dann als eigene zuzurechnen, wenn es an einer ausdrücklichen und ernsthaften Distanzierung von den verbreiteten Informationen fehlt.« (BGH in NJW 1997, 1148).
Stern-TV hatte einen Beitrag über angebliche Fehler eines Gynäkologen maßgeblich auf die Vorwürfe seiner Kollegen gestützt. Im Prozess ging es nicht nur um das Verbot der Wiederholung der Vorwürfe, sondern auch um Geld. Die Vorinstanzen hatten dem Gynäkologen 50.000 DM zugesprochen. Der BGH hielt diesen Betrag für zu gering.
Eitel, aber im Recht
Im selben Jahr hatte der BGH zuvor auch bei einem Buch über das Hamburger Rotlichtmilieu (»Der Lohnkiller«) ähnlich entschieden. Im dem Werk wurde aus der polizeilichen Aussage eines Insiders zitiert, der einem hochrangigen Polizeibeamten vorwarf, für Zuhälter gearbeitet zu haben. Der BGH verurteilte den Verlag und den Autor wegen der Wiedergabe dieses Zitats (BGH in NJW 1996, 1131).
Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied in der Vergangenheit auf dieser Linie. Im Streit um des Kanzlers graue Schläfen gegen die Nachrichtenagentur betonten die Verfassungsrichter die journalistische Sorgfaltspflicht bei Interviews (BVerfG in AfP 2003, 539). Die Agentur hatte ein Interview mit einer Imageberaterin geführt, die über den damaligen Bundeskanzler Schröder äußerte: »Es käme seiner Überzeugungskraft zugute, wenn er sich die grauen Schläfen nicht wegtönen würde.«
Der Kanzler dementierte umgehend und ließ DDP die Verbreitung vor den Hamburger Gerichten verbieten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte das Verbot. Die Behauptung stelle die Glaubwürdigkeit des Kanzlers in Frage. Die Agentur hätte die angebliche Haarfärberei vor der Verbreitung überprüfen müssen, »etwa durch eine keineswegs zeitaufwändige Nachfrage«.
Auch wenn das damalige Vorgehen des Kanzlers von vielen als Eitelkeit gedeutet wurde: Bei der Verbreiterhaftung geht es um die Qualität des Journalismus – auch wenn die Wahrheitspflicht Mehrarbeit verursacht.
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