Ostdeutschland
Warum ist der Osten stumm?

In die überregionale Meinungsführerpresse desWestens schafften es nur ganz wenige DDRler. Seit 1991 ist ChristophDieckmann der »Ossi vom Dienst« bei der Zeit. EinErfahrungsbericht.

von Christoph Dieckmann

»Junger Mann, bei was für ‘ner Zeitung arbeiten Sie denn überhaupt?«»Die Zeit«.»Ach, Die Welt«.»Nein, Die Zeit«.»Die gibt‘s doch gar nicht mehr, die ist doch abgewickelt.«»Das war die Neue Zeit, die Tageszeitung der Ost-CDU, die wurde eingestellt.«»Genau, und Sie sind jetzt also von der Welt«.»Die Zeit! Die grööößte deutscheWochenzeitung von ganz Deutschland! Und wissen Sie, wer da der Chefist? Der Bundeskanzler. Helmut Schmidt.«»Ach so? Persönlich? Das ist ja toll! DenHelmut Schmidt haben wir ja immer sehr verehrt, mehr wie den Kohleigentlich damals. Dann sind Sie wohl mehr so SPD?«

Dieser absurde Dialog ist nicht erfunden. Er hat sich, in Variationen,im Osten Deutschlands immer wieder zugetragen, seit ich 1991 zurehrwürdigen Zeit kam. Wie ich dorthin gelangte? Man hatte inHamburg beschlossen, nicht nur über die jüngst erworbenenBundesländer zu schreiben, sondern einen Ostler einzustellen. Ichbin von Hause aus kein Journalist, sondern Theologe und arbeitete zurWendezeit als Öffentlichkeitsreferent beim OstberlinerÖkumenisch-Missionarischen Zentrum. Freilich hatte ich schonmanches publiziert, in DDR-Kirchenzeitungen und im Sonntag, dem Kunst-und Intellektuellenblatt des Kulturbundes, dem staatlicherseits einefreiere Sprache zugestanden wurde.

Über den Sonntag erreichte mich Anfang 1990 eineStipendiaten-Ausschreibung des World Press Institute SaintPaul/Minnesota: Zehn Journalisten aus zehn Ländern dürftenfünf Monate lang die USA bereisen. Ich bewarb mich und wurdewunderbarerweise genommen. Meine Eignung prüften im Auftrag derAmerikaner zwei spätere Kollegen: Dieter Buhl und Ulrich Stock vonder Zeit. Das schuf den Kontakt, dem nach meiner Heimkehr dieAnstellung folgte. Sicher half auch, daß ich weder partei- nochstasikontaminiert war und Hochschullehrer wie Richard Schröder undWolfgang Ullmann hatte.

Meine Herkunft sollte keine Rolle spielen

Die Zeit war ein West-Blatt, durch und durch. IhreDDR-Berichterstattung oblag bis zum Mauerfall weitenteils MarliesMenge, die Künstlerporträts und alltagsgeschichtlicheBetrachtungen schrieb – aus Neigung, nicht nur, weil ihr dieZitadellen der SED-Macht verschlossen blieben. Mir gefiel das. Indieser Tradition arbeitete ich dann selbst als Zeit-Ossi vom Dienst. InHamburg zeigte man sich irritiert, dass ich, statt dieparteiparlamentarische Demokratie abzubilden, lieber vom Widerhall derPolitik in ostdeutschen Lebenswelten erzählte. Fußball,Provinz-Skandale, Klassentreffen hatten bis dato auf den politischenSeiten der Zeit keinen Platz. Und bald hörte ich die Mahnung: Wirmüssen hier eine Zeitung machen, keine Literatur.

Auch meine Herkunft sollte bei der Arbeit keine Rolle spielen. Zusolcher Selbstverleugnung war ich außerstande. Ich schrieb nichtneutral, sondern aus glühender Eifersucht. Ich wünschte,meine Welt zu zeichnen und bekannt zu machen. Im Westen war der Ostenterra incognita. Falls er vorkam, dann meistens reduziert auf Stasi,Doping, Stacheldraht, aktuell bereichert um die allgegenwärtigenNeonazis. Ostleser empfanden das als bösartige Schrumpfung ihrerBiografien. Der Westen hingegen sah sich und seine Geschichtekeinesfalls fragmentarisch, sondern als komplettes, normsetzendesDeutschland. Westbebrillte Ost-Reportagen klangen oft nach»Auslandsjournal«. Peinlichstes Nichtwissen wurdeselbstbewusst publiziert. Zugleich herrschte inaltbundesrepublikanischen Medienzentralen die Erwartung, das Ostvolkmöge sich mit gleicher Begeisterung auf  die»Qualitätsmedien« stürzen wie zu DDR-Zeiten aufKennzeichen D und eingeschmuggelte Exemplare von Spiegel und Stern.Daraus wurde nichts. Warum?

Die Sehnsucht ostdeutscher Journalisten

Glasnost, emanzipierte Öffentlichkeit, war für MillionenOstdeutsche die dringendste Sehnsucht der friedlichen Revolution– auch für Journalisten. Bis heute schwärmen mancheKollegen von ihren damaligen Enthüllungen und Möglichkeiten.Im Herbst 1989 wurde das DDR-Fernsehen spannend, die Ost-Presselesenswert. Neue Zeitungen und Verlage entstanden. BasisDruck verkauftesiebenhunderttausend Exemplare des Mielke-Reports »Ich liebe euchdoch alle!«. Das Wahrheitspathos klang noch 2010 aus dem Titelder Wende-Memoiren von Lothar de Maizière: »Ich will, dassmeine Kinder nicht mehr lügen müssen«.

Allerdings ist »die Wahrheit« nur so lange ein plausiblerSingular, wie man gegen »die Lüge« streitet. Danachdiversifiziert sich »die Wahrheit«, ebenso »dasVolk«, und teilt sich in Parteiungen und Interessen, in Moden undMilieus. Das ist demokratisch; andernfalls würde »dieWahrheit« neuerlich zur zentralgewaltigen Ideologie.Aufklärung, nicht »die Wahrheit«, taugt zumpublizistischen Ideal einer offenen Gesellschaft. Die DDR-Gesellschaftdes Herbstes 1989 war nicht offen, sondern eben erst befreit. IhreAufklärung arbeitete sich an der Vergangenheit ab. Sie wusste, waswar, nicht, was kommen würde. Als am 18. März 1990 überdie Zukunft befunden wurde, wählten winzige 2,9 Prozent derOstdeutschen das Bündnis 90 der Wende-Aktivisten. Fast 50Pro­zent ermächtigten die christdemokratische, von Helmut Kohlgesponserte Allianz für Deutschland. Perspektivisch votierten siedamit für den Beitritt zur Bundesrepublik.

Dieser Beitritt – fast hätte ich Anschluss geschrieben– geschah logischerweise zu den Bedingungen der westdeutschenMehrheitsgesellschaft. Das »Wir-sind-ein-Volk« wurde zuderen Fünftel und im Westen rasch als Last empfunden. Einebankrottes, demoralisiertes Gemeinwesen hängte sich an einintaktes. Der Osten brauchte …

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