Medientheater
Die ganz großen Thematisierer

Giovanni di Lorenzo und Axel Hacke nehmen sich die wirklich großen Themen des Lebens vor: Gerechtigkeit, Tod, Klimawandel. Und Karl-Theodor zu Guttenberg. Rezension einer Bühnenshow aus dem Leipziger Centraltheater.

von Lutz Mükke

Freitagabend, Leipzig, Centraltheater. Auf der Bühne: Giovanni di Lorenzo, Axel Hacke, Thomas Bille. Hacke und di Lorenzo lesen. Bille moderiert. Der Mitteldeutsche Rundfunk hatte die Lesung wie folgt angekündigt: »Ist die Generation der heute 50-Jährigen opportunistisch bis zur Unkenntlichkeit? Diesen Vorwurf wollten Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und der Autor Axel Hacke nicht auf sich sitzen lassen. Also suchten die beiden Freunde in ihren eigenen Biografien nach Antworten«. Heraus kam das Buch »Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist. Eine Suche«. – Das Theater ist voll.

Di Lorenzo ist noch gar nicht auf der Bühne (Zug in Hamburg verpasst), da hantiert Bille schon ausgiebig mit einem anderen Buch herum. In seinen Händen hält er »Vorerst gescheitert«. Vom Cover des Interviewbandes schaut der ungeschminkte und vom Gel befreite Karl-Theodor zu Guttenberg in den Theaterraum. – Die Erwartungen steigen.

Bevor Bühnenmeister Bille den Guttenberg-Skandal aufrollt, wenden sich di Lorenzo und Hacke dem eigentlichen Thema des Abends zu – einem richtig großen. Glaubt man dem Klappentext, ist »Wofür stehst Du?« eine hochrelevante gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Denn die Autoren »beschreiben, welche Werte sie für wichtig halten. Sie suchen nach Antworten in den großen Themenfeldern Politik und Staat, Klimawandel, Gerechtigkeit, Migration und Fremdheit, Angst und Depression, Krankheit und Tod.« Also ein bedeutsames Werk, ein Wachturm wider die Gleichgültigkeit und den »unübersehbaren Rückzug ins Persönliche, einer nachgerade verbissenen, ja verzweifelten Glückssuche im Privaten, der massenhaften Ablehnung gesellschaftlicher Verantwortung«.

Je länger die beiden Mimen jedoch aus eben diesem Buch von der Bühne herab rezitieren, desto stärker drängt sich der Eindruck auf, die pathetische Ankündigung sei … nun, eben Theater: Da sitzen der humorige Unterhaltungsliteratur schreibende, ehemals erfolgreiche Politikjournalist der Süddeutschen Zeitung Axel Hacke zusammen mit seinem früheren Kollegen Giovanni di Lorenzo, dessen Haltung als Zeit-Chefredakteur derzeit höchst umstritten ist, und sie lesen launige Anekdoten aus ihrem persönlichen Erleben vor. Hacke bringt seine Rolle locker mit exzellentem Wortwitz, di Lorenzo kokettiert mit sonorer Märchenonkel-Stimme. Aber was erzählen sie? – Weite Teile sind triviales Figurentheater, das kaum jemand spannend fände, wären die Hauptdarsteller nicht prominent. Di Lorenzo erinnert den Bugatti seines Großvaters; das Gefühl, von seinen Lehrern »fast nie anerkannt« worden zu sein, die Probleme eines pubertär-schüchternen Schülersprechers italienischer Herkunft.

Zwischendurch bemüht sich Bille ausdauernd um das Make-up und jazzt die zu Gehör gebrachten Lebensweisheiten mit gesellschaftskritischen Fragen auf. So zum Beispiel mit der, was man gegen die in Deutschland dramatisch wachsende soziale Ungerechtigkeit und die sich verschlechternden Bildungschancen tun könne. Di Lorenzo empfiehlt seine Hollywood-American-Dream-Lösung: Man müsse eben solche Lebensläufe stärker herausstellen, die es zwar verdammt schwer hatten, es aber trotzdem gegen alle Widrigkeiten geschafft hätten, von ganz unten nach ganz oben aufzusteigen. Hackes Rouge ist nun vollends ab, frei und ehrlich sagt er: Er wisse keine Lösung und habe »alle Hoffnung aufgegeben«.

Offenbar schien den zwei Artisten der Budenzauber selber zu groß. Den Anspruch ihres Buches erklären sie in vorgeschobenen, nebulös-rhetorischen Pirouetten so: Das Private sei eben immer auch politisch. Man wolle keinen »abstrakten Tugendkatalog« aufstellen. Reflexion sei angesagt in Form »einer Art Inventur bisheriger Lebensführung«. – Das Bühnenstück à la di Lorenzo & Hacke ist ein narrativer Guckkasten in ihre privaten Lebensläufe. Die Zuhörer müssen sehen, wie die angekündigte große Gesellschaftsrelevanz mit dem Vorgetragenen zusammenpasst.

Maskenbildner Bille kommt irgendwann nach etwa einer Stunde auf Guttenberg zu sprechen und stellt genau so viele Fragen, dass ihm nicht vorgeworfen werden kann, er habe das »heiße Eisen« nicht angepackt. Der MDR-Journalist versichert dem Theaterpublikum, der Zeit-Chefredakteur habe im Guttenberg-Buch wirklich alle kritischen Fragen gestellt, die gestellt werden konnten. Und auch er selbst, Bille, sei ja zunächst ein großer Verehrer der »Lichtgestalt« Guttenberg gewesen. Es folgt eine Plauderei, während der di Lorenzo zu großer Gestik greift. Ein Comeback von Guttenberg halte er für unwahrscheinlich: »nicht zuletzt wegen dieses Interviews.« – Ein heiliger Moment! Ein großer Moment! Pathos und Mut zur Wirklichkeitskonstruktion: Das Theater bringt Gemeinsamkeiten von di Lorenzo und Guttenberg ans Licht. Und ganz nebenbei schafft es di Lorenzo mit seiner Heldenrolle als Guttenberg-Verhinderer auch, dass das Leipziger Centraltheater seinem Ruf noch ein bisschen gerechter wird.

Ist die Generation der heute 50-Jährigen opportunistisch bis zur Unkenntlichkeit? Angesichts des auf der Bühne gezeigten Varietés beantwortet der Abend diese Frage: Nein, sie ist es nicht. Es ist ganz anders, viel schlimmer: Alles liegt ganz offen. Man erkennt sie. Und wen diese Entblößung nicht beschämt, der stimme ein in den frenetischen Beifall der Theaterbesucher. Und so war’s: Überglücklich und lachend nehmen der eloquent-schüchtern dargestellte Mime di Lorenzo und der wortwitzige Rhetor Hacke im begeisterten Schlussapplaus ein Bad in der Menge. Und Bille versprüht gute Laune auch noch nach dem Schluss. Ein großer Abend! Gute Unterhaltung!*

* Die Veranstaltung vom 9. Dezember 2012 war eine Koproduktion zwischen MDR Figaro, dem Centraltheater Leipzig und der Zeit. Der MDR zeichnete sie auf und sendete eine fast komplette Version – fast, denn heikle Aussagen zum Fall Guttenberg fielen der Dramaturgie zum Opfer und wurden rausgeschnitten.

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