Journalistenpreise
Eine Jury zeigt Nerven

Ein Spiegel-Reporter bekommt den Kisch-Preis und ist ihn gleich wieder los – ein skurriler Vorgang. Doch selten wurde so facettenreich über die Reportage diskutiert wie nach dem Pfister-Eklat.

von Christian Sauer

Mai 2011: In einem befremdlichen Schritt erkennt die Jury des Henri-Nannen-Preises dem Spiegel-Reporter René Pfister einen Preis ab, den sie ihm nur drei Tage zuvor verliehen hat. Das löst eine zunächst ebenso befremdliche Debatte aus: Sie beginnt nämlich als Schuld-Diskussion, geht dann aber ins Hand­werk­liche, von dort ins Grund­sätz­liche. Es be­tei­lig­en sich Reporter aller Couleur, Chefredakteure, Me­di­en­kritiker und Wissenschaftler – ein seltener Glücks­fall. Und es lohnt sich, Ergebnisse dieser denkwürdigen Reportage-Debatte festzuhalten. Dabei helfen sieben Leitfragen.

Frage eins: Hat Pfister falsch berichtet und sein Publikum schuldhaft getäuscht?

Kaum hat sich die erste Hysterie gelegt, sind sich zumindest die Fachleute einig: Augenschein ist nicht alles bei der Reportage, die Technik der szenischen Rekonstruktion aus Kolportage-Material ist sinnvoll und legitim. Oft geht es nicht ohne sie, etwa bei historischen Themen, Kriminalfällen oder Hinterzimmer-Entscheidungen in der Politik. Ein Reporter muss nicht überall selbst dabei gewesen sein. Mit Rekonstruktion sind zudem schon viele Journalistenpreise gewonnen worden.

Sicher, der Text hätte gewonnen, wenn Pfister selbst in Seehofers Hobbykeller gewesen wäre. Was hätte ein Reporter wie er aus der persönlichen Anschauung gemacht! Man merkt dem Texteinstieg ja an, wie Pfister die wenigen recherchierten Details zueinander zwingt und sich zugleich um eine sichere Mitteldistanz bemüht. Die Szene bleibt blutleer. So sehr, dass man sich fragt, ob wirklich niemand in der Jury hier auf eine Rekonstruktion getippt hat. Dennoch: Es geht in diesem Fall um schlechte Recherche-Organisation, um einen ästhetischen Mangel, aber nicht um einen handwerklichen Fehler.

Frage zwei: Hätte Pfister seine Leser auf die Rekonstruktion hinweisen müssen?

Auch hier entdecken die meisten Fachleute keinen schweren Fehler. Sicher, Pfister hätte sinngemäß besser geschrieben: »So geht es zu am Stellpult, erzählt See­hofer …« Aber das hätte den Text Dynamik gekostet und am Nimbus des Reporters gekratzt. Genau deshalb hätten wohl nicht wenige Kollegen den erklärenden Zusatz weggelassen. Rasch finden sich Beispiele von anderen Autoren, die es ebenso gemacht haben. Ein Fehler zwar, aber einer, über den sich sonst niemand erregt, sofern er überhaupt bemerkt wird. Erst der Preis macht aus dem Lapsus einen schlimmen Fehler. Das aber kann man dem Autor nur in einem fragwürdigen Zirkelschluss vorwerfen.

Dennoch, Pfister hätte die Kolportage kennzeichnen sollen. Darauf weisen gerade erfahrene Redigier-Handwerker wie Stefan Willeke von der Zeit und Cordt Schnibben vom Spiegel hin (der den Text vor Veröffentlichung nicht gesehen hatte). Tenor bei den Reportageprofis: Besser recherchieren! Oder zu den Schwächen des Materials stehen. Dazwischen gibt es keine überzeugenden Lösungen.

Frage drei: Muss die Jury jetzt zurücktreten?

Wer jemals in einer Jury gesessen hat, weiß, dass eine Preisvergabe nicht abschließend begründbar ist. Die Jury einigt sich eben. Gut, wenn niemand nachfragt, wie und warum.

Sie ist kein verlässliches Schiedsgericht, eher eine Kurzzeit-WG gestresster Medienmacher, die den Spülplan festlegen müssen. Dabei bauen Jurys auch mal Mist, zumal ihre Mitglieder oft nur noch wenig mit der praktischen Redaktionsarbeit zu tun haben. Die Nannen-Jury tritt nicht zurück, vielmehr werden die Preis-Stifter sie wie jedes Jahr umbesetzen. Die diesjährigen Mitglieder – genauer: sieben von elf – haben nicht etwa ihre Legitimation für weitere Einsätze verspielt, wohl aber das Renommee des Preises beschädigt. Denn der Eindruck bleibt: Die Jurymehrheit hat entweder vor der Vergabe nicht genau genug gelesen oder hinterher die Nerven verloren.

Frage vier: Welchen Sinn ergibt der Nannen-Preis?

Der Nannen-Preis, dessen Teil der Kisch-Preis heute ist, hat einen noch schlechteren Leumund als der alte Kisch-Preis. Das liegt zum Teil an der Gala, zu der seine Verleihung gemacht wurde. Ein solcher Print-Bambi ist nicht jedermanns Sache. Andererseits: Die Preisverleihung ist eine Inszenierung, die auch der Selbstvergewisserung einer verunsicherten Branche dient. Es geht also um Gefühle. Hier Nüchternheit zu verlangen wäre widersinnig.

Schwerer wiegt der Vorwurf, die Jury pflege eine Art Preisträger-Inzucht, die Auszeichnungen würden wie ein angestammter Besitz zwischen den Redaktionen von Spiegel, Stern, Zeit und Geo hin- und hergeschoben.

Nun sitzen zum einen auch starke Vertreter aus anderen Redaktionen in der Jury, die ein Wort mitreden. Außerdem arbeiten in den Hamburger Redaktionen ambitionierte Reporter unter sehr guten Bedingungen. Dass sie häufig gute Texte schreiben und Chef­redakteure für ihre Stars kämpfen, ver­­wun­dert nicht. Wenn man einmal von den ärgerlichen Nach-Nomi­nierungen der vergangenen Jahre und der Pfister-Panik absieht, leisten Jury und Vorjury ordentliche Arbeit. Allerdings: Eine gewisse Gleichförmigkeit in Stil und Anlage weisen die prämierten Texte schon auf. Man wünschte sich auch mal einen unbekannten Autor mit einem weniger mainstreamigen Stück auf dem Podest. Einen, der etwas gewagt hat.

Insgesamt ist der Nannen-Preis nicht so bedeutend, wie es vielen scheint, aber auch nicht so verkommen wie sein Ruf. Gut, dass es – vor allem mit dem Reporterpreis des Reporter-Forums – eine agile Konkurrenz gibt. Dessen Jurysitzungen finden öffentlich statt. Die Nannen-Jury könnte viel für die Kultur der Reportage tun, wenn sie es ebenso hielte.

Frage fünf: War es eigentlich eine Re­portage?

Je länger die Fachwelt auf Pfisters Text sah, desto mehr …

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