Nachrichtenkluft
Über die Wa(h)re Nachricht
Während im Süden Nachrichten gesellschaftliche Debatten rasant vorantreiben, scheinen Medienmacher der westlichen Welt eher Besitzstände zu wahren – und verkennen die Lage. Ein Essay.
von Gemma Pörzgen
Die Zeitschrift Landlust gilt in Deutschland als die publizistische Erfolgsstory der letzten Jahre. Seit das Wohlfühl-Magazin 2005 erstmals erschien, ist die Auflage konstant gestiegen und bei sagenhaften 800.000 Stück angelangt. Das Konzept des Hochglanzmagazins ist so erfolgreich, dass es zahlreiche Nachahmer findet. Längst liegen auch Liebes Land, Landidee oder Landleben in den Zeitschriftenläden. Der Norddeutsche Rundfunk widmet sich demnächst in »Landlust TV« am Sonntagabend 90 Minuten lang den schönsten Seiten des norddeutschen Landlebens.
Diese Art Publizistik nennt die Frankfurter Rundschau treffend den »behaglichen Gegenpol zur Globalisierung«. Sie sei nur eines der Symptome dafür, dass in einer zunehmend komplizierten Welt deutsche Medien ihren Lesern und Zuschauern gerne vorgaukeln, die Wohlstandsinsel Bundesrepublik bliebe von den Krisen dieser Welt unbeschadet.
Der Rückgriff auf die scheinbare Idylle verträgt sich allerdings wenig mit den rasanten Veränderungen unserer Gesellschaft. Bietet der Rückzug eines großen Bevölkerungsteils ins Private letztlich wirklich mehr Halt und Sicherheit?
Auch außerhalb der bunten Illustrierten-Welt wirkt das Landlust-Virus ansteckend und kann als Symptom einer mittlerweile mehr als zwanzigjährigen Entwicklung gelten: Medial ist es seichter, boulevardiger, unpolitischer, merkantiler geworden. Selbst politische Redaktionen fragen komplizierte Zusammenhänge heute weniger nach. »Möglichst simpel« gilt immer häufiger als journalistisches Erfolgsrezept. Da finden EU-Themen in Online-Medien kaum statt, weil sie sich nun mal »schlecht klicken lassen«. Auslandsthemen gelten im Fernsehen als echte Quotenkiller. Deutsche Rüstungsexporte oder sicherheitspolitische Themen werden selten tiefschürfend recherchiert, gelten selbst für Zeitungen als sperrig. Den Afghanistan-Krieg, in dem Bundeswehrsoldaten kämpfen, glauben deutsche Medienhäuser sogar journalistisch begleiten zu können, ohne auch nur einen ständigen Korrespondenten ins Land zu entsenden.
Erstaunlicherweise glauben Chefredakteure und anderes Redaktionspersonal genau zu wissen, was ihre Leser, Zuschauer oder Zuhörer zu erfahren wünschen und was nicht. Dem Rezipienten wird immer weniger zugemutet. Das Gesamtniveau sinkt merklich. Dabei ist kritischer, unabhängiger Journalismus in einer funktionierenden Demokratie unverzichtbar. Die »Vierte Gewalt« wird in Sonntagsreden auch immer wieder gern als notwendiger Bestandteil der Gewaltenteilung und Pressefreiheit bejubelt. Doch viele Journalisten in Westeuropa glauben allen Ernstes, im digitalen Zeitalter sei die »Nachricht« wertlos geworden. Andere warnen, die Zukunft seriöser politischer Berichterstattung sei gefährdet.
Themen erleben eine Inflation, die von den Medien selbst inszeniert werden. Jüngstes Beispiel ist das Interview-Buch des Zeit-Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo mit dem zurückgetretenen Politiker Karl-Theodor zu Guttenberg. Trotz fehlender Relevanz avancierte es zum Aufmacher der Zeit und füllte vier Seiten. Alle Leitmedien der Republik beschäftigten sich mit dem Thema. Interessanterweise löste dieser Fehlgriff bei der bildungsbürgerlichen Leserschaft einen Sturm der Empörung aus, der darauf hindeutet, dass zumindest die gehobene Zeit-Leserschaft politisches Marketing von Journalismus zu unterscheiden vermag. Jahrzehntelang hatten Pressefreiheit und Journalismus made in Germany eine Art Vorbildcharakter, trafen deutsche Journalisten mit russischen, kenianischen oder algerischen Kollegen zusammen. Wer heute allerdings mit Berufskollegen aus anderen Teilen der Welt über Journalismus spricht, findet sich oft längst auf Augenhöhe wieder.
Das spricht zum einen für die Geschwindigkeit, in der sich Pressefreiheit und Journalismus in vielen Ländern der Welt in den vergangenen Jahren zum Positiven entwickelt haben. Zum anderen ist es aber auch Ausdruck der skizzierten Entwicklungen bei uns: Die Lust am freien Wort und die Vielfalt an politischem Journalismus ist in vielen Redaktionen eingeschlafen und weicht einer saturierten Besitzstandswahrung und ökonomischen Prämissen. Ganze Redaktionen wie bei der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung werden zusammengelegt, die Pressekonzentration steigt, der Dudelfunk gewinnt an Boden. Sinkende Anzeigenerlöse und Auflagenschwund treiben Medienhäuser ratlos um, wie sie in Zukunft das herkömmliche Geschäftsmodell ihrer Blätter neu ausrichten sollen. Die Verdrängung etablierter Medien durch das Internet verunsichert die Branche und setzt sie einem Kostendruck aus, der dringend notwenige Investitionen in guten Journalismus verhindert. Online-Ableger so wichtiger Leitmedien wie Spiegel oder Stern bleiben in ihrem intellektuellen Niveau weit unter dem der Orginalmarken. Man nähert sich eher dem Boulevard als der politischen Analyse. Die Innovationskraft im Internet erlahmt. Tabuthemen, Selbstzensur und Anpassung nehmen in deutschen Redaktionen in dem Maße zu, wie Arbeitsplätze für Journalisten unsicherer werden. Die Entlassungswellen der letzten Jahre spülten viele Journalisten aus ihrem Beruf, vergeblich die Suche nach Möglichkeiten, sich weiter relevanter Themen publizistisch zu bemächtigen. Der Einfluss von Lobbyismus und politischem Agenda-Setting jedoch wächst. Der Wechsel in die PR wird massenhaft gang und gäbe, selbst Regierungssprecher werden hierzulande Intendanten und einflussreiche Journalisten Regierungssprecher mit Rückkehrrecht.
Gegenläufige Tendenzen sind hingegen in Ländern des Südens zu erkennen. Im zurückliegenden Jahr machten die arabischen Revolutionen deutlich, was massenhaft kommunizierte Nachrichten und politischer Journalismus zu verändern in der Lage sind. In den arabischen Staaten hat dazu maßgeblich der Nachrichtensender Al Jazeera beigetragen, der zur gängigen eurozentrierten oder westlichen Sicht auf die Welt eine andere Perspektive hinzugefügt hat. Anfangs übrigens gegen starke Widerstände insbesondere der USA. Ein ähnlich erfolgreiches kulturräumiges Medienprojekt hat Europa nicht zu bieten. Da ist weit und breit nichts zu sehen von einem populären, grenzüberschreitenden Sender, der mit engagierter Berichterstattung und dem Mut zur Kontroverse professionelle Politikberichterstattung über internationale Themen anbietet. Der Nahost-Experte Michael Lüders spricht zu Recht davon, dass Al Jazeera bei den arabischen Revolutionen als deren »Verstärker« gewirkt habe. Er schildert, wie aufgrund dieser neuen Konkurrenz auch staatliche arabische Medien und das politische System gezwungen sind, sich zu öffnen. Seit Al Jazeera auf Englisch sendet, entfaltet der von Qatar finanzierte Sender zunehmend auch globale Strahlkraft.
Es ist vor allem die Perspektive »von unten«, die den Nerv arabischer Zuschauer trifft und »den Sender zum Meinungsführer in der arabischen Welt« machte, schreibt Lüders in seinem jüngsten Buch »Tage des Zorns« und hebt auch den Unterschied zur westlichen Berichterstattung hervor: Westliche Journalisten blieben weit ab vom eigentlichen Geschehen und nehmen die Auseinandersetzungen häufig nur embedded wahr. Al Jazeera dagegen baut auch User Generated Content bereits (auch notgedrungen) weit professioneller in die journalistische Recherche und in seine Berichterstattung ein: Nachrichten ägyptischer Demonstranten, gesendete Handy-Aufnahmen oder Vernetzungen zwischen Journalisten und Bloggern sind mittlerweile Bestandteil des Arbeitsprozesses.
Der Umgang mit Twitter und Facebook zeigt, dass Journalisten und Netzaktivisten in Ländern wie Ägypten, aber auch in Russland oder Usbekistan schnell erkannt haben, dass sich ihnen ganz neue Möglichkeiten bieten, die Medienkontrolle ihrer Regierungen zu unterlaufen. Die globale Vernetzung ermöglicht dabei politische Schlagkraft über Grenzen hinweg. Hintergründiger Politik-Journalismus kann in »Ländern des Südens« enorme Diskurse auslösen, während in westlichen Gesellschaften das Bewusstsein für den hohen Wert politischer »Nachrichten« verloren zu gehen scheint. Journalisten in Transitionsstaaten nehmen einiges dafür in Kauf, um an diesem gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben. Häufige Motivation: Sie wollen ihre Welt gerechter machen. – Ein Rollenbild, das sich im Westen immer seltener findet.
Auf einer Konferenz in Stockholm schilderte die palästinensische Journalistin und Lateinamerika-Korrespondentin von Al Jazeera, Dima Khatib, wie sie zu Beginn der Ereignisse in Tunesien einige Wochen Urlaub einreichte, um sich vom normalen Berufsalltag völlig zurückzuziehen und vom Schreibtisch aus die Ereignisse twitternd zu begleiten. Die umtriebige Journalistin, die aus Syrien stammt, hat heute mehr als 70.000 Follower, weil sie mit profunder Kenntnis arabische Quellen bewertete und über ihre Meldungen maßgeblich zum Informationsfluss während der Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien beitrug. Sie ist nur eine der journalistischen Akteure, die mit Hilfe der neuen Medien daran mitwirkten, die Nachrichtenlage während der historischen Umbrüche klarer zu machen und zu dirigieren. Khatib unterscheidet jedoch zwischen ihrer »objektiven« journalistischen Tätigkeit für Al Jazeera und ihren »Tweets«, mit denen sie bewusst als engagierte Bürgerin agiert und ihre journalistischen Kenntnisse für die arabische Revolution einsetzte.
In den arabischen Staaten, in Russland, China oder Usbekistan sind engagierte Journalisten bereit, mit den Mächtigen in Konflikt zu treten. Solche Persönlichkeiten werden im Westen zwar immer wieder gerne mit Preisen bedacht und in ihrem Wirken gewürdigt. Aber ihr Beispiel bringt deutsche Journalisten nicht dazu, ihre eigene Rolle in der sich wandelnden globalen Gesellschaft neu zu reflektieren. Häufig wird so getan, als ginge es heute allein darum, sich den neuen technisch-digitalen Herausforderungen zu stellen. Die Veränderungen provozierten bei etablierten Journalisten jedoch lediglich »einen bemerkenswerten Unwillen, sich auf Neues einzulassen«, beklagt der SZ-online-Chefredakteur Stefan Plöchinger. Hinzu kommt: In Deutschland wird vor allem dem Mantra des verstorbenen Fernsehjournalisten Hans-Joachim Friedrichs gefolgt: »Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.« Dieser Leitspruch verpflichtet Journalisten zu einer Unabhängigkeit, die scheinbar Objektivität zu sichern schien. Fraglich bleibt, ob dieser Satz angesichts der großen politischen Herausforderungen in der globalisierten Welt überhaupt noch zeitgemäß ist. Dient das Bonmot hierzulande nicht eher als Ausrede dafür, dass Journalisten bei ihrer Arbeit einen verbreiteten Zynismus pflegen und es an eigener Haltung, politischer Verantwortung und Leidenschaft fehlen lassen?
Die Branche diskutiert heftig die Frage funktionierender Geschäftsmodelle, arbeitet sich am aufgebauschten Konflikt zwischen Bloggern und Journalisten ab, aber weicht einer ernsthaften Debatte darüber aus, welche Rolle Journalisten in einer zunehmend unter Druck geratenen Demokratie spielen müssen, um diese zu erhalten. Gern werfen westliche Journalisten einen wohlwollenden Blick auf die »unfreie Welt« und analysieren, welche Rolle Pressefreiheit, Journalismus, Youtube, Twitter und Co. dort spielen. Im Ausland gebärden sie sich als Missionare der Demokratie. Und zu Hause?
Plöchinger schreibt in seinem Essay »Lehren aus der Revolution«: »Journalismus wird gerade neu erfunden in dem Sinne, dass das neue digitale Multimedium allen anderen Medien veränderte Aufgaben zuweist«. Dabei könnte es sich lohnen, den Blick stärker darauf zu richten, wie Journalisten in Ägypten, Tunesien und anderswo das nutzen, um relevante Informationen unter die Leute zu bringen und eine Demokratisierung ihrer Gesellschaften zu bewirken. Auch Europa und die Bundesrepublik könnten mit der gewandelten Weltwirtschaftslage, der Überalterung ihrer Gesellschaften, der Ressourcenknappheit, den Energieproblemen oder der zunehmenden Militarisierung des Westens schnell vor einem Demokratie-Test stehen, dem die bisherige Wohlstandsinsel nie ausgesetzt war. Der Journalismus ist auf seine Rolle in einem solchen Szenario kaum vorbereitet. Vielleicht hilft, was Plöchinger schreibt: »Es hilft, die Lage der Medien wie ein Puzzle zu sehen, dessen Teile man neu zusammenlegen muss. Fangen wir an.«
Kommentar hinterlassen