Gerichtsberichterstattung
Der Sündenbock
Alice Schwarzer glänzt in ihrer Friedrichsen-Kritik mit Unkenntnis der Materie. Doch sie macht auf einen realen Missstand in der Strafverfolgung aufmerksam, findet ein altgedienter Gerichtsreporter.
von Norbert Leppert
Folgt man der polizeilichen Kriminalstatistik, werden in der Bundesrepublik jährlich rund 20.000 Fälle von Kindesmissbrauch zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist nach Ansicht von Experten enorm hoch und liegt möglicherweise bei 200.000 Delikten. Lediglich in etwa 2.000 Fällen kommt es zur Anklage. Für die Strafverfolgung ein klägliches Ergebnis.
90 Prozent der Beschuldigten bestreiten den Tatvorwurf, und wenn sie damit durchkommen, verdanken sie es in der Regel den Graufeldern um das Tatumfeld, das die Ermittler nicht mit der erforderlichen Beweiskraft aufhellen können. Polizei und Justiz sind faktisch hilflos.
Anklagen brechen krachend zusammen
Emma mit ihrer engagierten Herausgeberin Alice Schwarzer wäre nicht Emma, wenn sie wegen der mangelhaften Strafverfolgung nicht aufs Äußerste besorgt sein würde. Seit Jahren schon brechen den Staatsanwaltschaften in spektakulären Mammut-Strafverfahren um sexuellen Kindesmissbrauch – der Montessori-Prozess in Münster und die drei Wormser Prozesse im Laufe der 90er Jahre, zuletzt der Pascal-Prozess in Saarbrücken – krachend die Anklagen zusammen. Reihenweise hagelt es Freisprüche, und die Anklagebehörden, Polizei, Jugendämter und Kinderschutzorganisationen müssen sich schludrige Ermittlungsarbeit, Übereifer und suggestive Befragungen vorwerfen lassen.
Aber auch die Gerichte können sich schwerlich die Hände in Unschuld waschen. Ob eine Anklage zugelassen wird oder nicht, entscheiden nicht Staatsanwälte, sondern Richter – nach der Maßgabe, wie wahrscheinlich im vorgelegten Fall eine Verurteilung ist. Und wie die Ankläger wissen auch die Richter, worauf es im Prozess um Kindesmissbrauch zentral ankommt: Ob die Aussage des Kindes glaubhaft ist oder eben nur das Ergebnis einer Manipulation, die von interessierter Seite betrieben wurde. Besteht Verdacht, dass Letzteres der Fall ist, darf die Hauptverhandlung gar nicht erst stattfinden. Womit dem Kind ebenso wie den Beschuldigten viel Pein erspart würde.
Originell wie immer
Auf der Suche nach den Ursachen der Freisprüche präsentiert Emma – originell wie immer – als die eigentlich Verantwortliche den Spiegel und seine Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen. Der Vorwurf: Mit ihrer Art der Berichterstattung, die sich einseitig den Interessen der Angeklagten widme und die Opferseite sträflich vernachlässige, schwinge sich Gisela Friedrichsen selbstherrlich zur »Richterin der Richter« auf und erzeuge einen solchen medialen Druck, dass Gerichte nicht mehr im Namen des Volkes Recht sprechen, sondern Freisprüche »im Namen des Spiegel« verkünden. Vorwürfe, wie man sie gegen eine renommierte Journalistin schwerer wohl kaum erheben kann – und das auch noch in Form öffentlicher Kollegenschelte.
Kritik setzt Kenntnis voraus
Doch die von Emma abgefeuerte Breitseite erweist sich als Rohrkrepierer. Kritik setzt Kenntnis voraus, und soweit es Aufgabe und Praxis der Gerichtsberichterstattung betrifft, offenbart die Journalistin Schwarzer beklagenswerte Defizite. Selbst ein alter Hase der Justizbeobachtung, der im Fall Pascal überhaupt nicht mit der Ansicht von Gisela Friedrichsen übereinstimmt, wird der Spiegel-Reporterin Grenzüberschreitungen im Bereich des journalistisch Erlaubten vorwerfen können.
Mangelnde Präsenz als Totschlag-Argument
Dass die Reporterin nicht an sämtlichen Verhandlungstagen präsent war, ist ein beliebtes Totschlag-Argument (Schwarzer war übrigens an keinem Tag im Gerichtssaal und gibt sich doch als Kennerin des Falles aus). Damit operiert erfahrungsgemäß gern die Justiz, um Kritiker zu disqualifizieren. Alles, was im Prozess rechtlich von Bedeutung ist, kommt spätestens in den Plädoyers zur Sprache.
Mal abgesehen davon, dass kein überregionaler Reporter über Arbeitsbedingungen verfügt, die es ihm erlauben, in einem Prozess mit mehr als 100 Verhandlungstagen regelmäßig die Pressebank zu drücken. Manche lösen das Problem, indem sie sich von zuverlässigen Kollegen vor Ort informieren lassen.
Andere besorgen sich Verhandlungsprotokolle, zum Beispiel über Rechtsanwälte. Soweit Gisela Friedrichsen diesen Weg genommen hat, kann daraus allein kein Vorwurf der Hofberichterstattung erhoben werden. Gerichtsreporter holen sich ihre Informationen auch von Staatsanwälten, ohne dass sie zu deren Sprachrohr werden.
Auch dass Journalisten die Gelegenheit nutzen, sich über Verteidiger Kopien von Akten zu besorgen, ist in der Gerichtsberichterstattung üblich. Daraus den Verdacht der Parteilichkeit zu konstruieren, ist so absurd wie der Vorwurf, ein Gerichtsvorsitzender wäre korrupt, weil er in seinem Dienstzimmer einen Verteidiger empfängt – etwa wegen Terminabsprache.
Bunte, freie Vögel
Gerichtsreporter sind im Journalismus – Alice Schwarzer sollte es wissen – eine besondere Spezies. Richtern erscheinen sie wie bunte Vögel, die von Gerichtssaal zu Gerichtssaal hüpfen, immer auf der Suche nach Futter, sprich: Lesestoff. Ungebundener als die Kollegen in der Redaktion, arbeiten Gerichtsreporter eher wie freie Autoren – was den Reiz des Jobs ausmacht, aber auch erhöhte Verantwortung mit sich bringt sowie Eigeninitiative und ein gehöriges Maß an Fachkenntnis voraussetzt.
Gisela Friedrichsen ist fraglos die prominenteste Gerichtsreporterin Deutschlands. Als Nachfolgerin des legendären Gerhard Mauz, der sich 1990 in den Ruhestand verabschiedete – und zwölf Jahre später verstarb – hat sie zahlreiche Justizaffären aufgedeckt, die ohne ihren hartnäckigen Einsatz kaum ans Licht gekommen wären. Sie ist eine exzellente Schreiberin und zugleich Vertreterin des klassisch investigativen Journalismus. Mit Spürsinn und Ausdauer geht sie bei ihren Recherchen eigene, mitunter steinige Wege.
Analyse plus Atmosphäre
Freilich gibt es in der Gerichtsberichterstattung unter-schiedliche Formen. Vom Berichterstatter einer Nach-richten-agentur oder der lokalen Tageszeitung wird Schnelligkeit und eine neutrale Wiedergabe des Prozessverlaufs mit vielen Zitaten verlangt; Kommentare innerhalb dieser Stilform verbieten sich. Wer so verfährt, ist im Gerichtssaal ein gern gesehener Gast bei allen Prozessbeteiligten.
Wöchentlich erscheinende Blätter, aber auch überregionale Tageszeitungen wollen mehr, nämlich die kritische Gerichtsreportage, das Feature. Darin werden weitergehende Fragen berührt: Welche Vorgeschichte hat der Prozess? Wie sind einzelne Verfahrensbeteiligte einzuschätzen? Hat der Staatsanwalt sauber ermittelt oder steht seine Anklage auf wackligen Füßen? Was sind die Beschuldigten für Menschen? Werden sie von ihren Anwälten engagiert vertreten oder haben sie einen müde wirkenden Pflichtverteidiger an ihrer Seite? Sind die Zeugen um präzise Angaben bemüht oder nehmen sie es mit der Wahrheit nicht so genau? Wirkt der Richter unvoreingenommen oder lässt der Gang seiner Beweisaufnahme darauf schließen, dass er sich längst sein Urteil gebildet hat?
In dieser Darstellungsform ist es dem Reporter erlaubt, kommentierende Elemente mit Stimmungsbildern zu verknüpfen, Argument und Analyse mit Atmosphärischem zu untermauern. Alle großen Gerichtsreporter haben so geschrieben: Paul Schlesinger, der als Sling bekannt wurde, Kurt Tucholsky, Gabriele Tergit, Gerhart Hermann Mostar und natürlich Gerhard Mauz.
Berichte beeinflussen die Atmosphäre
In heiß umkämpften Prozessen wird regelmäßig die Sorge aktualisiert, dass Gerichtsberichte die richterliche Unabhängigkeit gefährden. Unbestritten ist, dass Beiträge aus laufenden Verfahren die Atmosphäre im Gerichtssaal ebenso beeinflussen können wie einzelne Prozessbeteiligte. In diesem Punkt ist Alice Schwarzer zuzustimmen.
Was sie allerdings übersieht: Es ist ja nicht nur Frau Friedrichsen allein, die ihre Auffassung kundtut. Kontrovers zu ihr äußern sich weitere Reporter mit ihren Beiträgen und nehmen ebenfalls Einfluss.
Man nennt es Meinungsvielfalt, und diese herzustellen ist Aufgabe der Presse. Als Hilfsbeamte der Justiz aufzutreten und den Mund zu halten, bis das hohe Gericht seinen Spruch verkündet hat, ist dagegen nicht unsere Aufgabe. Strafprozesse sind öffentlich. Folglich darf die Öffentlichkeit erwarten, dass wir unserer Informations- und Kontrollaufgabe auch gegenüber der Justiz nachkommen.
Richter von heute haben damit auch kein Problem. Und wer den einen und anderen Richter privat kennt, weiß auch, dass ihn bei seiner Urteilsfindung weder der Spiegel, Bild oder auch Emma bestimmen können, sondern allenfalls die liebe, treusorgende Ehefrau.
Das Problem liegt woanders
Mit dem letzten Akt im Fall Pascal, der Revision beim Bundesgerichtshof, beschäftigen sich Emma und der Spiegel nur am Rande. Die Freisprüche wurden bestätigt, sind also rechtskräftig (Aktenzeichen: StrR 301/08). Die Begründung wirkt lapidar, entspricht jedoch höchstrichterlichem Standard. Danach ist der Tatrichter – also das Landgericht Saarbrücken – frei in seiner Beweiswürdigung und entscheidet nach richterlicher Überzeugung.
Aber die weiteren Ausführungen des BGH sind eine Kapitulationserklärung. »Das Ergebnis ist unbefriedigend, auch für die Richter selbst«, bekennt die Vorsitzende Richterin Ingeborg Tepperwien. Und fügt hinzu, als könnte es ein Trost sein: »Es gibt Sachverhalte, die mit den Mitteln der Justiz nicht aufgeklärt werden können.« Alarmierender kann auf ein Problem von höchster Stelle nicht hingewiesen werden.
So ist an die Adresse von Alice Schwarzer zu sagen: Statt Medienkriege zu führen, sollten Journalisten den zentralen Missstand zum Thema machen, der in Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs einer effizienten Strafverfolgung im Wege steht: Wie ist das Problem von Kinderaussagen zu lösen, die gerichtsfest sind und nicht zum Zankapfel von Anklägern, Verteidigern, Gutachtern und Gegengutachtern werden? Was ist zu tun, um im Prozess gar nicht erst Zweifel aufkommen zu lassen, ob ein Kind womöglich nur das ausgesagt hat, was von interessierter Seite hineingefragt wurde? Wie erreichen wir, dass ein Kind so authentisch wie möglich zum Ausdruck bringt, was ihm tatsächlich widerfahren ist? Denn es ist gesicherte Erkenntnis der Rechtspsychologie, dass Kinder nur schwer trennen können zwischen der Erinnerung an real Erlebtes und dem durch Befragungen Suggerierten.
Neue Modelle der Zeugenbefragung
Weit entfernt von Patentlösungen beginnen Praktiker der Strafverfolgung, die sich mit der Kapitulationserklärung des BGH nicht abfinden wollen, nach neuen Wegen zu suchen.
Dabei verdient ein Modell der Befragung besondere Beachtung. Demnach sollte es ein auf Jugendschutz spezialisierter Richter sein, der das Kind – sobald der geringste Verdacht von Missbrauch auftaucht – als erster befragt und die Vernehmung per Video aufgezeichnet wird. Je nach Verdachtslage kann der Richter auch weitere Zeugen hören und objektive Tatumstände abklären. Ob dann nach Abschluss seiner Ermittlungen Anklage erhoben wird, bestimmt der Richter nicht selbst, sondern wie bisher die Staatsanwaltschaft. Aber der Richter wäre Zeuge. Und mit Verlaub wohl einer der wichtigsten.
Eine derartige Verfahrensweise wäre freilich ohne neue Gesetze nicht zu praktizieren. Darum hätten sich also Politik und Parlament zu kümmern. Jedenfalls wäre es nicht die primäre Aufgabe von Journalisten.
Doch Journalisten, die von der Aktualität leben, dürfen zufrieden sein, wenn ihre Beiträge nicht in den unendlichen Sphären des Vergessens verloren gehen, sondern Öffentlichkeit mobilisieren und Veränderungen bewirken. Dazu haben Gisela Friedrichsen und Alice Schwarzer – so kontrovers ihre Artikel ausfallen – gemeinsam beigetragen.
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