Berlin
Außen vor statt mittendrin
Viele Regionalzeitungen ziehen ihre Berlin-Korrespondentenab und begnügen sich mit der Rolle des Zweitverwerters vonInformationen. Beginn der Selbstentmündigung? Ein Essay mitspitzer Feder.
von Guido Heinen
Auf den ersten Blick ist alles gut im deutschen Journalismus.Zumindest was die Kapazitäten betrifft. Mehr als 50.000hauptberufliche Journalisten soll es geben. Im politischen BrennpunktBerlin sind es schätzungsweise 2.000. Gut 900 Mitgliederzählt die Bundespressekonferenz, 150 mehr als noch vor 15 Jahren.
Doch schon bei dieser Zahl darf man stutzen: Eine Steigerung um 20Prozent? Das hört sich gewaltig an – und ist in Wirklichkeitdoch nur ein erstes, statistisches Indiz dafür, dass es inDeutschland zwar immer mehr Journalisten, deshalb aber nicht unbedingtauch immer mehr Journalismus gibt.
Denn die Zahl der publizistischen Angebote hat sich in den vergangenen15 Jahren wohl kaum um nur 20 Prozent erhöht. Sie dürftesich, gerade unter dem Aspekt der explodierenden Zahl vonOnline-Präsenzen, eher verdoppelt, vielleicht verdreifacht haben.
Interpretation statt Recherche?
Immer weniger Journalisten arbeiten tatsächlich direkt an derQuelle, recherchieren, fragen nach, verfassen die soliden Ausgangstextemit selbst erkundeten Fakten und Zitaten. Immer mehr sind Tag aus Tagein damit beschäftigt, journalistische Produkte andererweiterzuverarbeiten, zu kürzen, umzuformen, anzumoderieren, zuergänzen, abzurunden. Hat dieser »sekundäreJournalismus« längst über den»primären« gesiegt?
Dominiert immer öfter Interpretation die Anschauung, der Spin dieRecherche, die Einordnung den präzisen Blick auf das, was wirklichist? Und was hat dies zu tun mit zwei Prozessen, die in der letztenZeit prägend für den Betrieb im politischen Journalismus inBerlin gewesen sind – nämlich der Ausdünnung derKorrespondentenpräsenz und einem fehlgeleiteten Verständnisvon Online-Journalismus?
In den letzten Monaten haben – eher still und leise oder gekonntcamoufliert mit Eröffnungen neuer Büroräume –mehrere Regionalzeitungen ihre Präsenz im politischen Berlindeutlich reduziert: Gerade namhafte Regionalblätter zogenKorrespondenten ab, legten Büros zusammen.
Es ist die Konsequenz eines jahrelangen Trends, der viele erfasst hat,weshalb Namen und Details hier weniger, das Grundsätzliche jedocheiniges bedeuten. So verzichtet eine namhafte überregionaleZeitung schon seit Jahren auf ein eigenes Korrespondentenbüro imRegierungsviertel. Ruft man ihre Korrespondenten an, kann es durchauspassieren, dass diese an jenem Tag gerade in der Zentrale am Layoutsitzen und als Blattmacher eine Seite zusammenbauen.
Industrieller Journalismus
Systematisch, so scheint es, schrumpfen die gedanklichen undarbeitstechnischen Frei- und Denkräume jener, denen derdemokratische, offene Diskurs dieser Republik Wesentliches verdankt– nämlich präzise, vielschichtige, abgewogeneInformation über immer komplexer ausufernde Themenfelder.
Vorbei die Zeiten, wo selbst Regionalzeitungen ausgewiesene Experten inihren Reihen hielten: legendäre Kenner der Rentensystematik, gutinformierte Beobachter der Bundeswehr oder Profis, die schon fünfAußenministern in 70 Länder gefolgt waren. Ihr Kapitalhieß primäre Erfahrung, Information aus erster Hand. Sieschrieben nach dem Eisbergprinzip, ihre Story wurde getragen von 90Prozent Hintergrundwissen, das unsichtbar unter Wasser lag.
Seit einigen Jahren weiten sich Strukturen eines geradezu industriellenJournalismus aus: Alle machen alles, jederzeit. Schon die Ausbildungmancher Journalistenschule und betriebseigenen Ausbildungsstättesetzt die Signale: Als »crossmedial« wird hier verkauft,was oft nichts anderes als Überforderung ist. DieNachwuchsjournalisten sollen gleichzeitig einen Zeitungstext schreiben,einen Online-Teaser entwerfen, die Netzpräsenz designen und einenNachrichtenfilm drehen.
Das ist nun wirklich kein Problem – wenn man denn jedes noch sokomplexe Thema zum »Termin« degradiert, Nachfragen undRecherche für überflüssig und Pressemitteilungen undAgenturtexte für hinreichend hält und tatsächlich derMeinung ist, es mache für eine Geschichte keinen Unterschied, obsie mit dem Stift oder der Kamera erzählt wird. Hier wird leidernur zu oft bereits am Beginn der journalistischen Karriere dasGefühl für wertigen Primärjournalismus getilgt. Es gilt:Gut ist, was Bilder hat. Gelesen wird, was kurz ist. Wertvoll ist, was…
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