Online-Mythen
Info-Junkies und andere Mythen
Eine ganze Generation »Always-On« gibt esgenauso wenig wie ein Heer von »Newsmaniacs«. WennJournalismus die Menschen erreichen will, braucht er mehr Fakten undweniger Drama.
von Nicola Döring
Was tun, wenn der Kopf nicht mehr mitkommt? Diese Frage stellt FrankSchirrmacher in »Payback« (2009) und legt damit den Fingerin die Wunde: Prozessor und Festplatte kann man austauschen, ein Gehirnhat klare Kapazitätsgrenzen. Wie sollen wir damit umgehen? Wirhaben es in der heutigen Mediengesellschaft mit einem wachsenden Heeran Erschöpften, Genervten und Gestressten zu tun, die längstden »Kanal voll« haben und Geräte und Geist»abschalten« wollen. An erster Front stehen Intellektuelle,Wissensarbeiter und Medienmacher selbst. Suchen überlasteteDauer-Onliner nach dem vermeintlich seltenen »Glück derUnerreichbarkeit«, das die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel(2007) herbeisehnt? Psychologen vermuten, dass die immer schnellereInformationsverbreitung uns geistig und emotional überfordert.Verdummung und Abstumpfung drohen.
Die Always-On-Generation, gewöhnt an flächendeckendeDrahtlosnetze, mobile Multifunktionsgeräte und Flatrate-Angebote,will – so scheint es – überall und jederzeit amNachrichten-Puls der Zeit sein. Unfähig oder unwillig, sichüberhaupt noch auf eine einzelne Aktivität zu konzentrierenoder dem Gegenüber die volle Aufmerksamkeit zu schenken, tickert,mailt, chattet, skypet, twittert und bloggt sie mitallgegenwärtigem Multitasking ständig geschäftiganderswoher und anderswohin.
Permanenter Reiz-Input
Was steckt hinter der Kommunikations- und Informationsmanie? Derverzweifelte Wunsch, innere Leere zu füllen mit permanentemReiz-Input? Der Langeweile und Sinnlosigkeit der eigenen kleinen Weltzu entfliehen und am Leben anderswo teilzunehmen, bei spannendenWeltereignissen live dabei und Prominenten stets auf der Spur zu sein?Isolation und Einsamkeit zu dämpfen mit virtuellen Kontakten, diegesammelt werden wie Trophäen und mit denen man über diedigitale »Nabelschnur« ständig verbunden ist? In einerkomplexen, schnelllebigen Welt durch zwanghafte Informationssuchezumindest die Illusion von Orientierung und Kontrolle zu behalten? Aucheinmal im medialen Rampenlicht stehen und sei es nur dem einer HandvollTwitter-Follower, um der eigenen Unwichtigkeit und Vergänglichkeitzu trotzen?
Derartige tiefenpsychologische Deutungen, die zeitgenössischenMediengebrauch mit den seelischen Nöten des modernen Menschenverknüpfen, klingen allesamt plausibel, berühren unsemotional und eignen sich für öffentliche Dramatisierung.Aber wie groß ist ihr tatsächlicher Erklärungswert?
Suche nach der medialen Patentlösung
Wir begegnen im Mediengebrauch – und im Diskurs darüber– pausenlos den existenziellen Grundfragen. Das gilt ebenso, wennwir andere Alltagsbeschäftigungen betrachten wie Essen, Einkaufen,Arbeiten, Sex. Und natürlich gibt es auch im 21. Jahrhundert keinemedialen oder technischen Patentlösungen für ein gutes Leben.
Vermehrte, beschleunigte Information ist keine Lösung. DasGegenteil aber auch nicht. In den Debatten um die angebliche Spaltungder Gesellschaft in nachrichtensüchtige »DigitaleNatives« und überforderte »Digital Immigrants«wird oft so unhaltbar verallgemeinert, dass alle zentralen Begriffe– »Internet-Generation«,»Informationsüberflutung«,»Nachrichtensucht« – inzwischen als empirisch nichtbelegbare »Mythen« verworfen wurden.
Um besser zu verstehen, wer welche Art von Nachrichten aus welchenGründen wie auswählt,rezipiert, kommentiert, weiterverbreitet– oder eben ignoriert –, müssen wir genauer zwischeneinzelnen Nutzergruppen, Nutzungssituationen und Nutzungs-kontextenunterscheiden.
Belastung oder Bespaßung?
Drei Online-Zeitungen überflogen, acht Mails beantwortet, denKontostand geprüft, ein Bahnticket gebucht, auf dem Weg zumBahnhof zwei SMS geschrieben, eine Mailbox-Nachricht abgehört, aufdem Bahnsteig per Smartphone die Zugverbindung geprüft, dieWettervorhersage abgerufen, eine Excel-Tabelle geprüft undweitergeleitet, vier PDFs geöffnet, die Branchennews durchgesehen.Eine solche (hyper-) aktive mobile Multikanal-Mediennutzung kommt nurbei ganz bestimmten Personengruppen vor. Sie ist in erster Linieabhängig von Branche, Beruf und Position. In dem genanntenBeispiel jongliert eine 45-jährige Juristin einer weltweittätigen Unternehmensberatung täglich per Blackberry undNotebook mit einem Vielfachen mehr an Nachrichten als ihre14-jährige vermeintlich SMS-süchtige Tochter. …
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