»Wir haben uns tastend vorwärts bewegt«
1990 wurde Sergej Lochthofen von der Belegschaft der Thüringer Allgemeinen zum Chefredakteur gewählt – und blieb es zwanzig Jahre. Im Message-Interview spricht er über Zeiten des Umbruchs, Erfahrungen mit West-Verlegern und die Zukunft der Tageszeitung.
von Guido Heinen
Weit zurückgelehnt sitzt Sergej Lochthofen am Kopf des Konferenztisches im Büro von Professor Haller in Leipzig. Die Frage ist noch nicht zu Ende gestellt, schon antwortet er, untermalt von seiner linken Hand, die schnell nach oben fährt, um dann kurz auf der braunen Mappe, die verschlossen vor ihm auf dem Tisch liegt, zu ruhen.
Seine Antworten sind anschaulich, Lochthofen erzählt viele kleine Anekdoten und verbindet sie mit Beschreibungen der jeweiligen politischen Lage und den wirtschaftlichen Zwängen der Regionalzeitung. Fällt man ihm ins Wort, hebt er die Stimme, spricht zu Ende, was er zu Ende sprechen möchte. Im Laufe von drei Stunden schlägt Lochthofen an diesem Nachmittag im Februar die Brücke von 1989 bis 2009, von der Übernahme der SED-Bezirkszeitung Das Volk durch die Redaktion in Erfurt bis zu seinem Abgang als Chefredakteur bei der Thüringer Allgemeinen.
Am Ende des Gesprächs öffnet Lochthofen die schwarze Schleife der Mappe vor sich. Sie enthält sein Privatarchiv, darunter die letzten Ausgaben des Volkes, die ersten der Thüringer Allgemeinen.
***
Wenn Sie die vergangenen zwanzig Jahre als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen vor Ihrem Auge vorbeiziehen lassen: Haben Sie das, was Sie sich im Winter 1989/1990 unter Pressefreiheit vorgestellt haben, auch so verwirklichen können?
Lochthofen: Ja, ein klares Ja. Die Redaktion hat die selbst erkämpfte Freiheit auch während der folgenden zwei Jahrzehnte gelebt.
Im Unterschied zu anderen Zeitungen haben wir damals nicht gewartet, bis irgendjemand uns die Unabhängigkeit schenkt. Wir waren fest davon überzeugt, dass in Erfurt künftig eine Zeitung erscheint, die das berichtet, was sich ereignet hat, was die Menschen bewegt – und nicht das, was eine Partei vorschreibt.
Warum ausgerechnet zuerst in Erfurt und nicht in Leipzig oder Berlin?
Lochthofen: Es gehört zu den Besonderheiten jenes Wendeherbstes, dass sich der Widerstand dezenral formierte. In Leipzig, in Plauen oder in Erfurt. In Ostberlin wurden die Medien politisch viel stärker kontrolliert. In Erfurt haben wir bereits im Herbst 1989 einfach entschieden, neben dem DDR-Fernsehprogramm auch das Programm von ARD und ZDF zu veröffentlichen. Für die Leser war dies eine Offenbarung.
In Berlin war man da noch lange nicht so weit. Für manche Funktionäre grenzte das an Landesverrat, denn es gab Zeiten, da konnte ein Lehrer seine Arbeit verlieren, wenn er zugab, Westfernsehen zu schauen.
Ihr Chefredakteur war doch der SED-Bezirksleitung mit einem sturen Bezirkssekretär an der Spitze unterstellt, wie konnte er dem zustimmen?
Lochthofen: Ich kann mich gut an die Redaktionskonferenzen erinnern, als wir, eine Gruppe junger Redakteure, auf Veränderungen drängten.
Glasnost und Perestroika hatten die Welt elektrisiert. Die alte Chefredaktion war verunsichert, aber blieb überzeugt, dass es zur Parteizeitung keine Alternative gäbe. Ich schlug dann in der Konferenz, die bis dahin nur den Mitgliedern des Kollegiums vorbehalten war, den Abdruck der Westprogramme vor. In der Runde herrschte betretene Stille.
Ein Kollege fragte, warum die Zeitung jetzt ein ausländisches Programm drucken sollte. Die Antwort lautete: Weil die Menschen sowieso Westen schauen und wir ihnen deutlich machen müssen, dass die Zeitung nah bei ihnen steht. Nach einer Pause nickte der Chefredakteur: »Na, dann drucken wir es eben.«
Als die Zeitung das Programm das erste Mal veröffentlichte, rief ein Kollege aus Berlin an und stellte eine typische DDR-Frage: »Wer hat euch das erlaubt?« Er war fassungslos, als ich ihm sagte, dass wir niemanden mehr fragen. So sah für uns der Anfang dieser neuen, der gelebten Pressefreiheit aus.
Und der SED-Bezirkssekretär hat einfach zugesehen?
Lochthofen: Der Erste Bezirkssekretär, Gerhard Müller, war ein lupenreiner Stalinist, der im Herbst 1989 gerade wegen seiner Honecker-Treue schnell aus dem Politbüro entsorgt wurde.
In der Redaktion wuchs die Verunsicherung; die gemäßigteren Kollegen, obwohl sie Parteigänger waren, rückten von den Betonköpfen ab, wussten aber keine Alternative. So wurde es möglich, dass junge Redakteure offen darüber redeten, wie sich die Zeitung verändern müsse.
Bereits im Sommer wurde über ein Redaktionsstatut nachgedacht, das die Willkür der Parteibonzen einschränken sollte. Sicher war das naiv, denn noch immer hatten sie die Macht. Aber bereits da stand fest, so konnte es nicht weitergehen.
Wollten Sie Pressefreiheit im Rahmen und Geist des Sozialismus, also darin ähnlich wie die Sowjetpresse in der Zeit von Gorbatschow – oder versuchten Sie einen Wandel eher in die Richtung der westdeutschen Medien, so, wie Sie es in den Sendungen von ARD und ZDF erlebten?
Lochthofen: Sie dürfen nicht vergessen, dass wir alle noch stark geprägt waren von der Konfrontation der Blöcke. Im Osten wie im Westen. Die Veränderungen in der Sowjetunion gaben Hoffnung. Wir spürten, dass es in der DDR so nicht bleiben konnte – die SED-Politik hatte mit dem Lebensalltag der Menschen nichts zu tun. Wie auf den Straßen in Leipzig, so kam auch in der Zeitung die Bewegung von unten nach oben in Gang.
Nun wurden ja die Berichte in allen SED-Zeitungen im Parteijargon geschrieben. Es gab fest definierte Begriffe und die ganze Marxismus-Leninismus-Phraseologie. Wie konnten Sie sich als Parteischreiber davon freimachen?
Lochthofen: Die Sprache spielte eine große Rolle, und wir waren viele Jahre auf diese Funktionärsphrasen festgelegt. Es war nicht einfach, der Sache zu entgehen. Wer selbstkritisch genug war, wusste, wenn …
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