Ikonografie Des Desasters
Schockwellen im Mediensystem
Der Reaktorunfall in Japan wurde zu einem»Schlüsselereignis« für die Mediengesellschaft.Unser Autor analysiert, wie Katastrophen-berichterstattung in einfolgenreiches Schlüsselthema umschlägt.
von Frank Esser
Der Reaktorunfall in Fukushima beherrschte im März dieTitelseiten, Websites und Nachrichtensendungen weltweit. Infolge einesTsunamis war die Stromversorgung und damit die Kühlungausgefallen, was zu einer teilweisen Kernschmelze mit hoherRadioaktivität führte.
Die Erklärung der Publizistik- und Kommuni-kationswissenschaftfür die große Beachtung lautet, dass das Ereignis nahezusämtliche Kriterien für höchsten Nachrichtenwerterfüllt. Es vereint die Nachrichtenfaktoren Überraschung,emotionale Visualisierung und bildmächtige Dramatik, Schaden,Konflikt, Negativität, Relevanz, und Reichweite auf sich. Diessind nicht nur für Journalisten, sondern auch für dasPublikum relevante Kriterien, nach denen die Bedeutsamkeit einerNachricht bemessen wird. Die Medien springen auf solche Ausnahmethemenan, weil Journalisten laut Umfragen die wichtigste Aufgabe ihresBerufes darin sehen, dem Publikum möglichst schnell Informationenüber relevante Ereignisse zu vermitteln und das Geschehene zuerklären. Diese Aufgabe entspricht auch der demokratienormativenErwartung an die Medien: Sie sollen als zentrale Vermittlungsinstanzder Gesellschaft den öffentlichen Diskurs mit jenen Themenbefüttern, die die Merkmale Faktizität, Relevanz undNeuigkeitswert aufweisen.
Wendepunkt Reaktorunfall
Darüber hinaus zeichnet sich der Reaktorunfall durch weitereMerkmale aus, die ihn zum Schlüsselereignis machen. Die kollektiveGedächtnisforschung in der Soziologie versteht unterSchlüsselereignissen solche Geschehnisse, die von großenBevölkerungsteilen als einschneidend empfunden werden, weil sieeine hohe soziale und politische Brisanz aufweisen. Und dieLebensverlaufsforschung der Psychologie versteht unterSchlüsselereignissen jene kritischen Vorgänge, dieWendepunktcharakter aufweisen und darum einen biografischen Umschwungauslösen können.Der Reaktorunfall von Fukushima ist, ähnlich wie jener vonTschernobyl, prototypisch: Als singuläre Vorfälle sorgen siefür einen Wendepunkt in der Kernenergiediskussionund verleihen dem Thema AKW-Sicherheit eine neue Qualität. Diesgilt besonders für Deutschland, wo die Reaktionen heftigergerieten als in den Nachbarländern. Nachdem in der deutschenPresse vor dem aktuellen Unfall kaum Beiträge überKernenergie erschienen waren, verdrängte das Thema nun alleanderen Themen. Die Agenda Setting-Forschung spricht von einem»killer issue«, das in einer Berichterstattungsfontänenach oben gespült wird und sich umgehend gegen weichere»victim issues« durchsetzen kann. Die so ausgelösteNachrichtenwelle ist auch darauf zurückzuführen, dass dieFukushima-Berichterstattung rasch zu einer Berichterstattung überdie deutsche Energiepolitik und ihre nationalen AKW wurde. DieBundesregierung änderte ihren Kurs und sah sich kurzfristig zumMoratorium veranlasst, mit dem die zuvor beschlosseneLaufzeitverlängerung für drei Monate ausgesetzt wurde.Schlüsselereignisse sollen hier definiert werden als herausragendeGeschehnisse, die erstens eine intensive Medienbeachtung hervorrufenund zweitens die nachfolgende Berichterstattung beeinflussen, indem sieNachrichtenwellen auslösen, ein Thema neu etablieren undNachrichtenauswahlkriterien ändern.
Kampf um Deutungshoheit
Die Ursachen für die intensive Medienbeachtung haben wir benannt.Ergänzend sei hierzu noch angemerkt, dass Schlüsselereignisseeinen hohen kommerziellen Animationsnutzen haben. Sie kommen demwachsenden Sensationalismus von marktabhängigen Medien entgegen.Dies schlug sich beispielsweise in den Bild-Titelseiten»Atom-Horror« oder »Flucht aus der Todeszone«an den ersten Tagen wider. Schlüsselereignisse erwiesenin der Vergangenheit auch oft eineVermarkungstauglichkeit als lang anhaltende»Saga« – dies zeigte sich besonders beiSchlüsselereignissen mit »Promi«-Bezug wie OJ Simpsonoder Monica Lewinsky.
Kommen wir aber zum zweiten Definitionselement, den Nachrichtenwellen.Diese Wellen bestehen zum einen aus Berichten über dasSchlüsselereignis selbst, und zum anderen – wichtiger noch– aus Berichten über ähnliche und verwandte Themen undEreignisse. Schlüsselereignisse stellen aufgrund ihreseinschneidenden Charakters sogenannte »unbestimmteSituationen« dar, in denen das Orientierungsbedürfnis steigtund die Abhängigkeit des Publikums von Medieninformationen zunimmt(Konzept der Media Dependency). Weil das Publikum mehr Informationennachfragt und auch die Konkurrenzmedien intensiv berichten, entstehtfür Journalisten ein Sog: Um das Publikumsinteresse bedienen undim Konzert der Medien bestehen zu können, öffnet derJournalismus seine Schleusen für eine große Bandbreite anInformationsquellen: Experten werden befragt, Entscheidungsträger,Betroffene. Und es schlägt die Stunde der Interessengruppen,Aktivisten, Bewegungssprechern und Lobbyisten, die dasSchlüsselereignis für ihre Ziele mittels Informationspolitikauszunutzen gedenken.
So war rasch zu beobachten, dass AKW-Gegner und Umweltschutzgruppen aufder einen Seite und Laufzeitverlängerungsbefürworter undVertreter der Energiewirtschaft auf der anderen Seite den Medienzugangsuchten, um ihre Deutung durchzusetzen. Allerdings verkomplizierten dielaufenden Landtagswahlkämpfe in Rheinland-Pfalz undBaden-Württemberg die Lage. Anstatt es zu einem Deutungsgefechtmit offenem Visier kommen zu lassen, traten dieLaufzeitverlängerungsbefürwor-ter den strategischenRückzug an. Wie die Laufzeit-verlängerungsgegner richtetensie sich in ihren Stellungnahmen ebenfalls an die Medien oderinszenierten Aufmerksamkeit für ihre Positionen. Beide trugensomit zur Nachrichtenwelle bei. Wie immer in solchen Fällen tretenThemensurfer auf, die das Schlüsselereignis für die eigenenZiele und Zwecke zu instrumentalisieren versuchen; und es tretenThemensponsoren auf, die an der Problemdefinition mitzuwirkenversuchen. Sie machen sich zunutze, dass emotionale Themen vom Publikumnicht rational verarbeitet werden. Weite Bevölkerungskreise sindin solchen Fällen empfänglich für einen verbalen undvisuellen Kommunikationsstil, der impulsive Assoziationskaskadenauslöst und an kulturell angelegte Ängste anknüpft.Emotionale Medienwirkungen werden in der Publizistikwissenschaftgegenwärtig intensiv erforscht, und zur »German Angst«finden sich bei Google Scholar 436 wissenschaftliche Publikationen.
Das Thema wird etabliert
Für manchen mag dies zynisch klingen, obwohl …
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