Ukraine-Konflikt
Das Gute, das Böse und die Journalisten
Disclaimer: Herausgeber und Redaktion distanzieren sich von dem hier 2014 publizierten Meinungsbeitrag von Hubert Seipel. Mit dem Wissen von heute über Russland und Putin würden wir ihn so nicht nochmals publizieren.
Im Interesse der Transparenz sehen wir von einer Depublizierung ab, sind jedoch irritiert und enttäuscht davon, dass der Autor Seipel glaubwürdigen Berichten zufolge mindestens für ein Buch über Putin Geld aus Russland angenommen haben soll.
Sollten sich diese Vorwürfe bestätigen oder sogar noch auf Seipels Fernsehdokumentationen ausweiten, hielten wir dies für einen groben, nicht zu entschuldigenden Verstoß gegen journalistische Normen (Ziffer 15 des Pressekodex). Die gebotene Unabhängigkeit steht in Frage, die publizistische Glaubwürdigkeit ist beschädigt. (17.11.2023)
Wenn deutsche Medien über Russland berichten, reduziert das ein ganzes Land auf Putin, und Kommentare lesen sich wie Standpauken für den Kreml. Eine Polemik gegen Moralkanoniere in den Redaktionen.
von Hubert Seipel
Eine Glanznummer der Schauspielerin Jodie Foster ist die Verkörperung der selbstgerechten Mittdreißigerin Penelope aus dem Theaterstück »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza, verfilmt von Roman Polanski. Darin spielt Foster eine rigorose Moralistin, die ihre Umgebung mit gusseisernen, aber politisch korrekten Ansichten nervt.
»Je länger der Zuschauer Penelopes erpresserischem Diskurs lauscht«, beschrieb ein Kritiker der Zeit seine Reaktion, desto schwerer falle es ihm, »dieser Luxusmoralschleuder nicht an die Gurgel zu wollen«. Sein Resümee: »Die Heroine der politischen Korrektheit verbindet auf unerträgliche Art und Weise Überheblichkeit und Besserwissertum, das sich im Gewand seiner Moralität unangreifbar macht.« Die Diskussion über das richtige Verhältnis zu Russland und Wladimir Putin, die in deutschen Medien ausgetragen wird, erinnert mit ihrer Political Correctness stark an das Modell Penelope.
Dabei ist es keine Frage, dass Gesetze die Spielräume der Presse in Russland einschnüren. Beispiele von der Tageszeitung Vedomosti über das Forbes-Magazin bis hin zu Regionalzeitungen zeigen allerdings, dass es auch von den Journalisten und Herausgebern abhängt, was möglich ist und was nicht. Unbestreitbar stimmt es, dass die drei landesweiten Fernsehsender – Rossija, NTV und Perwyj Kanal (Erster Kanal) – von der Politik am Gängelband geführt werden. Und ebenso stimmt es, dass eine Gegenöffentlichkeit im Internet existiert, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig lässt. In diesem Nebeneinander spiegelt sich die Auseinandersetzung in der russischen Gesellschaft wider.
Politikanalyse auf Facebook-Niveau
Die Berichterstattung in Deutschland spiegelt dagegen allzu oft die eigene Befindlichkeit der Journalisten wider. Der Erregungspegel ist hoch. Die Analyse der Außenpolitik hat sich auf Facebook-Niveau gesenkt – »like« oder »don’t like«. Die meisten Kollegen entscheiden sich für »don’t like« und fordern, den Pegel der politischen Lautstärke zu erhöhen.
Der Konflikt um die Ukraine hat die Zuspitzung weiter vorangetrieben. »Die ganze Welt ist herausgefordert«, schreibt die Zeit auf der Titelseite. Das Cover des Spiegel ziert ein Bild Wladimir Putins mit der Schlagzeile »Der Brandstifter«. Und in der Süddeutschen Zeitung sieht der Chef der Außenpolitik nur eine Lösung: »Das Land hat seinen Platz in der G8 verwirkt.« »Rausschmiss«, und ansonsten bitte aufrüsten. »Die Staaten an der neuen Front des Kalten Krieges« verdienten allesamt »Nato-Unterstützung«.
Wer sich dem überschaubaren Denkansatz widersetzt, bekommt auch sein Fett weg. »Gruselig, welche Sehnsucht nach Autorität da durchschimmert, auch und gerade bei einigen Deutschen«, schreibt die SZ. Keine aufrechten Demokraten eben, lautet die Diagnose. »Russlandknutscher«, so die Zeit. Prinzipienlos und ohne Rückgrat. Möglicherweise vom Kreml bezahlt, so wie Gerhard Schröder.
Die Welt durch die Augen der anderen zu sehen, um ihre Interessen zu berücksichtigen, wie es der einstige US-Außenminister Henry Kissinger fordert – diese Vorstellung ist vielen fremd. Und fremd sind vielen auch die Sicherheitsinteressen Russlands, dem vor Jahr und Tag versprochen wurde, dass die Nato nicht näher an seine Grenzen rücken würde. Dabei war offensichtlich, dass Russland den jahrhundertealten Stützpunkt der russischen Flotte auf der Krim nicht aufgeben würde. Auch nicht für ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Der Rest ist Geschichte.
Die Schlacht um die Deutungshoheit im deutsch-russischen Verhältnis tobt nicht erst seit der Auseinandersetzung um die Ukraine. Die Medien überbieten sich seit Jahren mit robusten Ratschlägen in Sachen Russland. Merkel solle gefälligst »härtere Bandagen« anlegen, schreiben viele, um Wladimir Putin klarzumachen, was es mit Demokratie und Menschenrechten auf sich hat.
Die politische Korrektheit hat mit vielem, aber nur wenig mit analytischer Außenpolitik zu tun. Sie ist ein Lehrstück von der Macht und Ohnmacht des Journalismus. Es geht um den Versuch, die persönliche Überzeugung für alle verbindlich zu machen. Ohne Rücksicht auf lästige Rangfolgen und Prioritäten. Sondern jetzt, sofort. Vornehmlich nach dem Lifestyle-Rezept des Prenzlauer Bergs: Wo esse ich heute Abend am besten vegetarisch? Was ziehe ich an, und warum setzt Wladimir Putin in Russland nicht endlich die Homo-Ehe durch?
Die Chronik der Erwartungen in Deutschland über Putins Russland ist die Folge einer Illusion, wie sie etwa in der Zeit durchschlägt. »Nach dem Ende des Kommunismus herrschte die Annahme, Russland und Europa seien gleichen Werten verpflichtet«, schrieb der Politikredakteur Jörg Lau schon vor einem Jahr enttäuscht.
Nur hatte diese selbst gesetzte Annahme gleicher Werte, die als unstrittig vorausgesetzt wird, wenig mit der gesellschaftlichen Realität jener Zeit zu tun. Das Ende der Sowjetunion beruhte nicht auf einer gemeinsamen Vereinbarung von Ost und West, um anschließend auf der Grundlage westlicher Menschenrechte den neuen russischen Menschen zu schaffen. Der Kollaps der Sowjetunion war das Ergebnis einer gigantischen wirtschaftlichen Pleite und der Unfähigkeit einer politisch-bürokratischen Elite, dies vorauszusehen.
Ratschläge für den »failed state«
So waren unsere journalistischen Beziehungen zu diesem neuen Russland von Beginn an ein emotionaler Cocktail aus Sympathie, Projektionen und eigenem Größenwahn. Nach dem Kollaps der Sowjetunion produzierten deutsche Journalisten Tausende von Artikeln mit gutgemeinten Ratschlägen, strengen Warnungen vor Irrwegen oder fürsorglichen Kommentaren, wie der »failed state« auf dem Weg in den Westen weiter vorankommen kann.
Die russische Politik zeigte sich für das Engagement deutscher Reformpädagogik nur bedingt empfänglich. Auch die Richtung der Marschroute war keineswegs abgesprochen. So endete die Beziehung bald dort, wo unerwiderte Leidenschaft in der Regel immer endet: im gegenseitigen Frust.
Schon 2008 beschwerte sich Michail Gorbatschow in einem offenen Brief an die deutschen Journalisten über das Russland-Bashing: »Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man den Eindruck nicht los, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält. In Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt, eine arglistige Energiepolitik durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Diktatur ab. Diese Thesen werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher scheinen keinerlei Interesse jenseits dieser Aussagen zu haben.«
Daran hat sich wenig geändert. Russland ist im Verständnis vieler ein östlicher Sonderschüler, der dringend deutsche Nachhilfe braucht. Der Lernplan ist strikt, die Forderungen nicht verhandelbar und sofort umzusetzen: Demokratie, jetzt auch für Russland. Putin ist böse. Er und seine Freunde – allesamt vom KGB.
Der Russe als solcher kommt besser weg. Immerhin, so die Hoffnung, sei die Mehrheit der Russen irgendwie lernwillig. Auch wenn sie nach Einschätzung vieler Berichterstatter bedauerlicherweise nicht weiß, wie sie ihren Präsidenten loswerden kann. Sie wählt ihn einfach immer wieder.
Die Debatte um den Beschluss des russischen Parlaments, öffentliches Werben für homosexuelle Lebensführung homophobisch mit Geld oder Gefängnisstrafe zu ahnden, ist exemplarisch für jene Form der Berichterstattung, die einen mühsam erreichten Status quo in Deutschland zur außenpolitischen Forderung für Russland erhebt.
Rechtzeitig zum Besuch der Kanzlerin in Sankt Petersburg 2013 hatte der öffentliche Erregungszustand einen neuen Höhepunkt erreicht. Angela Merkel forderte Russland auf, das neue Gesetz zurückzunehmen, das Propagieren von Homosexualität gegenüber Minderjährigen unter Strafe stellt – wobei Merkels Appell deutlich mehr mit dem deutschen Wahlkampf als mit »werteorientierter Außenpolitik« zu tun hatte. Es ist kein anderes Land bekannt, bei dem die Kanzlerin selbiges bislang angemahnt hat.
Die Tatsache, dass sich die Lesben- und Schwulenbewegung in Deutschland erst in einem zähen und jahrelangen Kampf jene Rechte gesichert hat, mit denen sich große Teile der Union noch immer schwer tun, spielte keine Rolle. Doch weder der Merkel-Rüffel noch die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes vor Russland für Freunde gleichgeschlechtlicher Zuneigung hat die russische Gesellschaft beeindruckt. Die Duma hat das Gesetz nicht zurückgenommen. Abgeordnete in Moskau neigen ebenso wenig wie ihre Kollegen in Berlin zum politischen Selbstmord.
Diagnose: Homophobie als Mainstream
In Russland sprechen sich über zwei Drittel der Bevölkerung gegen Homosexualität aus. Von Homophobie als Mainstream schreibt die Taz. Doch öffentlicher deutscher Tadel hilft der Bewegung nicht. Sie wird diesen zähen Kampf noch über Jahrzehnte in der russischen Gesellschaft führen müssen, um einen halbwegs erträglichen Status zu erreichen.
Political Correctness als Ersatz für Analyse tauscht das Machbare gegen eine Wunschliste ein. Das kann im Einzelfall durchaus glücklich machen. Aber als politisches Konzept funktioniert es auf Dauer genauso wenig wie als journalistisches Handwerksprinzip. Kein anderes Land wird derart nach Kriterien persönlicher Wellness betrachtet wie Russland.
Abzubilden, was passiert, ist ein schwieriges Geschäft. Als 2011 im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl in Moskau Tausende von Menschen mit nachvollziehbaren Forderungen gegen Korruption und Behördenwillkür demonstrierten, wuchs die Erwartung der deutschen Presse, eine Art Arabischen Frühling zu sehen, im Live-Ticker-Takt fast ins Uferlose. Vom Ende der Ära Putin war die Rede, das vom so genannten »Marsch der Millionen« eingeläutet würde.
Wer und wie stark die Opposition wirklich war, darüber wurde kaum geschrieben. Allenfalls, dass es sich dabei um »moderne Menschen« wie Alexej Nawalny handelt, einen zeitgemäßen Blogger, der seit Jahren der Korruption die Stirn biete. Und Korruption ist in Russland durchaus ein Thema. Doch welches konkrete politische Programm Nawalny hat, mit wem er es wie durchsetzen wollte, blieb rätselhaft. Kein längeres authentisches Interview, weder im Print noch im Fernsehen. Die Frontberichterstattung verriet nur so viel, dass Putin »längst die Städte verloren hat«. Dass die »staatliche Repression« jenen »Marsch der Millionen« mit administrativen Maßnahmen behinderte – was zutraf. Die fröhliche Zuversicht allerdings, dass der russische Präsident doch wohl bald Geschichte sein werde, weil sich so einer nicht mehr lange halten kann, verflog drei Monate später mit Putins Wahlsieg.
Deutsche Journalisten nehmen weiterhin nur allzu gerne einen Ausschnitt für das Ganze. Uneindeutigkeiten, Unangenehmes auszuhalten, sich auf Überprüfbares zu konzentrieren, steht bei ihnen nach wie vor nicht hoch im Kurs. Dazu kommt die Kränkung, letztlich vor Ort kaum eine Rolle zu spielen. Dabei sind wir im Pressekorps des Weißen Hauses in Washington genauso wenig zugelassen wie im Korps der Kreml-Journalisten. Natives only. Die Vorstellung zahlreicher deutscher Journalisten, in Moskau als Entwicklungshelfer unterwegs sein zu müssen, ist trotzdem stark ausgeprägt.
Glaubt man allerdings zwei neueren russischen Studien (eine stammt von einem regierungsnahen Institut, die andere vom Lewada-Zentrum, das der Opposition nahesteht), ist die Verbundenheit unserer Nachbarn aus dem Osten mit diesen unseren Vorstellungen nicht übermäßig ausgeprägt.
Die meisten Menschen in Russland sehen die Zukunft als Bedrohung und nicht als Chance. Eine Welt voller Feinde und mit wenig Verbündeten. Die Rechte von Minderheiten und Menschenrechte stehen nicht besonders hoch im Kurs. Ein kleiner Teil der Jüngeren träumt von einem EU-Beitritt. Aber Oligarchen und Nato-Erweiterung haben die Sehnsucht nach einem westlichen Modell beschädigt.
Viele fühlen sich nach dem Kollaps der einstigen Weltmacht Sowjetunion minderwertig. Und nach wie vor will der größte Teil einen vorrangig russischen demokratischen Staat, ohne Hilfe oder Ratschläge von außen, wie auch immer er aussehen mag. Der Wunsch nach Sicherheit ist groß und die territoriale Sicherheit des Landes hat Vorrang. Gleichzeitig wächst die Angst vor Fremden und dem Islam. 8o Prozent bezeichnen sich als russisch-orthodox. Auch wenn sich das religiöse Leben in der Praxis offenbar auf Weihnachten und Ostern beschränkt.
Daten wie diese sind die Blaupause, auf der Putin und die Eliten des Landes Politik machen. Das Ergebnis kann man mögen oder ablehnen. Man muss es aber zur Kenntnis nehmen.
Für die meisten deutschen Journalisten steht der Schuldige ohnehin fest: Der Schurke heißt Wladimir Putin, so die Logik der öffentlichen Klageschriften, weil die üblen Umstände in Russland das direkte Ergebnis des Willens des Präsidenten sind. Kurz, der Akteur hat damit aus niederen Motiven gehandelt und sich aus Eigennutz über die allgemein verbindlichen Regeln hinweggesetzt. So viel Dreistigkeit erfordert Strafe. Putin muss weg. Nur hat sich die Mehrheit der Russen dieser westlichen Erkenntnis noch immer nicht angeschlossen. Putins Beliebtheitskurve ist seit der Ukraine-Krise zu Hause auf ein Allzeit-Hoch geklettert.
Politische Anaylse als Casting-Show
In Moskau ist noch nicht viel von dem »entzauberten Zaren« zu spüren, in dessen Rückkehr »schon der Keim des Scheiterns liegt«. Die Rückkehr in den Kreml sei der Ausweis ausschließlich dunkler Machenschaften, schrieb Spiegel Online kurz nach der Präsidentenwahl 2012, um zu erklären, wie der Kreml-Chef trotz alledem eine Mehrheit bekommen hat. Es war allerdings »die falsche Mehrheit«, beschwor die Überschrift. Nicht die Stimmen der jungen Großstädter aus den Starbucks-Cafés von Moskau und Sankt Petersburg, sondern nur die von weniger prickelnden Rentnern, Ärzten, Lehrern, Professoren, Soldaten und Geheimdienstlern zählte der Artikel auf. Politische Analyse als Casting-Show.
Die ausgeprägte Sympathie vieler Journalisten für die Opposition trübt den Blick auf die Verhältnisse. Dabei sind es meist die konkreten und langwierig-langweiligen Auseinandersetzungen innerhalb einer Gesellschaft, die Änderungen und Freiräume schaffen, nicht die Appelle und Aufforderungen von außen. Uneindeutigkeiten und Ambivalenz auszuhalten und zu beschreiben ist eine grundlegende Eigenschaft unseres Berufs. Die eigenen Vorlieben, die sich – zugegeben – nie ganz ausschalten lassen, sind es weniger.
Für sein TV-Porträt »Ich, Putin« aus dem Jahr 2012 begleitete Hubert Seipel den damaligen Präsidentschaftskandidaten über Monate. Seipel wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis und dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.
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