Medientrends
Neue Heimat für die Aufklärer
Investigativer Journalismus wird zunehmend durch NGOs, Vereine undStiftungen geleistet. Verliert die Nachrichtenindustrie ihreWatchdog-Rolle? Eine französische Studie zeigtfolgenreiche Veränderungen auf.
von Mark Lee Hunter und Luk N. Van Wassenhove
Parteiübergreifend hatten viele der 646 Abgeordneten imWestminster-Palast auf Kosten der Steuerzahler private Kronleuchter,antike Teppiche, Bügelbretter oder Luxusfernseher abgerechnet.Sogar Staatssekretäre und hochrangige Regierungsberater musstenihren Hut nehmen. Der 2009 enthüllte Londoner Spesenskandalund die daraus resultierenden Rückzahlungen der betroffenenbritischen Abgeordneten konnten zwar nicht den gebeutelten britischenStaatshaushalt konsolidieren. Dem Daily Telegraph füllte derSkandal die Kassen jedoch gut auf. Die Exklusivstory brachte derZeitung in nur einem Monat mehr als eine Million zusätzlichverkaufte Exemplare.
Dieses Daily-Telegraph-Beispiel zeigt: HartnäckigerEnthüllungsjournalismus kann nicht nur die Recherchekosten wiederhereinholen, sondern ganz passable wirtschaftliche Gewinne erzielen.Zudem wirkt er als Vertrauensverstärker und Aufmerksamkeitsgenerator.
Doch derzeit führt die Zeitungskrise in vielen westlichenLändern eher zu einem gegenteiligen Trend: Aufwändigejournalistische Inhalte können oft nicht mehrregelmäßig und zuverlässig produziert werden. Undsinkende Einnahmen werden auch mit Einsparungen beim»Luxusgut« Recherchejournalismus ausgeglichen. UnsereStudie zeigt Mittel und Wege, wie Enthüllungsjournalismus auchunter den derzeit schwierigen Umständen profitabel realisiertwerden kann. Ein zentraler Punkt: Die Erlös- und Einnahmequellenmüssen diversifiziert werden.
Ineffizienz und vergeudete Kapazitäten
Bislang wirken viele Strukturen der Medienindustrie wieBremsklötze im Wertschöpfungsbereich desWatchdog-Journalismus. So gibt es nur wenige spezialisierteRechercheredaktionen. Viele junge und unerfahrene Reporter werden nichtgenug angeleitet, obwohl manche Rechercheschritte von älterenKollegen kompetenter und schneller ausgeführt werden könnten.Der Fokus auf Themenschwerpunkte führt dazu, dass Arbeitsgruppensich Prozesse jedes Mal neu erarbeiten und die Resultate dann fürimmer ungenutzt in Archiven (oder Köpfen) verschwinden. Ganz zuschweigen von Qualitätskontrollen, die in vielen Medienunternehmenvöllig unzureichend sind. Um intern oder extern Mittel fürRecherchen zu beschaffen, müssen oft umfangreiche Exposésentworfen werden, die aufwändige Vorrecherchen erfordern –vergeudete Mühe, wenn die Anträge abgelehnt werden.
Da viele dieser Arbeitsprozesse offensichtlich ineffizient sind, zudemdie Mittel knapper werden und der Renovationswille in vielenRedaktionen fehlt, beginnen fremde Unternehmungen damit, dieWatchdog-Funktion des Journalismus zu übernehmen. Nennen wirdiese neuen Akteure hier Stakeholder-Medien. Das sindAktivistenzeitungen, Webradios, Finanzmarktzeitungen, Onlineforen, NGOsoder Blogs, die sich thematisch spezialisieren.
Unsere Prognose: Mittel- und langfristig wird der investigativeJournalismus bei diesen alternativen Medien und Organisationen zurBlüte kommen. Spezialisierte Stakeholder werden derNachrichtenindustrie ihre Watchdog-Funktion mehr und mehr abjagen. Undzwar so lange, bis die traditionelle Informationsindustrie dieinvestigative Recherche wieder als wichtigen Pfeiler ihres Images,ihrer Arbeit und ihrer Vermarktung erkennt und sie im eigenen (auchwirtschaftlichen) Interesse zur neuen Blüte führt.
Paradigmenwechsel auf drei Ebenen
Die Beziehungen und Wertschöpfungsprozesse zwischen Journalistenund ihrem Publikum verändern sich grundlegend. Paradigmenwechselvollziehen sich auf drei Ebenen und kommen langfristig demWatchdog-Journalismus zugute. Unsere Thesen: Erstens gilt nicht mehrObjektivität, sondern Transparenz als ethischer Leitwert fürdas Publikum. Während bei Nachrichtenmedien Neutralität undFairness als höchste Moral gelten, sind Stakeholder eindeutigparteiisch. Aber sie legen ihre Motive offen.
Zweitens wandelt sich das »Produkt« Journalismus in eineDienstleistung: Mehr und mehr Leser wollen nicht nur auf Problemeaufmerksam gemacht werden, sondern erwarten konkreteLösungsvorschläge, und das teilweise eben auch im Sinne vonpersönlichem Nutzwert. Diese Funktion nehmen Stakeholder teilweisebesser wahr und nutzen dafür aktuelle Daten und historischesMaterial deutlich effektiver als traditionelle Medien.
Drittens wandelt sich der Marktfokus von »Öffentlichkeit« hin zu »Community«. Indem Stake-holder-Medien zum Mitmachen aufrufen, schaffen sie enge Kontakte mit und zwischen den Nutzern. Schon durch ihre Größe sindsolche Communities in der Lage, schnell Mitglieder zu mobilisieren, umbeispielsweise größere Recherchen zu bewältigen.Einzelne Redakteure und Reporter können das so nicht.
Der industrielle Journalismus trägt übrigens selbst zumWachstum der Stakeholder bei, indem er sie oft als Zitategeber undwichtige Quelle für die eigenen Recherchen nutzt und ihre Themenaufgreift. Stakeholder setzen dadurch auch immer öfter …
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