Katastrophismus
Tiefer bohren
Im Katastrophenfall sprudeln Informationen ausunzähligen Quellen. Aufwändige PR-Strategien erschweren dabeidie Arbeit der Reporter. Gleichzeitig ist der Fall BP einLehrstück für kritischen Journalismus.
von Curtis Brainard
Nicht einmal zwei Wochen nachdem die Bohrinsel DeepwaterHorizon im Golf von Mexiko unterging, veröffentlichte die New YorkTimes eine Titelstrecke, die die jüngsten Ereignisseanalysierte. Darin war zu lesen, dasausgelaufene Öl bedeutenicht den Weltuntergang. Und dass»niemand, nicht einmal die eifrigstenFürsprecher der Öl-Industrie, den Unfall auf die leichteSchulter nehmen«. Heute, fünf Monatespäter, wurde das Macondo-Ölfeld offiziell für»tot« erklärt.
5.000 Barrel, so der Beitrag, flössen pro Tag in denGolf. Die neuesten Schätzungen, die Wissenschaftler derColumbia Universität in Palisades im Septemberanstellten, gehen von 56.000 bis 68.000 Barrel pro Tag aus. Wenn jemanddie Katastrophe zu locker genommen hat, dann war es die Presse.
Ölstrom war viel stärker als bekannt
Die Vorhersage der Times, dass die Apokalypse ausbleibe, scheintdennoch vorausahnend gewesen zu sein. Vielleicht verdient die Zeitungauch Anerkennung für ihre gemäßigte Berichterstattung.Oft genug wird ja beklagt, die Medien versetzten ihr Publikum zuschnell in Alarmstimmung. Auf der anderen Seite belegt dieseTitelstrecke die Bereitschaft der Medien, kühne Behauptungen zuverbreiten – Behauptungen, die auf Ansichten von BP oder derUS-Regierung fußten, ohne alle relevanten Fakten zurecherchieren. So wurde gutgläubig ein Meeresbiologe zitiert, umzu demonstrieren, dass selbst Umweltaktivisten keinen Supergaubefürchten. Er ist der Direktor der Gulf of Mexico Foundation, dievon der Zeitung als »konservative Organisation« verkauftwurde. Was sie ihren Lesern bis zur Richtigstellung verschwieg: ImVorstand der Stiftung wimmelt es nur so von Führungskräftenaus der Öl-Industrie – darunter auch Transocean, dieDeepwater Horizon für BP betrieb.
Gutgläubigkeit war jedoch nicht allein Merkmal derBerichterstattung der Times. Das größte Versagen der Pressein den ersten Wochen der Katastrophe betraf alleNachrichtenredaktionen: Niemand stellte die vielen falschenBeteuerungen BPs in Frage, wie viel Öl tatsächlich auslief,wie groß die Auswirkungen der Katastrophe sind und ob der Konzerndie Probleme wirklich schnell beheben könne.
Am Tag nach dem Untergang der Förderplattform variiertenSchätzungen zur auslaufenden Ölmenge von »nichtexistent« bis zu knapp 1,3 Millionen Litern – dasentspricht etwa 8.000 Barrel und damit der Menge, die die Probebohrunghinaufpumpte. »Nicht-existent« war die erste Schätzungder Küstenwache am 23. April. Am 25. April veranschlagten dieKüstenwache und BP 1.000 Barrel. Zu diesem Ergebnis kam man nachSonar- und ferngesteuerten Unterwassermessungen. Bedenkt man dieschnell steigenden Schätzungen, müsste man davon ausgehen,dass Reporter anfingen, Fragen zu stellen: Fragen danach, wie BP unddie Regierungsbehörden zu ihren Schätzungen kommen konnten.Doch die Nachfragen blieben aus.
Endgültig bestimmte die Ölkatastrophe die Medien-Agenda, alsdie Küstenwache am 28. April zugab, sie habe das Leckunterschätzt. Man ginge nun von etwa 5.000 Barrel aus –immer noch viel zu wenig. Endlich begriffen die Journalisten, dass siedie ersten Zahlen zu unkritisch aufgenommen hatten und hakten beiRegierung und BP nach, welche Grundlage ihre Zahlen hätten. Jetztstellte sich heraus, dass jede Schätzung unpräzise war. ImMai waren die Folgen der Katastrophe nicht mehr zu übersehen.Langsam dämmerte den Journalisten, dass sie BP nicht trauenkönnen. Doch noch immer blieben die Bemühungen der Presse zuzaghaft, den Fakten wirklich auf den Grund zu gehen: Etwa als BP amMorgen des 28. Mai erklärte, man sei auf dem richtigen Weg undwürde das Leck bald dichtbekommen. In Wirklichkeit hatte man gegenMitternacht aufgehört, Schlamm in Richtung Bohrloch zu pumpen. Esdauerte bis Donnerstagnachmittag, ehe ein Techniker einem Journalistender Times dies zu Protokoll gab. Nun endlich begriffen dieJournalisten, am Anfang nicht kritisch genug gewesen zu sein, auch wennBP Fakten geschickt verschleierte.
Gerade mal eine Journalistin der Los Angeles Times näherte sichden Verschlussversuchen mittels wissenschaftlicher Expertise. Siefragte bereits vor den ersten Maßnahmen einen Wissenschaftler ausder Erdöltechnik, wie viel Druck man aufbringen müsse, um dasLeck abzudichten. Die Antwort, die sich als richtig herausstellensollte: wahrscheinlich mehr, als BP aufbringen kann.
Eine Dokumentation macht den Anfang
Etwa zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichten die Medien ersteThesen darüber, was die Explosion von Deepwater Horizonausgelöst haben könnte. Es war die Rede vonunsachgemäßen Betondichtungen, die von den Managern auf derPlattform übersehen wurden. Eine der ausführlichstenDokumentationen kam von dem investigativen Magazin 60 Minutes auf CBSMitte Mai. Dieser Bericht über riskante Bohrmethoden auf derDeepwater Horizon und über andere Vorfälle in Texas undAlaska gingen um die Welt. Journalisten überprüften nun auchdie Aktivitäten des United States Minerals Management Service.Selbst das Musikmagazin Rolling Stone brachte ein tiefgründigesFeature über die langsamen Reformen in dieser Organisation. IhreAufgabe ist es eigentlich, die Ölindustrie bei Tiefseebohrungen zureglementieren und zu überwachen. Stattdessen entwickelte man dorteine behagliche Nähe zur Branche.
Anfang Juni enthüllte Associated Press, dass die Behördeeinen zweifelhaften Bericht von BP über die Katastrophe akzeptierthatte. Der bezog sich auf einen Meeresforscher, der schon vor Jahrenverstorben war. Andere Artikel stellten detailliert dar, dass dieEntwicklung der Sicherheitstechnik nicht mit der FördertechnikSchritt halten könne.
So befriedigend diese Artikel auch waren: Sie hättenfrüher und ausführlicher erscheinen müssen. Warum hattendie Journalisten nicht den schwindlerischen Notfallplan von BPaufgedeckt, oder die rückständigen Sicherheitsmechanismen?2008 wäre genau der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Daforderte der damalige Präsidentschaftskandidat John McCain inseiner Wahlkampagne, wieder mit der Erkundung der Tiefseegebiete an deräußeren Kontinentalplatte zu beginnen. Man wolle dort nachÖl bohren. Stattdessen gab es damals nur unmotivierte und weniginvestigative Presseberichte darüber, dass solche Bohrungenmittlerweile technisch sicher seien. Es brauchte erst ein Desaster, ehedie Medien hellhörig wurden. Erst sechs Wochen nach der Explosionvon Deepwater Horizon erwachten sie aus ihrem Tiefschlaf, und nun wardie Katastrophe in den Medien allgegenwärtig. Demwöchentlichen Nachrichten-Index des Pew Research Center zufolgeerreichte die Berichterstattung im Juni ihren Höhepunkt.Gleichzeitig feilte BP an seiner PR-Strategie. »Eine Litanei anHalbwahrheiten, das Zurückhalten von wichtigem Video-Material, dasVersperren des Zugangs zum Unglücksort haben zu dem verbreitetenEindruck geführt, dass BP bewusst Informationen zum 20. Aprilzurückhält, wenn nicht gar vorsätzlichÖffentlichkeit und Regierung täuscht«, urteilt ErikaBolstad vom Medienkonzern McClatchy einen Monat später. Offenbarfuhr BP von Beginn eine Kampagne, die verhindern sollte, dassJournalisten das ganze Ausmaß des Versagens der Firma aufdecken.Glücklicherweise gelang dies dem Konzern nicht. Als BP Ende Maieine ganzseitige Anzeige in den großen Tageszeitungen schaltete– man beteuerte, alles Menschenmögliche zu tun –,gingen viele Blogger und Journalisten auf die Barrikaden.
BPs nächster Schachzug: Bei Google und Yahoo kaufte der KonzernSuchwörter wie »Öl-Katastrophe«,»Golf-Desaster« oder »BP«, sodass die eigeneSeite ganz oben auf der Trefferliste erschien – mit derUnterzeile: »Lerne mehr darüber, wie BP hilft«. Kritikerntete das Unternehmen auch, als es Purple Strategies anheuerte, eineFirma zweier Veteranen der Politikberatung. Sie lancierten eine 50Millionen Dollar-Werbekampagne, die den Amerikanern versprach, dass»BP das richtig macht«.
Laut BP erholt sich die Katastrophenregion
Ende Juni wiederum bekam das Wall Street Journal das BP-MagazinPlanet BP in die Hände. Darin zeichnete ein»BP-Reporter« ein hoffnungsvolles Bild der laufendenKatastrophe. In dem Artikel behauptet er sogar, dass es den Bewohnernder Golfküste sehr gut ginge, die Region prosperiere. DerTimes-Picayune aus New Orleans veröffentlichte einen Artikelüber bp.com. Dort mache man sehr grenzwertige Propaganda. Need toKnow zitierte die Homepage: »Schauen Sie sich diese Clips an undSie werden ein Gespür dafür bekommen, was BP Sie wissenlassen möchte. Sie werden lernen, dass das Unternehmen einerLebensmittelhilfe eine Million Dollar gespendet hat, um denen zuhelfen, deren Einkommen vom Öl weggespült wurde. Sie werdensehen, dass BP arbeitslose Arbeiter anstellt, um Strände und Tierevom Öl zu säubern. Sie werden sehen, dass BP den Golfstaatensogar Geld überwiesen hat, damit diese für ihreSeafood-Industrie werben.«
Mit seinem PR-Konzept wollte BP schlicht verhindern, dassJournalisten treffendere Darstellungen der Geschehnisse im Golfverbreiten. Die Küstenwache und die lokalen Behörden machtenes den Journalisten keineswegs leichter. Ende Mai kamen erste Berichte,wie Journalisten der Zugang zu Stränden oder der Flug überdas Unglücksgebiet verweigert wurde. Diese Probleme gibt es bisheute.
Am 15. Juli konnte BP eine Kappe auf das Bohrloch setzen, und zumersten Mal seit April schoss kein Öl mehr ins Meer. Der Fokus derMedien verschob sich von der Eindämmung des Öls hin zurReinigung. Und wieder machten einige Journalisten dieselben Fehler wiezu Beginn der Katastrophe: Am 4. August veröffentlichte die NewYork Times auf ihrer Titelseite einen Aufmacher über eineoffizielle Berechnung, in der es hieß, dass man durch Einfangen,Abschöpfen, Verbrennen, Verdunstung, Auflösung undZerstreuung mit 74 Prozent des ausgelaufenen Öls fertig gewordensei. Die Times berichtete, dass der Rest »so verwässert ist,dass davon keine weitere Gefahr mehr auszugehen scheint«. VieleRedaktionen wiederholten diese Aussagen.
Wie in ihrem ersten Bericht über die ausbleibende Apokalypsestellte die New York Times Behauptungen auf, die sie nicht belegenkonnte. Sie genügte dabei nicht einmal simplen Ansprüchen anseriöse Berichterstattung. In den Wochen danach fanden vieleNachrichtenredaktionen eine Vielzahl unabhängiger Experten, diedie optimistischen Untersuchungen der Regierung mehr als nuranzweifelten. Nach vielen Studien und Aussagen kompetenter Experten inden letzten beiden Monaten wird immer klarer, dass die Gefahren nunwahrscheinlich vorbei sind. Die seriösen Berichte betonen aberimmer wieder, dass alle Einschätzungen mit einem hohen Grad anUngewissheit getroffen werden.
Journalisten müssen kritischer sein
Am 19. September wurde das Leck offiziell fürgeschlossen erklärt. Und auch die Berichterstattungversickert. Die Geschichte ist jedoch noch lange nicht zu Ende. DieAufräum- und Rekultivierungsarbeiten dauern an,sozioökonomische Auswirkungen und die Beeinträchtigung derUmwelt werden spürbar bleiben. Und auch rechtliche Ansprücheund Verfahren werden noch über Jahrzehnte verhandelt werden. Esgehört zu den Aufgaben der Presse, das alles zu durchschauen. Einpositives Beispiel: Die Society of Environmental Journalists betreibteine Website mit dem Namen The Daily Glob, die Geschichten überdie Katastrophe bündelt.
Es gibt viele, zum Teil verworrene Zugänge zu dieserKatastrophe. Wenn Journalisten sie zu entwirren versuchen,werden sie zwangsläufig auf größeren Widerstandstoßen: von Mineralöl-Konzernen, Bundesbehörden undauch Teilen der Öffentlichkeit. Man kann nur hoffen, dass dieJournalisten in den vergangenen sechs Monaten gelernt haben, kritischzu denken, hartnäckig zu fragen und keine falschen Behauptungen zukolportieren.
Kommentar hinterlassen