#nr15 Spezial | Interview | Presserecht
„Aus Journalisten werden Märchenerzähler“
Wenn Journalisten als Lügner beschimpft werden, stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit? Message fragt nach. Teil 2: Rechtsanwältin Patricia Cronemeyer
Ein Interview von Anna Ullrich
Message: Wie definieren Sie den Begriff Wahrheit aus juristischer Perspektive? Warum ist es manchmal so schwierig die Wahrheit zu finden?
Cronemeyer: Die Wahrheit im juristischen Sinne bezieht sich auf Tatsachen und muss sich durch Beweise in einem gerichtlichen Verfahren klären lassen – zum Beispiel durch Vernehmung von Zeugen. Die Wahrheit ist jedoch keine objektiv feststehende Größe, sondern hängt in der Rechtswissenschaft stets auch von der subjektiven Sicht des Rechtsanwenders ab. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters und wird von jedem anders wahrgenommen. Jeder Zeuge erlebt eine bestimmte Situation anders und gibt sie daher später auch unterschiedlich wieder. Auch der Richter lässt sich durch seine eigenen Erfahrungen und Wertanschauungen unbewusst leiten, die zwangsläufig seine Entscheidungsfindung beeinflussen.
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den aktuellen Journalismus?
Journalismus ist zweifellos ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie und die Journalisten werden nicht umsonst als öffentlicher „Wachhund“ in unserem Staatswesen bezeichnet. Der aktuelle Journalismus leidet jedoch unter einem enormen Aktualitätsdruck, der durch das Internet noch einmal massiv zugenommen hat. Viele Journalisten wollen die ersten sein, die eine Story bringen, obwohl vielleicht noch weiter recherchiert werden müsste. Die Rechtsprechung hat sich schon häufig mit Fällen beschäftigen müssen, in denen Geschichten oder Interviews bewusst erfunden werden, nur um exklusiv berichten und Kosten einsparen zu können. Aus Journalisten werden dann Märchenerzähler. Vor diesem Hintergrund drohen zwangsläufig Qualitätsverluste und das Risiko von Rechtsverletzungen steigt. In der Boulevardberichterstattung ist häufig auch die ungeprüfte Übernahme einer Schlagzeile von Leitmedien problematisch. Wird darin zum Beispiel ein Prominenter verdächtigt eine Straftat begangen zu haben, wird die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch die ungeprüfte Übernahme der Schlagzeile in weiteren Medien noch einmal weiter vertieft.
Ist der Vorwurf „Lügenpresse“ nachvollziehbar?
In dieser Pauschalität sicherlich nicht. Es gibt jedoch nachweislich eine Vielzahl an Zeitungen – insbesondere im Bereich er Regenbogenpresse – , deren Geschäftsmodell auf Unwahrheiten und Persönlichkeitsrechtsverletzungen basiert. Bei diesen „Revolverblättern“ soll der Leser bereits auf der Titelseite mit einer Schlagzeile geködert werden – zu Beispiel „Krebsdrama im Königshaus“. Erst im Innenteil wird diese Schlagzeile dann in eine völlig andere Richtung aufgelöst: Der Hofhund hat ein Geschwür. Derartige Geschäftsmodelle, bei denen Rechtsverletzungen von vornherein einkalkuliert werden und sich in klingender Münze auszahlen, sehen wir sehr kritisch. Mit Journalismus im klassischen Sinne hat dies nur noch wenig zu tun.
Was glauben Sie ist der Grund für den wachsenden Vertrauensverlust in deutsche Medien?
Es kommt darauf an, um welche Medien es konkret geht. So wird der Zuschauer Meldungen der „Tagesschau“ im Regelfall für glaubwürdig halten. Bei der „Tagesschau“ kann sich der Zuschauer auch regelmäßig darauf verlassen, dass umfangreich recherchiert wurde, während die Regenbogenpresse zumeist keine oder unvollständige Recherchen für ihre Geschichten anstellen. Einen weiteren Grund sehe ich in der verschwimmenden Grenze zwischen redaktionellem Inhalt und Werbung: Auch seriöse Zeitungen räumen ihren Anzeigenkunden einen immer größeren Einfluss bis hin zur Veröffentlichung von redaktionellen Beiträgen ein. Diese sind häufig nichts anderes als getarnte Werbung und untergraben die Unabhängigkeit und Neutralität einer Zeitung. Darunter leidet zwangsläufig auch die Qualität der Medien.