#nr22 | Gemeinnütziger Journalismus
Im Osten viel Neues (12. Oktober 2022)
Der Lokaljournalismus in Ostdeutschland erfindet sich neu. Für die Gründer*innen bedeutet das einen Balanceakt zwischen den Herausforderungen und Potenzialen der Region
von Alexandra Tornow
Der Lokaljournalismus in den ostdeutschen Bundesländern befindet sich im Aufbruch. Das zeigen verschiedene Start-ups, die das regionale Medienangebot mit ambitionierten Projekten erweitern. Die Gründer*innen stellen sich dabei einer schwierigen Ausgangslage. „Es bringt ja nichts, weiter in einer Lokalredaktion zu hocken und zu sehen, wie da die Leser schwinden und die Kollegen immer weniger werden“, sagt Christine Keilholz. Sie ist die Gründerin von Neue Lausitz, einer Online-Publikation, die den Strukturwandel in der brandenburgischen und sächsischen Region thematisiert. Seit Anfang 2022 schickt sie wöchentlich Newsletter an ihre Abonnent*innen, größtenteils Personen, die sich ihrerseits am regionalen Strukturwandel beteiligen.
Klein und agil
Ob der digitale und zielgruppenorientierte Newsletter eine Art Tageszeitung von morgen werden kann, bleibt abzuwarten. Der Bedarf nach lokalen Informationen sei aber nach wie vor da, meint Keilholz. Dörthe Ziemer, die Gründerin des Online-Magazins Wokreisel, stimmt zu. Für den brandenburgischen Landkreis Dahme-Spreewald berichtet sie seit Mai 2021 über Gesellschaft, Politik und Kultur. Dabei setzt sie wie viele neue Lokalmedien auf Tiefgründigkeit. Statt hektisch gefüllter Zeitungsseiten will das Wokreisel-Team lieber im Wochentakt gründliche Recherchen anbieten.
Wer Pionier*in sein will, muss sich trauen, neue Wege einzuschlagen. Sowohl Ziemer als auch Keilholz waren zwar zuvor schon im Lokaljournalismus tätig, doch Unternehmertum will auch gelernt sein. „Suchen, finden, ausprobieren“, beschreibt Ziemer den Entwicklungsprozess von Wokreisel. Während die gelernte Journalistin versucht, zwischen dem Online-Magazin und ihrem zweiten Standbein als Freie im PR-Bereich die Balance zu halten, beschäftigt Keilholz besonders die Autor*innensuche für Neue Lausitz: „In einer Region wie der Lausitz Autoren zu finden, die den thematischen Background und das Handwerkszeug haben, um eine solche Publikation zu bespielen, das ist nicht so leicht“. Die Start-ups können weder von etablierten Medienhäusern profitieren, die ihnen den Rücken stärken, noch sind die ostdeutschen Regionen als große Medienstandorte bekannt. Gerade kleine Medienstandorte seien aber ideal, um solche neuen Projekte auszuprobieren, meint Henryk Balkow vom Mediennetzwerk Thüringen (MENT): „Wir können die Vorreiter sein, weil wir klein und agil sind.“ MENT bringt Medienunternehmen, Freiberufler*innen und Journalist*innen zusammen und will unter dem Motto „Kooperation statt Konkurrenz“ neue Ideen fördern – auch im Lokaljournalismus.
Das Risiko, dass sich ein Projekt nicht zu dem entwickelt, was sich die Gründer*innen zu Beginn vorgestellt hatten, besteht durchaus. So endete im Juni Der Bus, ein sechsmonatiges Pilotprojekt von Krautreporter und dem Medieninnovationszentrum Babelsberg, für das auch Keilholz als Redakteurin tätig war.
Viele sind auf Fördermittel angewiesen
Das digitale Stadtmagazin für Cottbus hielt in seinem Newsletter junge Cottbuser*innen über das Geschehen in der brandenburgischen Stadt auf dem Laufenden. Zum Ende des Förderzeitraums habe sich aber keine nachhaltige Finanzierung eingestellt, hieß es im letzten Newsletter. Dass sich ostdeutsche lokaljournalistische Projekte aber auch etablieren können, beweist Katapult MV. Mehr als 5.000 Unterstützer*innen finanzieren mittlerweile die im Juni 2021 gegründete Redaktion, die neben ihrem Hauptsitz in Greifswald ein Lokalbüro in Rostock betreibt und weitere Standorte aufbauen will. Das Print-Magazin für Mecklenburg-Vorpommern erhalten Abonnent*innen einmal im Monat mit exklusiven Beiträgen, während die aktuelle Berichterstattung auf der Website und auf Social Media überwiegend kostenlos ist.
Von ähnlichen Abozahlen sind die meisten Start-ups noch weit entfernt. Dennoch finanziert sich Neue Lausitz einzig über Abonnements, anfangs mussten eigene Rücklagen herhalten. Den Preis für ihr Angebot legt Keilholz je nach Interessent*in fest – Privatpersonen zahlen weniger als Unternehmen, bei denen mehrere Personen mitlesen. Wokreisel lebt seit Gründungsbeginn von Fördermitteln des Landes Brandenburg und des Grow-Stipendiums von Netzwerk Recherche und wird auch im kommenden Jahr auf Fördermittel angewiesen sein. Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg unterstützte 2022 zum zweiten Mal in Folge 32 lokaljournalistische Projekte mit insgesamt einer Million Euro. Wokreisel-Leser*innen haben dadurch kostenfrei Zugriff auf die Inhalte, nur der Newsletter ist seit August kostenpflichtig. Die Fördermittel gaben Ziemer die Sicherheit und gleichzeitig die Freiheit, etwas Neues auszuprobieren: „Ich habe jetzt keinen Businessplan, der 10, 15 Jahre trägt. Aber ich denke, so geht’s dem Lokaljournalismus auch – der hat auch keinen Businessplan für die nächsten 20 Jahre.“
Wider die Spaltung
Nicht nur wegen finanzieller Unsicherheiten braucht es Mut, sich mit Lokaljournalismus selbstständig zu machen und kritisch zu berichten. Laut dem European Centre for Press and Media Freedom nahm 2021 die Zahl der Angriffe auf Lokaljournalist*innen in Deutschland zu. Angefeindet wurden Keilholz und Ziemer bislang nicht – auch wenn in den Landkreisen, aus denen sie berichten, einige Populist*innen und Kohleausstiegsgegner*innen den Medienverdruss befeuern. Im Schnitt stehen Ostdeutsche den Medien etwas skeptischer gegenüber, bestätigt Christopher Pollak vom Zentrum Journalismus und Demokratie der Universität Leipzig. Dass ostdeutsche Lebenswelten seltener medial aufgegriffen werden, sei eine mögliche Erklärung dafür. Westdeutsche sind bundesweit in Führungspositionen der Leitmedien überrepräsentiert und fast alle Regionalzeitungen, die im Osten erscheinen, gehören westdeutschen Verlagen, zeigte eine Untersuchung von Lutz Mükke für die Otto Brenner Stiftung.
Ob bewusst oder nicht: die Neugründungen steuern dieser medialen Spaltung entgegen. Für Pollak ist das ein Grund zur Hoffnung. Denn wenn vermehrt regionale Perspektiven journalistisch dargestellt werden, könnte das Medienvertrauen vor Ort gestärkt werden. Trotz vieler Hürden steckt in den Projekten somit das Potenzial für Veränderungen – im Lokaljournalismus und in der ostdeutschen Öffentlichkeit.