Parameswaran und Gaedtke empfangen uns im Studio ihrer Produktionsfirma NowHereMedia in Berlin – zwei Räume voller Kameras, Computer und Kabel in einem alten Industriegebäude an der Grenze zwischen Alt-Treptow und Neukölln. In ihrem aktuellen Werk „Home after War“ haben sie das vom Krieg gezeichnete Haus ihres irakischen Protagonisten Ahmaied Hamad Khalaf virtuell aufwändig nachgebaut. Der mit einer VR-Brille ausgestattete Zuschauer kann im Haus herumlaufen oder sich mithilfe eines Controllers an andere Orte im Haus teleportieren, um Ecken und aus Fenstern schauen, aufs Dach steigen und der Familie beim Essen Gesellschaft leisten. Die real wirkende Umgebung lenkt nur anfangs von der Geschichte ab, die der Protagonist erzählt. Ahmaieds Geschichte handelt von Zerstörung, Angst und Trauer, aber auch von Familie und Hoffnung.
Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke wollen mit ihrer Arbeit Bewusstsein und Empathie wecken. Foto: von Eisenhart Rothe
Message: Was erwartet den Zuschauer, wenn er „Home after War“ sieht?
Felix Gaedtke: Der Zuschauer hat die Möglichkeit, nach Falludscha zu kommen, dort unseren Protagonisten zu treffen und seine Geschichte zu erfahren.
Gayatri Parameswaran: Besonders dabei ist die Präsenz im Haus unseres Protagonisten. Wir haben Fotogrammetrie – eine Messmethode, um die räumliche Lage oder die dreidimensionale Form eines Objekts zu bestimmen – benutzt bei diesem Film. Dadurch kann man sich in einem virtuellen Raum bewegen. Das gibt den Zuschauern die Möglichkeit, wirklich dort zu sein. Das ist etwas Besonderes, denn der Irak und Falludscha sind keine Orte, die man häufig besucht.
Wie genau kam es zu der Idee?
Gaedtke: Das Ganze ist Teil des Programms „Oculus VR for good“. Oculus, eines der führenden Technologieunternehmen in Sachen VR, hat Filmemacher und NGOs zusammengebracht. Wir wurden mit dem GICHD gepaart, dem Geneva International Center for Humanitarian Demining. Die machen Policy Work, also inhaltliche, politische Arbeit, zu Minenräumung. Wir haben dann recherchiert und es standen verschiedene Länder und Geschichten zur Debatte. Es gibt viele Länder, die Probleme mit Minen haben, etwa Kambodscha oder Kolumbien. Eine neue Qualität stellen aber die Sprengfallen in Häusern und Wohngebieten dar, die der IS im Irak und in Syrien eingesetzt hat. Der IS wurde aus vielen Gebieten vertrieben, die Fallen blieben aber.
Parameswaran: Wir haben auch mit vielen Minenexperten gesprochen, die das, was sie jetzt im Irak und in Syrien erleben, diesen massenhaften und vor allem chaotischen Gebrauch von IEDs (Anm. d. Red.: improvised explosive device), also selbstgebastelten Sprengvorrichtungen, noch nie woanders gesehen haben.
Wie muss man sich die Planung und die Umsetzung vorstellen? Es ist ja wahrscheinlich auch für euch gefährlich gewesen, in diese Region zu fahren.
Parameswaran: Auf jeden Fall. Wir hatten von Anfang an eine lokale Produzentin. Sie hat uns ständig begleitet. Wir hatten schon im Vorfeld Kontakt zu ihr, sie hat uns viele Ratschläge gegeben. In einem Kriegsgebiet ist es sehr wichtig, jemanden vor Ort zu haben, dem du hundertfünfzigprozentig vertrauen kannst.
Gaedtke: Wir haben beide Hostile Environment Trainings und First Aid Trainings absolviert, schon für andere Projekte. Und man macht vorher auch immer Risikoanalysen, wo man sich genau überlegt: Wohin kann man gehen? Was sind die möglichen Gefahren? Wie bewegen wir uns am besten da? Wie viel Zeit braucht man einen bestimmten Ort? In Syrien haben wir zum Beispiel ganz anders gearbeitet. Dort probiert man immer die Zeit, die man an einem Ort ist, zu minimieren, weil du damit das Entführungsrisiko senkst. Bei diesem Projekt ging das nicht, weil wir jeden Tag im gleichen Haus gearbeitet haben.
Habt ihr euch manchmal unsicher gefühlt?
Parameswaran: Wir hatten einen Militärkonvoi, der uns immer begleitet hat. Abends haben die immer Druck gemacht, bei Sonnenuntergang wollten sie zurückfahren. Weil es noch IS-Schläferzellen in Falludscha gibt, es ist noch nicht ganz sicher. Wir haben immer ein bisschen verhandelt, zehn Minuten noch, zwanzig Minuten noch (lacht).
Also wart ihr so drin im Projekt, dass das Militär mehr Angst hatte als ihr?
Gaedtke: Naja, die haben das mehr im Blick. (lacht)
Parameswaran: Eine weitere Gefahr waren die Sprengfallen selber. Man durfte nur den Spuren der vorfahrenden Autos folgen. Zwischen den Spuren hat man die Auslöserplatten der Minen gesehen.
Gaedtke: Was ich persönlich am schwierigsten fand war aber gar nicht unbedingt die Gefahr an sich, sondern die Hoffnung, die Leute in einen setzen, wenn du Interviews mit ihnen führst. Wir haben viele Leute getroffen, die selbst Opfer sind oder Angehörige verloren haben. Für die ist es ein großes Ventil, mal mit jemandem zu sprechen. Weil da nie jemand gekommen ist und sich um die gekümmert hat, sei es vom Staat oder von den Medien. Deshalb projizieren sie wahnsinnig viel Hoffnung in deinen Besuch. Das ist eine Verantwortung, der man so direkt gar nicht gerecht werden kann, weil so eine Geschichte ja nicht zwangsläufig was für die eine Familie direkt bewirkt, sondern die Hoffnung auf Veränderung eher etwas Abstraktes ist.
Was muss man beachten, wenn man eine Geschichte in Virtual Reality erzählt? Was ist der Unterschied zum normalen Dokumentarfilm?
Parameswaran: Es gibt zum Beispiel eine Explosion in „Home after War“. Für mich war es eine schwierige Frage, wie man die zeigen sollte. Wir haben lange überlegt und uns schließlich dazu entschieden, sie nicht direkt zu zeigen. Erstens, weil das sehr stark auf Menschen wirken kann, die die Brille aufhaben und den Film sehen. Zweitens könnte das sehr schnell geschmacklos wirken, weil wir so ein ernstes Thema behandeln. Ich glaube, dass es gerade bei Virtual Reality eine wichtige Frage ist, wie viel man dem Publikum zumuten kann. Meine Regel ist: Weniger ist mehr, nur um sicherzugehen. Als Storyteller verlangt man schon viel von seinem Publikum: Sie müssen eine Brille aufsetzen und einen Controller benutzen, sich in eine fremde Situation begeben. Sie darüber hinaus noch gewaltsamen Szenen auszusetzen, das wäre zu viel für mich. An dieser Stelle muss man als Journalistin eine ethische Linie ziehen. Wir haben uns so entschieden, aber jeder Journalist oder Storyteller hat das Recht, diese Grenze für sich selbst zu ziehen. Denn manche könnten sehr gute Gründe dafür haben, ihr Publikum sehr unbequemen Situationen auszusetzen.
Felix Gaedtke ist deutscher Filmproduzent, Fotograf und Multimedia-Journalist. Als freier Journalist und Dokumentarfilmer hat Gaedtke unter anderem bereits für Al Jazeera English, Deutsche Welle und das ZDF gearbeitet. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf sozialen, politischen und kuluturellen Aspekten. Gaedtke ist Mitgründer des Berliner VR-Produktionsstudios NowHere Media und ist spezialisiert auf das immersive und virtuelle Storytelling mittels Dokumentarfilm, Fotografie und Journalismus. Foto: Gaedtke
Gaedtke: Pauschal ist es gar nicht so einfach, was VR Storytelling vom klassischen Dokumentarfilm unterscheidet. Erst mal kommt es darauf an, was für eine Technik man verwendet. Wir haben ja Fotogrammetrie und 360-Grad-Videos benutzt. Bei beiden ist es wichtig, dass man die Räumlichkeiten immer mitdenkt, weil der Raum Teil der Geschichte ist. Man muss auch auf eine gewisse Art und Weise Kontrolle abgeben. In einem Dokumentarfilm schneide ich Bild an Bild, Frame an Frame, ich bin Gott. Ich entscheide, was du siehst. Wenn man es zugespitzt sagen will: Filmemachen ist Faschismus , VR ist Anarchie. Beim einen bestimme ich alles, beim anderen kann ich gar nicht viel bestimmen, sondern gebe Leuten einen Raum und schaue dann, wie sie damit umgehen. Wir hatten sicher fünfzig Leute zum Testen hier und haben immer wieder gemerkt, dass irgendetwas nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht haben. Außerdem ist das Publikum völlig unterschiedlich. Junge Leute, die schon mal Computerspiele gespielt haben, können ganz anders damit umgehen als zum Beispiel mein Vater, der völlig verwirrt ist und nicht weiß, was er da macht. Darauf muss man sich auch einstellen. Das coole an VR ist die Möglichkeit, non-lineare Geschichten zu erzählen und dass die Leute selber ihre Geschichte bauen.
Welche Möglichkeiten bieten sich dem Publikum da bei „Home after War“?
Gaedtke: Ich finde es sehr spannend, dass Leute immer Sachen im Haus finden, die für jeden individuell etwas anderes bedeuten. Wenn mir jemand sagt: „Hey, diese komische Mikrowelle ist genau die gleiche, die meine Oma in der Küche hat“, dann hat er eine krasse Beziehung zu der Geschichte und zu dem Ort wegen so eines eigentlich unwichtigen Details.
Ihr habt die besondere Gefahr von expliziten Darstellungen angesprochen. Kann man also in VR weniger zeigen als in einem normalen Film?
Parameswaran: Es ist schwierig, das so generell zu sagen. Wenn man das erste Mal VR erlebt, hat das etwas Überwältigendes. Es gibt Forschung dazu, dass in VR Erlebtes im Gehirn wirklich als Erlebnis abgespeichert wird, nicht als Erinnerung. Man nimmt es also ganz anders wahr als einen Film. Das darf man als Storyteller nicht vergessen, man muss sensibel sein. Gleichzeitig gibt es aber keine festen Regeln. Wir sind in einer Phase, in der sich das Medium erst noch formt. Vielleicht würde man diese Frage in fünf oder zehn Jahren ganz anders beantworten, weil das Publikum sich an VR gewöhnt hat. Das erste Mal, als Menschen in einem Kino saßen und auf der Leinwand einen Zug auf sich zufahren sahen, haben sie panisch das Kino verlassen, weil es auf sie so realistisch wirkte.
Ihr gebt euren Projekten das Label „Constructive Virtual Reality“. Was bedeutet konstruktiver Journalismus für euch?
Gaedtke: Ganz grundsätzlich: Dass es problematisch ist, wenn man die Welt nur als etwas Negatives empfindet. Dieser „negative news bias“, dieses Gefühl, dass wir alle den Kopf in den Sand stecken können, bringt uns nicht weiter. Ich bin überzeugt davon, dass es helfen kann, wenn man Lösungsansätze oder auch Hoffnung zeigt. Ob „Home after War“ jetzt so super konstruktiv ist, sei mal dahingestellt. Aber am Ende haben wir ein Zitat von unserem Protagonisten, wo man sieht, dass er Hoffnung hat für die Welt und was er sich wünscht. Und da habe ich immer das Gefühl, wenn jemand noch Hoffnung hat, der zwei Söhne verloren hat, der wirklich kein einfaches Leben hat, wer sind dann wir, keine Hoffnung zu haben? Aktuell arbeiten wir an einem Projekt zu Kinderarmut. Eine Protagonistin kommt aus einer schwierigen Familie, die Eltern sind drogenabhängig, sie ist immer wieder zwischen Vater und Mutter hin und her umgezogen, zig Jugendämter sind involviert. Aber sie ist in einem Kinderzirkus, der ihr wahnsinnig viel gibt. Und es ist so schön zu sehen, dass man so eine Geschichte erzählen und sagen kann: Es ist nicht nur alles schlimm, sondern sie ist auch positiv, lacht, hat eine gute Zeit und findet ihren Weg. Das soll nicht heißen, dass man nicht beschreibt, was für ein Riesenproblem sie hat.
Bei eurem Vortrag auf der diesjährigen re:publica in Berlin habt ihr gesagt, dass es euch wichtig ist, Bewusstsein und Empathie zu wecken, aber auch betont, dass konstruktiver Journalismus für euch auf keinen Fall aktive Fürsprache für eine Sache bedeutet. Wie schmal ist der Grat zwischen diesen beiden Dingen?
Parameswaran: Ich glaube es geht darum, die ganze Realität im Blick zu behalten. Nur weil man eine
Gayatri Parameswaran ist VR- und 360-Grad-Film Produzentin sowie freie Journalistin aus Indien, lebt aktuell aber in Berlin. Unter anderem arbeitete sie bereits für Al Jazeera Englisch, Radio Netherlands Worldwide oder The Carvan. Parameswarans Arbeit fokussiert sich auf den Erhalt und den Einsatz für Menschenrechte. Die freie Journalistin konzentriert sich dabei auf Geschichten aus Ländern, über die keine regelmäßige Berichterstattung stattfindet. So beispielsweise Hexenjagdt in Indien oder die Transgender Community in Nicaragua. Parameswaran ist Mitgründerin des Berliner VR-Studios NowHere Media. Foto: Gaedtke
mögliche Lösung aufzeigt, propagiert man noch kein Produkt oder eine bestimmte Art und Weise, etwas zu tun. Es geht darum, das ganze Bild zu zeichnen. Nehmen wir unser aktuelles Projekt als Beispiel: Alles hat mit der Statistik angefangen, dass jedes dritte Kind in Berlin auf Hartz IV angewiesen ist. Das ist schockierend. Da können wir ansetzen und zeigen, wie schlimm es ist. Gleichzeitig stößt man bei der Recherche aber auch auf viele Initiativen, die tolle Sachen machen, um den Kindern zu helfen. Wenn man also nur darüber spricht, dass jedes dritte Kind arm ist, aber die Hilfe verschweigt, die ihnen geboten wird, dann spricht man nicht über die ganze Wahrheit.
Gaedtke: Um den Bogen zu VR zu schließen: Wir leben alle in unserer eigenen Realität. Jeder von uns hat seine Wahrnehmung von der Umgebung. Aber wenn wir es schaffen, da ein bisschen mehr Austausch hinzubekommen, dass man sich ein bisschen mehr in eine andere Realität reinfühlen kann, kann das meiner Meinung nach sehr viel bringen.
Ihr habt euer aktuelles Projekt zu Kinderarmut in Berlin schon kurz angeschnitten. Wie wollt ihr diese Geschichte erzählen?
Parameswaran: Wir haben hauptsächlich mit 360-Grad-Videos gearbeitet, wollen aber eine Interaktivität innerhalb des 360-Grad-Storytellings erschaffen. Es wird also keine passive Erfahrung, wie es die meisten 360-Grad-Videos bisher sind. Ich freue mich sehr darauf, in der Testphase herauszufinden, was funktioniert, wie man das Publikum involvieren kann, indem jeder seine eigenen Erzählstränge wählt.
Glaubt ihr, dass VR-Geschichten für den Journalismus immer wichtiger werden?
Gaedtke: Ja, ich glaube schon. Das Problem ist, dass es noch nicht genug VR-Devices gibt und dass die ganzen Brillen, die es schon gibt, eigentlich scheiße sind. Niemand hat wirklich Lust, die zu benutzen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis es da quasi das iPhone der VR-Brillen gibt. Außerdem glaube ich, dass VR in der öffentlichen Wahrnehmung oft etwas ist, wo es darum geht, aus der Realität in eine Fantasiewelt zu entfliehen. Aber dass man das eben auch nutzen kann, um Realitäten zu teilen und zu erfahren, was andere Realitäten für die eigene bedeuten können, wird noch zu wenig gesehen.
Die Fragen stellten Tim van Olphen und Yannick von Eisenhart Rothe