Kommunikationswissenschaft
Nur touchiert? Wie Sprache in Unfallberichten das Denken formt (5. August 2021)
Medienberichte über Verkehrsunfälle prägen unser Bild von dem, was passiert ist. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das Wie bei der Berichterstattung entscheidend ist. Fuß- und Radverkehrsaktivist:innen kritisieren, Medien seien bei Unfallberichten oft verharmlosend. Ob das so ist und was das mit der Arbeit der Polizei zu tun hat, hat Paul Meerkamp analysiert.
von Paul Meerkamp
„Ein Radfahrer ist bei einem Unfall schwer verletzt worden. Zuvor hatte ihn ein Auto mit Anhänger touchiert“, beschreibt der Weserkurier einen Unfall. Ähnlich klingt ein Bericht aus Stuttgart: „Bei einem Überholmanöver touchiert ein Lastwagen einen Rollerfahrer.“ Der Rollerfahrer wird schwer verletzt. „Ein Wort wie ‚touchieren‘, also ‚berühren‘, macht die physikalische Heftigkeit nicht ausreichend deutlich“, meint Roland Stimpel, Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland. In Unfallberichten sei viel Beschönigung dabei: „Ich bevorzuge eher Ausdrücke wie ein Fahrzeug ‚rammte‘ jemanden.“
Nach vielen schweren Unfällen, gerade bei Beteiligung von Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen, entbrennt in sozialen Netzwerken und Lokalzeitungen eine Diskussion: Wie berichtet man angemessen über Verkehrsunfälle? Rund 385.000 Verletzte gab es 2019 bei Unfällen im Straßenverkehr in Deutschland, etwa 3.000 Menschen starben. In solchen Fällen gibt die Polizei im Anschluss Pressemitteilungen heraus. Und hier beginnt die Spur, weshalb Berichterstattung über Verkehrsunfälle bestimmte Wörter oder Sichtweisen enthält.
Verharmlosend oder neutral – ein Streit um die Wortwahl
Wenn es schnell gehen muss, tendieren Journalist:innen dazu, Formulierungen aus Polizeimeldungen zu übernehmen. Und schnell gehen muss es immer öfter, Journalist:innen geben in Befragungen an, immer weniger Zeit für eigene Recherchen zu haben. Doch die Sprache der Polizei enthält Begriffe wie „touchieren“, „erfassen“ oder „übersehen“, die sich dann auch in Medienberichten wiederfinden. Stimpel findet die Wörter verharmlosend: „Richtig gefährlich wird es aus meiner Sicht, wenn ein Unfall durch Ausdrücke für schicksalhaft erklärt wird“, findet Stimpel. Weder Polizei noch Medien könnten wissen, ob ein Autofahrer nicht mehr bremsen konnte oder einen Unfall fahrlässig in Kauf genommen habe, etwa durch das Herumspielen am Handy.
Dabei gehe es auch ihm um Neutralität, die Formulierungen der Polizei seien aber eben nicht neutral. Die Einschätzung, welche Position Medien einnehmen, hängt jedoch von den Betrachter:innen ab: Das „Hostile-Media-Phänomen“ beschreibt, dass gerade Menschen mit stark ausgeprägten Überzeugungen Medieninhalte als konträr zu ihrer eigenen Meinung wahrnehmen – unabhängig von tatsächlichen Verzerrungen. So können Personen verschiedener Ansichten denselben Filmausschnitt jeweils zu ihren Ungunsten als verzerrt wahrnehmen. Während keine repräsentative Inhaltsanalyse über die Sprache in Unfallberichten vorliegt, lässt sich zumindest stichprobenartig zeigen, dass Begriffe wie „touchieren“ immer wieder vorkommen.
Durch die Brille der Autofahrer:innen
Fußverkehr-Aktivist Stimpel kritisiert jedoch nicht nur einzelne Wörter in der Medienberichterstattung über Unfälle, sondern auch die eingenommene Perspektive in den Meldungen der Polizei: „Man hat manchmal den Eindruck, dass die Polizeibeamten, die den Unfallbericht geschrieben haben, auf dem Beifahrersitz saßen.“ Auch der Fahrradverband ADFC beklagt, bei Unfällen zwischen Autofahrer:innen und Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen würde oft die Perspektive des Autofahrers eingenommen. Tatsächlich lassen sich dafür zahlreiche Beispiele finden, etwa wenn Menschen „plötzlich“ auf die Straße laufen oder betont wird, dass verunfallte Fußgänger „dunkel gekleidet“ waren.
Gerichte urteilen, dass dunkle Kleidung keine Mitschuld bei einem Verkehrsunfall bedeutet, wenn ansonsten die Verkehrsregeln eingehalten wurden. Im Gegenteil, laut Straßenverkehrsordnung müssen Autofahrer:innen bei schlechten Sichtverhältnissen so langsam fahren, dass sie auf Hindernisse reagieren können. Stimpel sieht zwei Gründe, warum diese Darstellungen in den Berichten zu finden sind: „Der eine ist makaber, gerade nach schweren Unfällen ist der Autofahrer oft der Einzige, der direkt danach noch reden kann.“ Und zweitens seien die Polizist:innen, die die Pressemitteilungen verfassen, meist selbst motorisiert unterwegs und Teil des Rechts- und Normensystems im „Autoland Deutschland“.
Die Polizeischulen verschiedener Bundesländer, bei denen angehende Beamt:innen auf das Verfassen von Unfallberichten vorbereitet werden, widersprechen dieser Einschätzung. So schreibt das Landesamt für Aus- und Fortbildung der NRW-Polizei: „Die Formulierungen sollen objektiv und neutral sein.“ Und weiter: „Vermutungen oder die Frage nach der Schuld sind nicht Bestandteil eines Unfallbefundberichtes.“ Ähnlich antwortet auch die Polizei-Akademie Niedersachen. Diese betont außerdem, Selbstreflektion und Perspektivwechsel gehörten zur Ausbildung von Polizist:innen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis.
Unfallberichterstattung – in welchem Rahmen?
Welche Folgen kann es haben, wenn auf die eine oder andere Art über Unfälle berichtet wird? Die wissenschaftliche Einschätzung, ob und wie Medien ihr Publikum beeinflussen können, hat sich über die Jahrzehnte verändert: Nach dem Aufkommen der Massenmedien ging man zunächst davon aus, Menschen seien sehr anfällig für direkte Manipulation durch Medieninhalte. Als sich das empirisch nicht bestätigen ließ, entwickelten sich Theorien „schwacher Medienwirkungen“. Diese gingen davon aus, dass Menschen so ausgeprägte Einstellungen haben, dass sich diese durch Medienkonsum kaum verändern lassen.
Heute geht man davon aus, dass es sich bei Medienwirkungen um „multiple, komplexe, mediatisierende und moderierende Prozesse“ handelt. Damit ist gemeint, dass Medien Menschen grundsätzlich beeinflussen können, Art und Ausmaß des Einflusses aber von weiteren Faktoren mitbestimmt werden. Dazu zählen Eigenschaften derjenigen, die einen Inhalt lesen, ansehen oder -hören, aber auch die Situation, in der das geschieht. Es macht also durchaus einen Unterschied, wie über Dinge berichtet wird. Dieses „Wie“ der Berichterstattung wird in der Kommunikationswissenschaft oft als Framing beschrieben, zu Deutsch „Rahmung“.
„Framing bedeutet, einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität auszuwählen und sie in einem Text so hervorzuheben, dass eine bestimmte Problemdefinition, kausale Interpretation, moralische Bewertung und/oder Handlungsempfehlung für den beschriebenen Gegenstand gefördert wird“, schreibt Robert Entman im Jahr 1993. Der US-amerikanische Professor lieferte damit eine bis heute prägende Definition des Konzepts. Die Idee dahinter: So wie ein Bild auf einen Betrachter anders wirkt, je nachdem, in welchem Rahmen es präsentiert wird, ist es auch bei Berichterstattung. Journalist:innen können verschiedene Teile der Realität betonen.
Wie Berichterstattung politisches Handeln beeinflussen könnte
Dass durch unterschiedliches Framing Verkehrsunfälle anders wahrgenommen werden, zeigt ein Experiment. Die Kommunikationswissenschaftler Rinaldo Kühne und Christian Schemer legten 72 Probanden zwei unterschiedliche Versionen eines Zeitungsartikels vor. In beiden wurde ein fiktiver Autounfall geschildert, der zum Tod eines Kindes führte. Die Varianten unterschieden sich jedoch im Framing: In der einen Version stand der Autofahrer als Täter im Mittelpunkt, weil er zu schnell gefahren sei. Die andere Version beschrieb vor allem das Opfer und stellte den Autofahrer nicht als Schuldigen dar.
Die Ergebnisse sind erstaunlich. „Leser des Täter-Frames gaben an, dass der Unfall durch ein Individuum verursacht wurde und deshalb hätte verhindert werden können“, schreiben die Wissenschaftler. Leser:innen des Opfer-Frames sagten, dass der Unfall nicht zu verhindern gewesen wäre. Der Täter-Fokus sorgte dafür, dass sich die Leser:innen eher für schärfere Strafen für Verkehrs-Verstöße aussprachen. Außerdem gab es in dieser Gruppe eine höhere Motivation, sich politisch für das Thema einzusetzen, beispielsweise durch eine Unterschriftensammlung.
Ihr Experiment passt zu Erkenntnissen zu verwandten Themen. Seit vielen Jahren beschäftigt Kommunikationswissenschaftler:innen die Frage, welche Auswirkungen Gewaltdarstellungen in Medien haben. Machen sie Menschen aggressiver? Die Antwort fällt differenziert aus. „Mediengewalt bewirkt in der Regel keine direkten Verhaltensänderungen, sondern prägt zunächst Realitätsvorstellungen, Wissens- und Einstellungsstrukturen sowie Gefühle“, fasst Katja Friedrich von der Ludwig-Maximilians-Uni München den aktuellen Forschungsstand zusammen.
„Gefühlte Realität“ im Straßenverkehr
Eine umfassende und repräsentative Untersuchung der Beschaffenheit von Berichterstattung über Verkehrsunfälle und deren Auswirkungen fehlt bisher. Eine repräsentative Befragung der Risikoforscher:innen Horst Müller-Peters und Nadine Gatzert zeigt: Während Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass andere bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglücken, deutlich überschätzen, unterschätzen sie massiv das Risiko von Unfällen mit Verletzungen. Dabei sind letztere in Deutschland rund 100-mal häufiger. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen und wahrgenommenen Risiken ist damit stark ausgeprägt, auch bei den Einschätzungen von Unfallursachen und -orten liegen die Befragten daneben.
Die Kritik von Fußverkehrs-Aktivist Stimpel, die Reaktionen der Polizeischulen und die kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen: Die Abbildung der Realität ist eine komplexe Aufgabe, zumal sich kaum absehen lässt, wie bestimmte mediale Botschaften beim Publikum ankommen und wirken. Im Bereich Verkehr liefert die Kommunikationswissenschaft im Gegensatz zu anderen Themen vergleichsweise wenig explizite Forschung. In Anbetracht der politischen Relevanz des Straßenverkehrs wird die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in der medialen Darstellung von Unfällen wohl weitergehen.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien zuerst im Tagesspiegel Background Verkehr.