Kommunikationswissenschaft

Nur touchiert? Wie Sprache in Unfallberichten das Denken formt (5. August 2021)

"Radfahrerin überrollt Rheinstraße 11.06.17" by Wiesbaden112.de is licensed under CC BY-NC-ND 2.0

Medienberichte über Verkehrsunfälle prägen unser Bild von dem, was passiert ist. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das Wie bei der Berichterstattung entscheidend ist. Fuß- und Radverkehrsaktivist:innen kritisieren, Medien seien bei Unfallberichten oft verharmlosend. Ob das so ist und was das mit der Arbeit der Polizei zu tun hat, hat Paul Meerkamp analysiert.

von Paul Meerkamp

„Ein Radfahrer ist bei einem Unfall schwer verletzt worden. Zuvor hatte ihn ein Auto mit Anhänger touchiert“, beschreibt der Weserkurier einen Unfall. Ähnlich klingt ein Bericht aus Stuttgart: „Bei einem Überholmanöver touchiert ein Lastwagen einen Rollerfahrer.“ Der Rollerfahrer wird schwer verletzt. „Ein Wort wie ‚touchieren‘, also ‚berühren‘, macht die physikalische Heftigkeit nicht ausreichend deutlich“, meint Roland Stimpel, Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland. In Unfallberichten sei viel Beschönigung dabei: „Ich bevorzuge eher Ausdrücke wie ein Fahrzeug ‚rammte‘ jemanden.“

Nach vielen schweren Unfällen, gerade bei Beteiligung von Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen, entbrennt in sozialen Netzwerken und Lokalzeitungen eine Diskussion: Wie berichtet man angemessen über Verkehrsunfälle? Rund 385.000 Verletzte gab es 2019 bei Unfällen im Straßenverkehr in Deutschland, etwa 3.000 Menschen starben. In solchen Fällen gibt die Polizei im Anschluss Pressemitteilungen heraus. Und hier beginnt die Spur, weshalb Berichterstattung über Verkehrsunfälle bestimmte Wörter oder Sichtweisen enthält.

Verharmlosend oder neutral – ein Streit um die Wortwahl

Wenn es schnell gehen muss, tendieren Journalist:innen dazu, Formulierungen aus Polizeimeldungen zu übernehmen. Und schnell gehen muss es immer öfter, Journalist:innen geben in Befragungen an, immer weniger Zeit für eigene Recherchen zu haben. Doch die Sprache der Polizei enthält Begriffe wie „touchieren“, „erfassen“ oder „übersehen“, die sich dann auch in Medienberichten wiederfinden. Stimpel findet die Wörter verharmlosend: „Richtig gefährlich wird es aus meiner Sicht, wenn ein Unfall durch Ausdrücke für schicksalhaft erklärt wird“, findet Stimpel. Weder Polizei noch Medien könnten wissen, ob ein Autofahrer nicht mehr bremsen konnte oder einen Unfall fahrlässig in Kauf genommen habe, etwa durch das Herumspielen am Handy.

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Touchiert oder gerammt? Sprache framed das Geschehene. Foto: Wiesbaden112.de/flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Dabei gehe es auch ihm um Neutralität, die Formulierungen der Polizei seien aber eben nicht neutral. Die Einschätzung, welche Position Medien einnehmen, hängt jedoch von den Betrachter:innen ab: Das „Hostile-Media-Phänomen“ beschreibt, dass gerade Menschen mit stark ausgeprägten Überzeugungen Medieninhalte als konträr zu ihrer eigenen Meinung wahrnehmen – unabhängig von tatsächlichen Verzerrungen. So können Personen verschiedener Ansichten denselben Filmausschnitt jeweils zu ihren Ungunsten als verzerrt wahrnehmen. Während keine repräsentative Inhaltsanalyse über die Sprache in Unfallberichten vorliegt, lässt sich zumindest stichprobenartig zeigen, dass Begriffe wie „touchieren“ immer wieder vorkommen.

Durch die Brille der Autofahrer:innen

Fußverkehr-Aktivist Stimpel kritisiert jedoch nicht nur einzelne Wörter in der Medienberichterstattung über Unfälle, sondern auch die eingenommene Perspektive in den Meldungen der Polizei: „Man hat manchmal den Eindruck, dass die Polizeibeamten, die den Unfallbericht geschrieben haben, auf dem Beifahrersitz saßen.“ Auch der Fahrradverband ADFC beklagt, bei Unfällen zwischen Autofahrer:innen und Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen würde oft die Perspektive des Autofahrers eingenommen. Tatsächlich lassen sich dafür zahlreiche Beispiele finden, etwa wenn Menschen „plötzlich“ auf die Straße laufen oder betont wird, dass verunfallte Fußgänger „dunkel gekleidet“ waren.

Gerichte urteilen, dass dunkle Kleidung keine Mitschuld bei einem Verkehrsunfall bedeutet, wenn ansonsten die Verkehrsregeln eingehalten wurden. Im Gegenteil, laut Straßenverkehrsordnung müssen Autofahrer:innen bei schlechten Sichtverhältnissen so langsam fahren, dass sie auf Hindernisse reagieren können. Stimpel sieht zwei Gründe, warum diese Darstellungen in den Berichten zu finden sind: „Der eine ist makaber, gerade nach schweren Unfällen ist der Autofahrer oft der Einzige, der direkt danach noch reden kann.“ Und zweitens seien die Polizist:innen, die die Pressemitteilungen verfassen, meist selbst motorisiert unterwegs und Teil des Rechts- und Normensystems im „Autoland Deutschland“.

Die Polizeischulen verschiedener Bundesländer, bei denen angehende Beamt:innen auf das Verfassen von Unfallberichten vorbereitet werden, widersprechen dieser Einschätzung. So schreibt das Landesamt für Aus- und Fortbildung der NRW-Polizei: „Die Formulierungen sollen objektiv und neutral sein.“ Und weiter: „Vermutungen oder die Frage nach der Schuld sind nicht Bestandteil eines Unfallbefundberichtes.“ Ähnlich antwortet auch die Polizei-Akademie Niedersachen. Diese betont außerdem, Selbstreflektion und Perspektivwechsel gehörten zur Ausbildung von Polizist:innen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis.

Unfallberichterstattung – in welchem Rahmen?

Welche Folgen kann es haben, wenn auf die eine oder andere Art über Unfälle berichtet wird? Die wissenschaftliche Einschätzung, ob und wie Medien ihr Publikum beeinflussen können, hat sich über die Jahrzehnte verändert: Nach dem Aufkommen der Massenmedien ging man zunächst davon aus, Menschen seien sehr anfällig für direkte Manipulation durch Medieninhalte. Als sich das empirisch nicht bestätigen ließ, entwickelten sich Theorien „schwacher Medienwirkungen“. Diese gingen davon aus, dass Menschen so ausgeprägte Einstellungen haben, dass sich diese durch Medienkonsum kaum verändern lassen.

Heute geht man davon aus, dass es sich bei Medienwirkungen um „multiple, komplexe, mediatisierende und moderierende Prozesse“ handelt. Damit ist gemeint, dass Medien Menschen grundsätzlich beeinflussen können, Art und Ausmaß des Einflusses aber von weiteren Faktoren mitbestimmt werden. Dazu zählen Eigenschaften derjenigen, die einen Inhalt lesen, ansehen oder -hören, aber auch die Situation, in der das geschieht. Es macht also durchaus einen Unterschied, wie über Dinge berichtet wird. Dieses „Wie“ der Berichterstattung wird in der Kommunikationswissenschaft oft als Framing beschrieben, zu Deutsch „Rahmung“.

„Framing bedeutet, einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität auszuwählen und sie in einem Text so hervorzuheben, dass eine bestimmte Problemdefinition, kausale Interpretation, moralische Bewertung und/oder Handlungsempfehlung für den beschriebenen Gegenstand gefördert wird“, schreibt Robert Entman im Jahr 1993. Der US-amerikanische Professor lieferte damit eine bis heute prägende Definition des Konzepts. Die Idee dahinter: So wie ein Bild auf einen Betrachter anders wirkt, je nachdem, in welchem Rahmen es präsentiert wird, ist es auch bei Berichterstattung. Journalist:innen können verschiedene Teile der Realität betonen.

Wie Berichterstattung politisches Handeln beeinflussen könnte

Dass durch unterschiedliches Framing Verkehrsunfälle anders wahrgenommen werden, zeigt ein Experiment. Die Kommunikationswissenschaftler Rinaldo Kühne und Christian Schemer legten 72 Probanden zwei unterschiedliche Versionen eines Zeitungsartikels vor. In beiden wurde ein fiktiver Autounfall geschildert, der zum Tod eines Kindes führte. Die Varianten unterschieden sich jedoch im Framing: In der einen Version stand der Autofahrer als Täter im Mittelpunkt, weil er zu schnell gefahren sei. Die andere Version beschrieb vor allem das Opfer und stellte den Autofahrer nicht als Schuldigen dar.

Die Ergebnisse sind erstaunlich. „Leser des Täter-Frames gaben an, dass der Unfall durch ein Individuum verursacht wurde und deshalb hätte verhindert werden können“, schreiben die Wissenschaftler. Leser:innen des Opfer-Frames sagten, dass der Unfall nicht zu verhindern gewesen wäre. Der Täter-Fokus sorgte dafür, dass sich die Leser:innen eher für schärfere Strafen für Verkehrs-Verstöße aussprachen. Außerdem gab es in dieser Gruppe eine höhere Motivation, sich politisch für das Thema einzusetzen, beispielsweise durch eine Unterschriftensammlung.

Ihr Experiment passt zu Erkenntnissen zu verwandten Themen. Seit vielen Jahren beschäftigt Kommunikationswissenschaftler:innen die Frage, welche Auswirkungen Gewaltdarstellungen in Medien haben. Machen sie Menschen aggressiver? Die Antwort fällt differenziert aus. „Mediengewalt bewirkt in der Regel keine direkten Verhaltensänderungen, sondern prägt zunächst Realitätsvorstellungen, Wissens- und Einstellungsstrukturen sowie Gefühle“, fasst Katja Friedrich von der Ludwig-Maximilians-Uni München den aktuellen Forschungsstand zusammen.

„Gefühlte Realität“ im Straßenverkehr

Eine umfassende und repräsentative Untersuchung der Beschaffenheit von Berichterstattung über Verkehrsunfälle und deren Auswirkungen fehlt bisher. Eine repräsentative Befragung der Risikoforscher:innen Horst Müller-Peters und Nadine Gatzert zeigt: Während Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass andere bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglücken, deutlich überschätzen, unterschätzen sie massiv das Risiko von Unfällen mit Verletzungen. Dabei sind letztere in Deutschland rund 100-mal häufiger. Die Diskrepanz zwischen tatsächlichen und wahrgenommenen Risiken ist damit stark ausgeprägt, auch bei den Einschätzungen von Unfallursachen und -orten liegen die Befragten daneben.

Die Kritik von Fußverkehrs-Aktivist Stimpel, die Reaktionen der Polizeischulen und die kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen: Die Abbildung der Realität ist eine komplexe Aufgabe, zumal sich kaum absehen lässt, wie bestimmte mediale Botschaften beim Publikum ankommen und wirken. Im Bereich Verkehr liefert die Kommunikationswissenschaft im Gegensatz zu anderen Themen vergleichsweise wenig explizite Forschung. In Anbetracht der politischen Relevanz des Straßenverkehrs wird die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit in der medialen Darstellung von Unfällen wohl weitergehen.

 Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien zuerst im Tagesspiegel Background Verkehr.

Kommunikationswissenschaft

Die mediale Spaltung Deutschlands (24. März 2021)

Ostdeutsche Journalisten sind in den Führungsetagen deutscher Leitmedien, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und selbst bei ostdeutschen Regionalzeitungen unterrepräsentiert. Gleichzeitig lesen Ostdeutsche kaum überregionale Medien mit Sitz in der alten BRD. Ein neues Diskussionspapier des Kommunikationswissenschaftlers Lutz Mükke im Auftrag der Otto Brenner Stiftung ergründet diesen Befund und skizziert dafür die Entwicklung der ostdeutschen Medienlandschaft vor und nach der Wende.

von Pia Seitler

Mehr als 30 Jahre nach der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland handelt der innerdeutsche Ost-West-Diskurs weiter von mangelnder Partizipation und Repräsentation. Die Rolle der Massenmedien war dabei lange eher selten ein Thema. Lutz Mükke, ostdeutscher Journalist, Message-Herausgeber und promovierter Kommunikationswissenschaftler, nimmt dies zum Anlass für das Diskussionspapier „30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung: Schreiben Medien die Teilung Deutschlands fest?“. Mükke untersucht darin die Entwicklung der Medien in Ostdeutschland seit der Wende.

Dass sich der Osten Deutschlands bis heute als „eine massenmedial multiple Problemzone“ erweist, konstatiert der Autor bereits im Vorwort. In einer anschließenden faktenreichen, historischen Analyse der Medienlandschaft Ostdeutschlands wirft Mükke einen Blick zurück in die Zeit vor und direkt nach der Wende. Für seine Recherche sprach er mit Medienakteur*innen und Wissenschaftler*innen über die Partizipation, Repräsentation und System-Loyalität der Ostdeutschen.

Goldgräberstimmung

Ein Ergebnis der Analyse Mükkes zur Medienlandschaft der DDR ist, dass diese zwar von einer quantitativ hohen Pressedichte und Angebotsbreite geprägt war, von Pressefreiheit jedoch nicht die Rede sein konnte. Als sich im Herbst 1989 die Presselenkungssysteme auflösten, reformierten sich die Medienhäuser schnell selbst. 1990 begann die Privatisierung der Verlagslandschaft durch die Treuhand – ein Prozess an dessen Ende die Regionalzeitungen im Osten beinahe ausschließlich an westdeutsche Verlage verkauft worden waren und nahezu alle der nach der Wende neu gegründeten Zeitungen in Ostdeutschland aufgaben.

Im Interview mit dem langjährigen Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen (ehemalige SED-Bezirkszeitung „Das Volk“), Sergej Lochthofen, spricht dieser von „Goldgräberstimmung“, die bei den westdeutschen Verlagen herrschte. Es habe sich ein neuer Markt aufgetan, der aufgrund steuerlicher Abschreibungsmöglichkeiten und Fördermittel für den Aufbau Ost als äußerst attraktiv erschien. „Für den Osten wurde daraus kein Lehrstück in demokratischer Debattenkultur, denn publizistische Vielfalt blieb vielerorts eine schöne Illusion“, sagt der Medienwissenschaftler Hans-Jörg Stiehler im Gespräch.

Im Folgenden skizziert Mükke in Exkursen weitere massenmediale Entwicklungen Ostdeutschlands, wie den Aufbau des Mitteldeutschen Rundfunks, die Auseinandersetzung um einen Ostberliner Jugendsender und er geht der Frage nach, warum überregionale Qualitätsmedien in Ostdeutschland kaum gelesen werden. Dabei zitiert Mükke eine Studie von Claudia Lasslop, wonach der Osten in westdeutschen Leitmedien „als negativ zu bewertende Abweichung von der westdeutschen Realität begriffen wird“.

Westdeutsche Chefs bei ostdeutschen Zeitungen

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt übrigens die Autorin dieses Artikels in einer Inhaltsanalyse von west- und ostdeutschen Tageszeitungen hinsichtlich Frames und Stereotypen über Ostdeutschland. Demnach dominieren bei der Tonalität der Artikel negative Bewertungen in der Berichterstattung. Außerdem werden in ostdeutschen Tageszeitungen mehr Ursachen für Probleme genannt und nicht ausschließlich das Bild des „abgehängten Ossis“ gezeichnet. Dies erweckt den Eindruck, dass Artikel über Ostdeutschland in ostdeutschen Medien mehr in die Tiefe gehen, indem sie mehr Erklärungen für eine bestimmte Situation liefern und die einzelnen Muster weniger von nur einem Thema, dem Rechtstrend, dominiert sind.

In seinem Diskussionspapier führt Mükke auf Basis des 2020 vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Abschlussberichts „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ aus, welche Zusammenhänge zwischen der skizierten Unterrepräsentation von Ostdeutschen und der geringen Legitimität, die Ostdeutschen der Demokratie zusprechen würden, bestehen. Auch auf die immer noch nicht angemessene Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen geht der Autor ein. Bis heute würden die meisten Regionalzeitungen im Osten von einem westdeutschen Chefredakteur geführt, stellt Mükke fest. Ostdeutsche Chefredakteure in westdeutschen Zeitungen gebe es hingegen so gut wie gar nicht.

Auch oder gerade in den Sendeanstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sei die Unterrepräsentation von Ostdeutschen eklatant. Von den 50 Gemeinschaftseinrichtungen der ARD beispielsweise sitzt mit dem Kinderkanal in Erfurt nur eine in den Neuen Bundesländern. So seien auch die Forderungen der CDU Sachsen-Anhalt zu verstehen, wonach der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Osten, seine Menschen und seine Realitäten kaum widerspiegle. Laut Heiko Hilker, Gründer des Dresdner Instituts für Medien, Bildung und Beratung, können Massenmedien ihren Auftrag, eine lebendige Demokratie zu sichern, nur gerecht werden, wenn beispielsweise Hintergründe von Meinungsverschiedenheiten komplex aufgearbeitet werden.

Immer mehr Ostdeutsche ergreifen das Wort

Der wissenschaftliche, mediale und politische Ost-West-Diskurs habe seit der Jahrtausendwende an Qualität und Schärfe gewonnen. Als Ursache dafür sieht der Autor zum einen das Aufkommen der Eliten-Debatte, den Diskurs über das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern sowie zum anderen die Verfestigung von Ost-Identitäten bei jungen Ostdeutschen und das selbstbewusstere Auftreten ostdeutscher Akteur*innen. Die neue Qualität der Debatte über Ostdeutschland und Massenmedien lasse sich laut Mükke auch daran erkennen, wer sie führt. Immer mehr Ostdeutsche verschiedenen Alters sowie unterschiedlicher  politischer und intellektueller Verordnung ergriffen das Wort. Daran lasse sich eine selbstbestimmte Mitprägung des Diskurses erkennen.

Den meisten Medien mangele es an ostdeutschen Mitarbeitern und somit auch an ostdeutschen Sichtweisen und Themen, konstatiert Mükke in seiner lesenswerten Analyse. Sein Vorschlag: eine Ostquote, die mehr Ostdeutsche in die Journalistenschulen, die Zeitungen und Sender sowie in die Redaktionen und auch deren Führungsetagen bringt.

In seinem Diskussionspapier arbeitet Mükke die Entwicklung der ostdeutschen Presselandschaft auf, wie es in dieser Form bisher nicht geschehen ist. Gleichzeitig präsentiert er interessante Denkanstöße. Mükke liefert eine aufschlussreiche Momentaufnahme, erklärt Hintergründe und gibt zudem Handlungsempfehlungen. Damit entsteht eine Grundlage für Diskussionen über Missstände der massenmedialen Berichterstattung in Ost und West und für eine nachhaltige Veränderung eben jener.

Lutz Mükke: 30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung. Schreiben Medien die Teilung Deutschlands fest? Ein Diskussionspapier der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt am Main 2021

 

Kommunikationswissenschaft | Medienkritik

Den Klimaschutz nicht zerreden. Vier Fallen der Klimakommunikation (16. September 2019)

Wenn am kommenden Wochenende der UN-Klimagipfel in New York beginnt, dürfte der mediale Aufmerksamkeitsstrudel um Klimaaktivistin Greta Thunberg noch einmal an Kraft gewinnen. Michael Brüggemann, Professor für Klima- und Wissenschaftskommunikation an der Universität Hamburg, kritisiert die Fokussierung der Berichterstattung auf die Person „Greta“ und die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Außerdem erklärt er, was gängige Argumentationsmuster in der Klimaschutzdebatte mit einem Stau zu tun haben.

von Michael Brüggemann

Ein Mädchen segelt über den Atlantik und die Welt schaut zu. Von der Bild-Zeitung bis zur New York Times, von RTL bis zur FAZ, überall berichten die Medien intensiv über Greta Thunbergs Überfahrt auf einem Renn-Segelboot nach New York zu einer Konferenz der Vereinten Nationen zum Thema Klimawandel. Greta grüßt von Titelseiten vom britischen Männer-Lifestyle-Blatt GQ bis zum deutschen Stern. „Greta“ wird zu dieser Zeit häufiger auf Google gesucht als „Klimawandel“. Dabei wollte sie doch nicht auf sich aufmerksam machen, sondern auf die Menschheitsherausforderung Klimaschutz.

Greta Thunbergs Streik für Klimaschutz hat Schüler weltweit inspiriert, besonders auch in Deutschland. Die deutsche Politik hat nach anfänglichen Kommentaren nach dem Motto „Überlasst das Thema mal den Profis“ oder „Demonstrieren geht doch auch am Wochenende“ ein Ideenfeuerwerk gezündet, wie man das Klima retten kann. Und Angela Merkel erfand das so genannte „Klimakabinett“ und gab die Losung heraus: „Schluss mit Pille-Palle“, – was eine interessante Diagnose über die deutsche Klimapolitik darstellt.

Die Aufmerksamkeit für das Thema Klimaschutz ist eine große Chance, dass nun die Debatte beginnt, die die Kräfte freisetzt für die ökologische Umgestaltung unserer Gesellschaft. Auf dem Weg dahin sind aber einige Kommunikationsfallen zu umgehen. Es hilft, wenn man sie kennt.

Die bequeme menschliche Psyche als Falle: Wir leben im Zeitalter kognitiver Dissonanz. Unser Handeln steht im Widerspruch zu unserem Wissen. Wir wissen, dass unsere Wirtschafts- und Konsumgewohnheiten Klima- und Ökosysteme aus dem Tritt bringen mit gravierenden Risiken für Mensch und Natur. Wir wissen, dass große Änderungen notwendig wären – und bisher nicht genug passiert. Das verursacht Angst, Wut, Überforderung, zumindest aber ein Unwohlsein, das Menschen vermeiden wollen. Das Gefühl von Dissonanz kann man abbauen, indem man unsere Art zu wirtschaften und zu leben umkrempelt, – nur ist dies mit Mühen, Kosten, Konflikten, Unsicherheiten verbunden.

Unsere Psyche hält bequemere Wege zum Abbau von Dissonanz bereit: indem wir Probleme leugnen, verharmlosen, den Kopf in den Sand stecken. Es hilft auch, beschwörende Ersatzhandlungen vorzunehmen: Placebo statt Medizin, Kompensationsgutschein statt Verzicht auf einen Flug, Symbolpolitik und Aktionismus statt Politik. So flog Angela Merkel 2007 mit dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel zum ikonischen Foto-Shooting in roten Anoraks vor schmelzenden Eisbergen nach Grönland, und vor kurzem wieder nach Island, wo gerade ein Gletscher symbolisch beerdigt wurde. Die Botschaft von 2007 war, die Klimakanzlerin schafft das schon. Die Schülerproteste haben uns erinnert: Wir haben keine Klimakanzlerin.

Eine andere Vermeidungsstrategie unangenehmer Gefühle ist Fatalismus oder die Verschiebung von Verantwortung: „Was bringt es schon, wenn ich auf meine Flugreise verzichte? Was bringt es schon, wenn nur Deutschland seine Emissionen reduziert? Die Luftfahrt (Kreuzfahrten, Fleischkonsum, … hier kann man alles einsetzen) bringt doch nur eine Einsparung von wenigen Prozent der weltweiten Emissionen.“ Die Schlussfolgerung, dass es also nicht meine Verantwortung ist, nicht die unserer Regierung, nicht die unserer Branche, sondern die von anderen, wirkt als eine bequeme Entschuldigung dafür, nichts zu tun. Dabei summieren sich die kleinen Einzelentscheidungen auf zum großen Effekt – wie bei der Entstehung eines Staus.

Umgekehrt gibt es auch unter Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft die Tendenz, die Verantwortung auf die Konsumenten zu schieben. Angeblich wollen die Konsumenten viel billiges Fleisch aus Massentierhaltung essen, immer größere und schwerere Autos kaufen. Weil also die Bürger schuld sind, braucht die Politik nicht tätig werden. Diese Argumentation ignoriert die Bedeutung politischer Rahmenbedingungen, die Entscheidungen von Menschen und Unternehmen in bestimmte Richtungen lenken. Wenn der Bus nur jede Stunde fährt, dann wähle ich eben das Auto… Aber etwas Wahres ist auch dran an der Verschiebung der Verantwortung auf die Bürger: Das Abwählen von Politikern, die keinen effektiven Klimaschutz betreiben, ist tatsächlich eine Angelegenheit, die die Wähler selbst übernehmen müssen.

Dieses Wissen um die eigene Macht als politischer Bürger hilft, um mit den psychischen Herausforderungen der Klimadebatte umzugehen: Ich kann etwas tun als Konsument, aber mehr noch als Wähler und durch politisches Engagement. Gerade die Teilnahme an einer Fridays for Future Demonstration hilft, denn sie zeigt: Du bist nicht allein mit dem Klimaproblem. Zusammen lässt es sich besser lösen.

Die Medienlogik-Falle: Der Journalismus will beide Seiten einer Debatte zu Wort kommen lassen, er betont extreme Meinungen und Konflikte, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und giert nach immer neuen Themen. All dies sind problematische Tendenzen beim Thema Klimawandel. Insbesondere in Fernsehdebatten, und vor allem in den USA, herrschte lange das Prinzip falscher Ausgewogenheit: ein Klimaforscher sitzt zusammen mit einem Leugner des menschengemachten Klimawandels auf dem Sofa und soll den Klimawandel diskutieren. Falsch ist dieses Verständnis von Ausgewogenheit, weil sich die Klimawissenschaft weltweit einig ist, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt und damit gravierende Risiken verbunden sind.

Eine weitere Eigenheit der Medienberichterstattung ist Personalisierung und Fokussierung auf Events statt auf langfristige Prozesse. Viele Medien berichten über Greta Thunberg als Mensch (Personalisierung) und ihren Segeltrip (Ereignis) statt zu diskutieren, wie die internationale Klimapolitik besser werden kann. Einfache Themen schlagen komplizierte. Regelverstöße bekommen Aufmerksamkeit: Wenn die Schüler samstags demonstriert hätten, dann wäre das Thema gar nicht auf die Titelseiten gekommen. Vor allem anfangs richtete sich die Debatte dann auch auf das Thema Schuleschwänzen (einfach) statt Klimaschutz (kompliziert).

Dann brauchen die Medien immer neue Themen und dramatische Wendungen. Wenn Greta erst als Heldin stilisiert wird, dann muss sie im zweiten Schritt gestürzt werden, indem man enthüllt, dass sie gar nicht so heldinnenhaft ist. So berichteten sehr viele deutsche Medien darüber, dass die Segelfahrt von Greta gar nicht so klimafreundlich war, weil für die Rückfahrt eine neue Schiffscrew nach New York fliegen sollte. All dies ist legitime Berichterstattung, aber unmerklich ist das Thema nicht mehr Klimaschutz, sondern Greta Thunberg. So zieht der mediale Aufmerksamkeitsstrudel ein Thema nach dem anderen hinunter. „Dann ist das Thema durch“, sagen Journalisten – fatal für Langzeitprobleme wie den Klimawandel.

Noch viel problematischer als in journalistischen Medien ist die Klimadebatte in sozialen Netzwerken und auf YouTube. Die Algorithmen, kombiniert mit dem Klickverhalten der Mediennutzer, haben die Klimadebatte weit weggerückt von Fragen, die tatsächlich in Wissenschaft oder Politik diskutiert werden. Stattdessen blühen gerade beim Thema Klimawandel Verschwörungstheorien und wechselseitige Beschimpfungen.

Auch diese Probleme sind vermeidbar. Journalisten könnten ihre professionellen Routinen kritisch hinterfragen und bewusst die Aufmerksamkeit auch auf langfristige, gesellschaftlich relevante Probleme zu lenken, statt als Meute auf News-Treibjagd zu gehen und dann alle die gleiche irrelevante Geschichte über die Kohlendioxid-Bilanz einer Segeltour zu schreiben. Das Management von YouTube, Facebook und Twitter könnte die Logiken hinter ihren Algorithmen überdenken. Und auch wir Mediennutzer können überlegen, für welche Medien wir Geld ausgeben, wohin wir klicken und was wir liken und weiterleiten. Denn wir sind Teil der großen digitalen Aufmerksamkeitsmaschine.

Die von Lobbyisten aufgestellte Falle: Es gibt aber auch die ganz bewusste Störung der Debatte durch Leugnung des Klimawandels, gezielte Angriffe auf die Glaubwürdigkeit von Klimawissenschaftlern, strategische Versuche, das Thema herunterzuspielen – mit dem Ziel Klimaschutzpolitik zu verhindern. In den USA laufen schon seit 30 Jahren solche Kampagnen, finanziert durch Öl- und Energiewirtschaft oder Millionäre, mit Investitionen in diesen Branchen. Bis heute fließt Geld in Thinktanks mit Pseudo-Experten, die auf Industrie-finanzierten Konferenzen und in entsprechenden Büchern den Klimawandel als Schwindel darstellen oder verharmlosen. In Deutschland ist das bisher eine Randerscheinung, hier wurde das Thema eher vergessen als geleugnet.

Die Redaktion berichtet kritische über den Kreuzfahrt-Boom und der Verlag vermarktet „traumhafte Kreuzfahrten für unsere Leser“.

Was in Deutschland wichtiger ist als die Aktivität einer kleinen Gruppe von Leugnern des Klimawandels, sind die täglichen Werbebotschaften, die uns zum Kauf klimaschädlicher Produkte aufrufen. Während ich online den warnenden journalistischen Artikel zum Klimawandel lese, blinkt rechts die Werbung für eine Kreuzfahrt oder den Kauf eines SUVs. Dieser Grundwiderspruch tangiert auch prominente Medienmarken und unterminiert deren Glaubwürdigkeit. So titelte der Spiegel im August (Nr. 33): „S.O.S. Wahnsinn Kreuzfahrt – die dunkle Seite eines Traumurlaubs“ – aber der Verlag vermarktet als „Spiegel-Leserreise“ fortwährend „traumhafte Kreuzfahrten für unsere Leser“ und fantasiert in den Verkaufsprospekten vom „ewigen Eis“ – das es infolge Klimawandel leider gar nicht mehr gibt.

Die verschiedenen Industrien betreiben so Anti-Klimaschutzkommunikation, ergänzt um Greenwashing. Es wird suggeriert: Durch das Kaufen neuer Produkte wirst Du nicht nur glücklich, sondern Du stehst im Einklang mit der Natur und schützt vielleicht sogar das Klima. Das ist häufig eine grobe Irreführung. Während bei der Leugnung des menschengemachten Klimawandels ein Ignorieren des Leugners vermutlich die beste Lösung ist, so könnte bei Werbung vielleicht die Regelung bei Zigaretten ein gutes Beispiel abgeben: Wie wäre es mit einem Pflichttext, der den relativen Schaden ausweist, den das jeweilige Produkt in Herstellung, Betrieb und Entsorgung für Klima und Umwelt verursacht?

Die Polarisierungsfalle: Die USA haben sich, angeheizt auch durch die oben genannten Kampagnen, zu einem gespaltenen Land entwickelt. Die Leugnung des Klimawandels ist zum Teil der politischen Identität der republikanischen Partei geworden. Umweltaktivisten sind ein Feind, mit dem man nicht einmal mehr redet (und umgekehrt). Als Small-Talk-Thema mit Unbekannten fällt der Klimawandel aus, weil man nie weiß, ob man nicht womöglich in Streit gerät. In Deutschland sehen wir gerade beim Thema Greta Thunberg und Fridays for Future, wie sich vor allem in sozialen Medien ebenfalls die Aggressionen hochschrauben. Es besteht zumindest ein Risiko, dass auch hier das Thema Klimaschutz zum Opfer einer allgemeinen verhärteten Frontenbildung wird.

Klimakommunikation, die die Identität, Werte und den Lebensstil anderer Menschen pauschal angreift, heizt dies an. Vorwürfe und die Titulierung als Sünder werden niemanden überzeugen, sondern Gegenvorwürfe erzeugen. Denn niemand ist ein Klimaheiliger, und dies ist auch nicht der Anspruch, an dem wir die engagierten Schüler von Fridays for Future messen sollten. Greta hätte das Flugzeug nach New York nehmen können. Sie darf genauso um die Welt fliegen wie jeder andere Mensch. Ihre Botschaft bleibt wahr, auch wenn die Botschafterin keine Heilige ist. Genauso wenig ist jeder Fleischesser oder Autofahrer ein Sünder, wenngleich unbestritten diese Konsumentscheidungen eben dem Klima schaden.

Auf Seiten der Klimaschützer ist der Unterschied zwischen der Kommunikation von Fridays for Future und der radikaleren Extinction Rebellion offenkundig: Erstere haben die Mitte der Gesellschaft erreicht, Schüler, Eltern, Wissenschaftler, die nichts kaputtmachen wollen, sondern unsere Welt lebenswert erhalten wollen. Wenn man aber mit radikalen Parolen und destruktiven Protestformen schockieren will, dann generiert das zwar Aufmerksamkeit, es schreckt aber die moderaten Kräfte ab, ohne die es keine politischen Mehrheiten für entschiedenen Klimaschutz geben wird.

Damit die große Debatte auch zu großen Fortschritten beim Klimaschutz führt sollte Kommunikation auf allen Ebenen, vom Gespräch mit der Nachbarin bis zum Klimagipfel der UN immer wieder bei drei Fragen ansetzen: In welcher Welt wollen wir leben? Und: Was können wir tun, um diese Welt zu bekommen? Wie kann ich meinen Bedürfnissen zum Beispiel nach Genuss oder Selbstverwirklichung nachgehen, ohne das Klima zu schädigen? Das sind die Fragen, die die positiven Antriebskräfte freisetzen, die wir für effektiven Klimaschutz brauchen.