#NR23 | Medienkritik

»Wir müssen viel, viel mehr erklären« (16. August 2023)

Foto: Media Women Connect

Sissi Pitzer schaut der Medienbranche seit 40 Jahren auf die Finger. Die meiste Zeit davon als verantwortliche Redakteurin des Medienmagazins im Bayerischen Rundfunk. Wie beurteilt sie die aktuelle Lage des Medienjournalismus?

 

Frau Pitzer, Hans Jürgen Jakobs, früherer Handelsblatt-Chefredakteur und auch Medienjournalist, hat jüngst ein düsteres Bild vom aktuellen Zustand des deutschen Medienjournalismus gezeichnet. Stimmen Sie ihm zu?
Ich teile seine Ansicht nur sehr bedingt. Also ja, Medienjournalismus ist Nischen-Journalismus. Und ja, er ist in den vergangenen Jahren vor allem in den klassischen Medien massiv abgebaut worden. Aber was man nicht übersehen darf, ist, dass auf der anderen Seite auch sehr viel aufgebaut worden ist. Es gibt eine ganze Reihe von Diensten, von Blogs, von Fachinformationen online, die sich gerade auch mit dem Bereich Social Media im weitesten Sinne beschäftigen. Es geht um die Frage, wie Menschen Medien konsumieren. Und damit befassen sich Journalist*innen eigentlich relativ viel. Das hat eben nicht mehr so einen festen Platz wie früher eine Rubrik wie »Medienjournalismus«. (mehr …)

#nr22 | Medienkritik

„Es geht vor allem um Sensibilisierung“ (12. Oktober 2022)

Sollen, dürfen oder müssen Medien Bilder von Gewaltaten zeigen? Einschätzungen der Medienethikerin Claudia Paganini

Täglich erreichen schockierende Aufnahmen von teils extremer Gewalt die Redaktionen. Als Gatekeeper müssen Journalist*innen abwägen, welche Bilder noch dem Informationsinteresse oder nur dem abstoßendem Schrecken dienen. Entscheiden sie sich für eine Publikation, könnte ihnen Sensationsgier unterstellt werden. Zur journalistischen Arbeit gehört es jedoch, auch mittels Fotografien über Gewalt, Leid und Tod zu berichten.

Der Diskurs über Gewaltbilder bewegt sich zwischen zentralen Maximen der Bildethik. Auf der einen Seite die professionelle Augenzeugenschaft: Dahinter steht die Erwartung an die Bildberichterstattung, die Situation vor Ort so treffend wie möglich wiederzugeben. Auf der anderen Seite sollen die Persönlichkeitsrechte von Abgebildeten und Angehörigen geschützt werden. Beide Maximen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Wie also kann eine ethisch korrekte Bildberichterstattung in Kriegszeiten aussehen? Die Medienethikerin Claudia Paganini, Professorin an der Hochschule für Philosophie in München, beschreibt im Interview, welche ethischen Kriterien bei der journalistischen Bildauswahl entscheidend sein sollten.

Frau Paganini, wie definieren Sie aus medienethischer Perspektive ethisch korrekten Fotojournalismus?

Paganini: Das Wichtigste ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Publikationen noch ethisch vertretbar sind und welche nicht, und nicht in einen Automatismus zu verfallen. Wir dürfen es uns auf keinen Fall einfach machen und denken, dass nur weil man gegen den Krieg mobilisieren und aufklären möchte, man alles veröffentlichen darf.

Klar, aber wie trifft man die richtige Entscheidung?

In der Ethik ist es ganz oft so, dass wir gar nicht die Möglichkeit haben, die eine gute Lösung zu finden. Wir finden uns in Situationen wieder, die so komplex und schwierig sind, dass es eigentlich nur schlechte Lösungen gibt – gerade bei der Kriegsberichterstattung. Man sollte daher versuchen, möglichst alle Perspektiven der Beteiligten zu berücksichtigen, und sich fragen, wie sich das für eine betroffene Person anfühlt.

Worauf sollten Redaktionen achten, um eine ethisch korrekte Bildberichterstattung zu gewährleisten?

Also auf jeden Fall das Problembewusstsein, dass es verschiedene Spannungsfelder gibt, die ich berücksichtigen muss. Mitgefühl gegenüber den Objekten meiner Berichterstattung. Verantwortung gegenüber den Rezipient*innen. Eine realistische Einschätzung dessen, was mein Bild leisten kann und wie es wahrgenommen wird. Wobei es da wichtig ist, sich selbst und die Funktion des eigenen Bilds weder zu unter- noch zu überschätzen. Und ich würde auch noch sagen Kompetenz – fachliche Kompetenz. Dass ich das journalistische Handwerk beherrsche.

Was müssten die Redaktionen an ihrer Struktur ändern, damit Journalist*innen vermehrt auf Schockbilder verzichten?

Zunächst ist es elementar, den Druck von den Journalist*innen zu nehmen. Man muss sich bewusst sein, dass der ständige ökonomische Druck innerhalb der Redaktionen nicht ideal ist, um gegenüber anderen Empathie zu zeigen. Wenn der redaktionelle Druck reduziert wurde, geht es vor allem um Sensibilisierung. Man muss Journalist*innen zeigen, was für Auswirkungen ihre Berichterstattung haben kann, wie es den Betroffenen damit langfristig geht und dass sowohl Berichtsobjekte als auch die Adressat*innen retraumatisiert und getriggert werden können. Wir können Journalist*innen nicht dazu verpflichten, moralische Helden zu sein.

Aber was kann man in Aus- und Fortbildung tun?

Journalist*innen sollten vermittelt bekommen, wie Krisenkommunikation funktioniert, wie Menschen Krisen verarbeiten und in welcher Phase man welche Fragen eher vermeiden sollte. Es wäre sinnvoll, eine Art Supervision anzubieten. Denn nur, wenn ich meine eigenen Emotionen verstehe, verarbeite, kann ich mich wiederum für den anderen öffnen.

Sollte eine Professionsethik, also ein Grundkonsens über verbindende Werte und unverrückbare Maßstäbe für die Berichterstattung, im Fotojournalismus etabliert werden?

Ich denke, dass Professionsethiken sehr wichtig sind, weil sie Orientierung bieten und den Einzelnen auch ein Stück weit entlasten. Es muss jedoch immer einen Spielraum für die konkrete Situation geben. Der Umstand, dass jede*r Journalist*in Richtlinien für sich anders auslegt, ist grundsätzlich etwas Positives. Dadurch kommt in einer Demokratie eine unterschiedliche Berichterstattung zustande, die dem Publikum entspricht.

Haben Sie eine Idee, wie konstruktiver Fotojournalismus aussehen könnte?

Man könnte mit Bildern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen, sich zu engagieren. Beispielsweise zeigen, dass deutsche Familien geflüchtete Familien aufnehmen. Zeigen, wie Freiwillige Kleidungsspenden sortieren und ausgeben, aber auch wie Journalist*innen sich bemühen, seriöse Recherche zu betreiben. Es muss nicht immer humanitäres Engagement sein. Wir müssen nun wirklich keine Angst haben, dass die Menschen vergessen, dass Krieg schrecklich ist, weil sie zu wenig schreckliche Bilder sehen.

Interview | Medienkritik

„Das Wissen um die Wucht“ (19. November 2020)

Die Medienwissenschaftler Michael Meyen und Lutz Mükke stammen aus ganz verschiedenen Ost-Milieus. Der eine studierte am Roten Kloster Journalistik, der andere schrieb unter anderem einen Protestbrief an Honecker. Gut möglich, dass sie sich nie begegnet wären, hätte die DDR weiter existiert. Nach 30 Jahren Vereinigung blicken sie auf 30 Jahre Erfahrungen in der Bundesrepublik zurück. Ein Ost-Ost-Gespräch über die schwierige Medienwende, die Arroganz der Westmedien im Osten und vom Ende des „hegemonialen Diskurses“.


Lutz Mükke:
Stimmt es, dass Ossis seit 30 Jahren die tonangebenden bundesrepublikanischen Leitmedien Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel und DIE ZEIT so gut wie nicht abonnieren? Falls ja, wie ist das zu erklären?

Michael Meyen ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Er studierte in der DDR an der Sektion Journalistik und hat in Leipzig vom Diplom bis zur Habilitation alle akademischen Stationen durchlaufen. // Foto: Ekkehard Winkler

Michael Meyen: Das stimmt, ja. Die Blätter, die du da nennst, werden ja von Großstadt-Akademikern für Großstadtakademiker gemacht. Das heißt: Dort kannst du lesen, wie die Menschen die Welt sehen, die in dieser Gesellschaft im Moment den Ton angeben. Wir wissen alle, wie die Besitzverhältnisse in diesem Land sind und wie wenige Ostdeutsche es in Führungspositionen gibt. Die Linien der sozialen Spaltung laufen nicht nur zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern oder zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen Ost und West. Wer nicht auf der gleichen Seite des Grabens steht wie die Redaktionen in München, Hamburg oder Frankfurt, findet seine Sicht der Dinge in den Leitmedien nur sehr bedingt und mag dann vielleicht auch nicht das gar nicht so billige Abo zahlen.

Mükke: „Wer nicht auf der gleichen Seite des Grabens steht…“ ist ein drastisches Bild. Ist die Wortwahl für das Thema nicht ein wenig heftig? Wir sind doch nicht im Krieg oder im Klassenkampf.

Meyen: Wir können auch von sozialer Spaltung sprechen oder von kultureller Verwerfung. Ich habe dazu gerade Paul Collier gelesen, „Sozialer Kapitalismus!“. Untertitel: „Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“. Ich mag zwar nicht, wie er dort der guten, alten Sozialdemokratie hinterher weint und die Rezepte von damals feiert, die Diagnose aber ist gut. Die Konzentration von Vermögen in den westlichen Industriestaaten, die Wohlstandskluft zwischen Norden und Süden, die Konflikte vor unserer Haustür. Die Großstadt gegen die Provinz oder das Land, die Hochqualifizierten gegen die Geringqualifizierten. Damit lässt sich Trump erklären, der Brexit, Macron. Und damit lassen sich all die Kämpfe der jüngsten Vergangenheit erklären. Die Flüchtlinge, das Klima, die Ernährung, jetzt Corona.

In Deutschland kommt das Ost-West-Problem dazu. Was in Medien und Öffentlichkeit über die DDR erzählt wird und über Ostdeutschland, dient vor allem dazu, das politische System der alten Bundesrepublik zu legitimieren. Der Diktaturdiskurs und das eher negative Bild des Ostens haben sehr konkrete Folgen, die bis in das Private hineinreichen und Lebensentscheidungen beeinflussen. Mit der DDR und dem Osten werden ja auch die Erfahrungen abgewertet, die wir gemacht haben, oder unsere Qualifikationen, unsere Fähigkeiten. Wenn wir hier über Medien sprechen, geht es sehr wohl um einen Kampf. Es geht um Definitionsmacht. Wer schafft es, seine Sicht auf die Wirklichkeit in die Öffentlichkeit zu bringen und zur Medienrealität werden zu lassen.

Die Medienwende vor 30 Jahren

Lutz Mükke ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Afrika. Zuvor lehrte er viele Jahre in Leipzig Journalistik. Außerdem ist er Mitherausgeber von Message. // Foto: Mükke

Mükke: Es gibt ja eine ganze Reihe an Studien und Diskussionen über das Versagen von Spiegel, ZEIT, FAZ und SZ im Osten. Zu meiner Einstiegsfrage noch zwei Zahlen: Die FAZ hat im Osten – exklusive Berlins – heute eine verkaufte Auflage von rund 8000 Stück, ähnlich wie die Süddeutsche. Spiegel und DIE ZEIT setzen im Osten im Vergleich zum Westen auch erstaunlich wenig ab. Das sind sagenhaft niedrige, ganz peinliche Zahlen. Was hätten denn deren Herausgeber und Chefredakteure nach 1989 machen müssen, um auch in den neuen Bundesländern erfolgreich zu sein?

Meyen: Im Rückblick lässt sich das leicht sagen: Sie hätten Kolleginnen und Kollegen aus der DDR integrieren und gut ausgestattete Büros im Osten aufmachen müssen. Das hätte automatisch mehr Vielfalt in die Berichterstattung gebracht. Vor allem dann, wenn man dabei auch mit Menschen gearbeitet hätte, die an der Sektion Journalistik in Leipzig ausgebildet worden sind. Man kann das ja gerade sehr schön bei Birk Meinhardt nachlesen, der in der DDR bei der Wochenpost war und bei der Jungen Welt und der dann 1992 als erster Ostdeutscher zur SZ nach München kam. Im Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ beschreibt er, wie es ihm dort ergangen ist und warum er dann nach 20 Jahren gekündigt hat. Zu dieser Geschichte gehören zwei Kisch-Preise, aber auch die Erfahrung, dass sich niemand für seinen Hintergrund interessiert hat. Den Münchnern war es egal, was er über Thomas Emmrich erzählen wollte, den DDR-Serienmeister im Tennis, oder über Jenaer Fußballer. Und es war ihnen auch egal, welche Lehren er aus dem Versagen des Journalismus in der DDR gezogen hatte.

Mükke: Ich kann das nachvollziehen. Anfang der 1990er haben sich SZ und FAZ mit Kooperationen im Osten die Hände verbrannt. Sie kooperierten mit den Zeitungen der Blockparteien und investierten dort ein bisschen. Aber das lief alles ins Leere. Die Abo-Zahlen blieben bescheiden. Auch weil die Blätter der Blockparteien ja keine großen Marken waren und sich auch nicht besonders durch kritische oder irgendwie andersartige Berichterstattung in der DDR hervorgetan hatten. Und welcher Werbe- und Anzeigenmarkt hätte im deindustrialisierten Osten denn die Investitionen der Überregionalen refinanzieren können? Aldi- und Norma-Werbung läuft bekanntlich über die Lokalpresse. Im Westen hingegen liefen die Geschäfte glänzend – sowohl im Abo- als auch im Anzeigenbereich verdienten Spiegel, SZ, FAZ und ZEIT damals bestens.

Weshalb also hätte ein Herausgeber oder Chefredakteur aus Hamburg, Frankfurt oder München nun in Rostock, Cottbus oder Leipzig investieren sollen? – Um die innere Einheit voranzubringen?! Oder um den Ossis eine Stimme zu geben?! – Sorry. Das wäre zwar ganz sicher sehr wichtig für die Demokratie, die Teilhabe und die Partizipation der ostdeutschen Bildungsmilieus gewesen. Aber sind die überregionalen Leitmedien nicht vor allem auch privatwirtschaftlich arbeitende Unternehmen, frage ich mal provokant? Und unternehmerisch gedacht machte der Osten für sie einfach wenig Sinn. Und auch bei inhaltlichen Entscheidungen agierte man stets zurückhaltend und saturiert. Denn hätte man intensiver und differenzierter über Ostdeutschland berichtet, hätte das wahrscheinlich die westdeutsche Stammleserschaft irritiert. Die Milieus, gesellschaftlichen Verfasstheiten und kulturellen Diskurse waren und sind im Osten und Westen weit weg voneinander, teilweise bis heute.

Vielleicht hätten die großen Überregionalen mit einer der 1989/90 rund 80 neu gegründeten Wende-Zeitungen und -Zeitschriften kooperieren sollen. Dort waren publizistische Kraftzentren entstanden, denen es leider an verlegerischem Knowhow und Geld fehlte und die auch bald wieder von der Bildfläche verschwanden. Die Privatisierungspolitik der Treuhand tat das ihre dazu. Die neu gegründeten Ost-Blätter konnten den großen Monopolen der Regionalzeitungen wenig entgegensetzen, als die erst einmal an finanzkräftige westdeutsche Medienunternehmen verkauft worden waren.

Meyen: Und wie berichteten die überregionalen Leitmedien über all diese Entwicklungen?

Mükke: Christoph Dieckmann, eine der ganz wenigen ostdeutschen Edelfedern, die im Westen Karriere machten, in seinem Fall bei der ZEIT, meint, dass die Berichterstattung westdeutscher Leitmedien über den Osten jahrzehntelang im Duktus der Auslandsberichterstattung daher komme. Da gibt es viele Beispiele, die auf Ostdeutsche oft schwer verdaulich, herabwürdigend arrogant und auch dumm wirken. Der Spiegel schwadronierte in dieser Art beispielsweise über Mecklenburg-Vorpommern, den „leeren, bäuerlichen Nordosten… Das spröde Land zwischen Bodden und Haff, so scheint es, ist eher für Kraniche als für Menschen gemacht… ein Bundesland, das sonst für Abwanderung und Niedergang steht, für dickes Blut und trübes Wetter, trotzige Rückständigkeit und schlimmsten Suff.“ (38/1995) Eine Diplomarbeit, die sich an der Uni Leipzig mit solchen Stereotypen auseinandersetze, kam dennoch zu dem Ergebnis, dass der Spiegel trotz seiner „stereotypen Herangehensweise“, „vorsätzlichem Weglassens wichtiger Aspekte“ und „sorglosem Umgang mit Fakten“ viele heiße Eisen im Mecklenburg-Vorpommern anpackte. Die Arbeit würdigte die Arbeit des Spiegels letztlich dennoch, insbesondere „vor dem Hintergrund der weitgehend zahnlosen Regionalpresse in Ostdeutschland“.

Meyen: Du meinst die Arbeit von Gerit Schulze. Wenn man sich dort die Themen anschaut, dann besteht Mecklenburg-Vorpommern im Spiegel aus Skandalen. Die Werften, Lichtenhagen, Rechtsextremismus und dann noch die PDS an der Macht. Es mag sein, dass das von Hamburg aus alles so furchtbar aussah und als investigativer Journalismus durchging, aber wer will sich von seinem neuen Mitbewohner schon ständig sagen lassen, dass er endlich aufräumen muss?

Und zu den anderen Punkten: Vielleicht wäre es ganz gut gewesen, wenn man die westdeutschen Stammleser irritiert hätte. Vielleicht wäre es auch gut gewesen, darüber nachzudenken, ob eine kommerziell orientierte Presse tatsächlich ganz nebenbei eine öffentliche Aufgabe erfüllen kann. Vielleicht hätte man der Treuhand den Auftrag geben müssen, die ostdeutschen Zeitungen nicht unter den großen und mittleren Westverlagen aufzuteilen. Vielleicht hätte man den vielen kleinen Zeitungen helfen müssen, die 1989/90 gegründet wurden. Auf jeden Fall aber hätte man beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk etwas tun können. Da scheint ja das wichtigste Ziel gewesen zu sein, die zentralen DDR-Sender zu zerschlagen und eine reine Ost-Anstalt zu verhindern. Ein Kinderkanal in Erfurt ist kein Ersatz für all das, was dort fehlt, wo es wirklich wichtig wird. Man muss sich ja nur die Geschichte von DT64 anschauen. Da haben gar nicht so wenige Menschen ziemlich lange öffentlich gezeigt, wie wichtig dieses Radioprogramm für ihre Identität ist. Den Entscheidern war das ziemlich egal.

Mükke: Im Beitrittsprozess hatte ganz sicher niemand auf Seiten der Kohl-Regierung Interesse daran, dass sich ostdeutsche Mentalität und Identität verfestigt oder der Osten selbstbewusste eigenständige Entwicklungen nimmt oder sich gar „Ostmedien“ etablieren, weder privatwirtschaftliche noch öffentlich-rechtliche, die sich dann vielleicht auch noch auf hohem Niveau kritisch mit „dem Westen“ und der Übernahme hätten auseinandersetzen können. Schumpeter, Makroökonom alter Schule, spricht bei solchen Prozessen von „kreativer Zerstörung“. Das Alte muss weichen, um Neuem Platz zu machen. Oder volksmündlich: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Nur fielen im medialen Vereinigungsprozess eben keine Späne, sondern gleich der ganze Wald und damit wurden wichtige Funktionen des demokratischen Mediensystems für Ostdeutsche nur sehr eingeschränkt erfahrbar –  Partizipation und Repräsentation.

Bei den überregionalen Leitmedien, die eine herausragende Rolle im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Diskurs und beim Agenda-Setting innerhalb der Bundesrepublik spielen und zum Meinungsbildungsprozess vieler Entscheidungsträger beitragen, fehlte und fehlt es sträflich an Repräsentanz ostdeutscher Themen, ostdeutscher Persönlichkeiten, ostdeutscher Perspektiven und ostdeutscher Journalisten. Erst in den letzten Jahren beginnt sich das ein wenig aufzuweichen. Man fokussierte sich dort lange stark auf DDR-Delegitimierungsdiskurse und skizzierte den Osten als das abweichende Anhängsel, das sich an westdeutscher Norm messen lassen müsse. Der Osten ist für die Überregionalen bis heute mediales Ausland geblieben, in dem man kleine Korrespondentenbüros eröffnet und ab und an Reporter schickt.

Und im Regionalen verfestigten sich die Monopolstrukturen der alten SED-Zeitungen, die zwar über all die Jahre oft satte Gewinne für die Konzernzentralen im Westen erwirtschafteten, aber sich mehr dem Ratgeberjournalismus verbunden fühlten als kritisch-kontrollierendem Recherchejournalismus. Obwohl gerade der Verschmelzungsprozess beider Staaten, Kulturen und Identitäten der Begleitung durch kritisch-kontrollierenden und reflektierenden Journalismus in ganz anderem Ausmaß bedurft hätte. Weite Teile Ostdeutschlands haben im Printmarkt nie die journalistisch belebend wirkende Konkurrenzsituation zwischen zwei Blättern erlebt. Das hat im Osten ganz sicher das Aufwachsen einer notwendigen kritisch-kontrollierenden Journalismuskultur erschwert – mit allen Konsequenzen, die das für eine Gesellschaft hat. Und ich befürchte, auch die fehlende Repräsentanz, die Stimmlosigkeit des Ostens in den tonangebenden überregionalen Westmedien, hat erheblich dazu beigetragen, dass Ostdeutsche 30 Jahre nach dem Beitritt noch immer weit weniger Vertrauen in Institutionen, Politik und Massenmedien haben als Westdeutsche. – Klinge ich jetzt eigentlich wie ein Jammer-Ossi?

Meyen: Ich weiß nicht, wie Jammer-Ossis klingen. Ich kenne eigentlich auch keine. Ich kenne nur Westdeutsche, die von Jammer-Ossis sprechen, wenn sie solche Analysen aus dem Osten hören. Das wirkt dann immer ein wenig bockig. Seid doch dankbar, liebe Brüder und Schwestern. Wir haben so viel für euch getan. Kann ich noch kurz zur Treuhand zurück?

Mükke: Klar.

Meyen: Das passt nämlich zur Idee vom Monopol der alten SED-Zeitungen und zu der Vermutung, dass es gerade das Überleben dieser Strukturen war, was kritischen Journalismus verhindert hat. Ich sehe in der Presselandschaft nichts mehr von der SED. Ich sehe dort eine Fortschreibung der alten Bundesrepublik und damit genau das Gegenteil von kreativer Zerstörung. Man muss sich ja nur anschauen, was mit den Tageszeitungen der SED passiert ist. Fein aufgeteilt von der Treuhand, für jeden der Großen und Mittelgroßen aus dem Westen ein schönes Stück.

Die beiden größten nach Ludwigshafen und nach Köln. Die Freie Presse in Chemnitz an die Rheinpfalz und die Freiheit in Halle an Dumont. Kohl und Genscher. Der eine hat sein Lieblingsblatt in Ludwigshafen bedient und der andere einen Verlag, der der FDP nahestand. Es braucht gar nicht viel Fantasie für die These, dass sich die Regierung hier die veröffentlichte Meinung gekauft hat. Wer sollte die Treuhand noch kritisieren, wenn doch jeder wichtige Verlag irgendwie Nutznießer war? Es hat fast 30 Jahre gebraucht, bis in aller Öffentlichkeit diskutiert worden ist, was die Treuhand alles verbrochen hat. Jetzt gibt es endlich junge Leute wie die von Aufbruch Ost, jetzt gibt es endlich Bücher wie „Das Treuhand-Trauma“ von Yana Milev. Über die Privatisierung der Presse wissen wir aber immer noch viel zu wenig. „Pressefrühling und Profit“, die Studie von Mandy Tröger, ist da nicht mehr als ein Anfang.

Die Wirkung des DDR-Diskurses

Mükke: Mandy Tröger und Yana Milev sind zwei Frauen aus dem Osten. Tröger sieht sich als Repräsentantin einer „kritischen Kommunikationswissenschaft.“ Milev schreibt sehr pessimistisch und angriffslustig über „herrschenden Kulturkolonialismus“, über „Prekärsein“ und „gesellschaftliche Herabsetzung“ in Ostdeutschland; von der „Übernahme“ durch den Westen und sogar von „verordnetem Vergessen.“ Das sind wichtige Positionen, die es zu diskutieren gilt. Warum fanden solche Perspektiven und Tonlagen – man mag sie teilen oder nicht – im Kulturdiskurs der Bundesrepublik in den zurückliegenden 30 Jahren kaum Raum? Gab es sie nicht? Über den ostdeutschen Medien- und Pressewandel und die Treuhand wurde seit den 1990ern ja viel geschrieben und geforscht. Etablierte Medienwissenschaftler wie Horst Röper, Hans-Jörg Stiehler, Beate Schneider, Dieter Stürzebecher, Werner Früh, Arnulf Kutsch, Michael Haller, Rüdiger Steinmetz oder Walter Schütz haben sich damit durchaus kritisch auseinandergesetzt, um nur einige zu nennen. Aber der Unmut über die anhaltende Marginalisierung von Ostdeutschen schlägt seit geraumer Zeit in eine neue Qualität um, u.a. in Sachbüchern wie „Die Übernahme“ von Kowalczuk oder in Säle füllenden Tagungen wie „Kolonie Ost? Aspekte von „Kolonialisierung“ in Ostdeutschland seit 1990“ vom Dresdner Institut für Kulturstudien. Neu daran ist nicht nur der selbstbewusste Tonfall ostdeutscher Akteure. Sondern: Unterstützt werden diese Debatten endlich auch vom etablierten Politikbetrieb, bspw. von der Bundeszentrale für politische Bildung oder dem Sächsischen Staatsministerium für Gleichstellung und Integration.

Seit Jahrzehnten forschst auch du zum Medienwandel im Osten. Wo siehst Du 30 Jahre nach der Wende noch Forschungsbedarf, weiße Flecken oder Notwendigkeiten für Neuinterpretationen?

Plakat Leipziger Studenten aus der Wendezeit © Privatarchiv Michael Meyen

Meyen: Das sind jetzt viele Fragen auf einmal. Den öffentlichen Diskurs über die DDR habe ich ja selbst untersucht. Hans-Jörg Stiehler hat das Buch „Wir haben freier gelebt“ 2014 für die Fachzeitschrift Publizistik rezensiert und vermutet, dass ich damit nur „wenig Aufmerksamkeit“ finden werde – nicht, weil er die Studie schlecht fand, sondern wegen eines generellen Desinteresses an Thema und Differenzierung. Selbst wenn es dazu also etwas in den Nischen der empirischen Sozialforschung gegeben hat, hat man es damit nicht auf die Bühne der Leitmedien geschafft. Dann kam Pegida, dann kamen die Wahlerfolge der AfD, auch und vor allem im Osten. Jetzt war jedem klar, dass die hegemoniale Erzählung von der Selbstbefreiung eines unterdrückten Volkes ausgedient hat. Damit wurde zugleich ein Raum geöffnet für neue Erzählungen, auch für neue Protagonisten. Yana Milev ist dafür sicher ein Beispiel.

Ich habe gerade eine Geschichte der DDR-Journalistik veröffentlicht, um zu zeigen, was alles verlorengegangen ist, weil die internen Debatten über neue Formen der Ausbildung völlig egal waren, als das Fach im Frühjahr 1991 neu gegründet wurde. Was dort seit dem Herbst 1989 erstritten worden war, ist einfach im Archiv verschwunden. Rotes Kloster, Punkt. Das hat nicht nur jedes Gespräch über Alternativen zur westdeutschen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft erstickt, sondern auch viele Absolventinnen und Absolventen vorsichtig werden lassen. Bloß nicht zu viel Positives über die DDR sagen oder über die Journalistenausbildung in diesem Land. Auf diese Weise hat sich der hegemoniale Diskurs über fast drei Jahrzehnte selbst reproduziert.

Mükke: Du sagst, was im Herbst 1989 erstritten worden war, wurde erstickt. Was war das Erstrittene und wie hast du selbst das „Vorsichtig-werden-Lassen“ erlebt?

Meyen: Um gleich beim Beispiel Journalistenausbildung zu bleiben: An der Sektion Journalistik hat sich im Januar 1990 eine „Alternativgruppe“ gebildet, die so hieß, weil dort keine Professoren mitgemacht haben, sondern Studenten und Leute aus dem Mittelbau wie Sigrid Hoyer oder Tobias Liebert. Was diese Alternativgruppe damals entwickelt hat, ist heute vermutlich nicht einmal mehr denkbar, im Zeitalter der durchgetakteten Bologna-Studiengänge und mit Blick auf die Imperative Effektivität und Verwertbarkeit. Ich habe das Papier im Uniarchiv gefunden und gestaunt. Ein Studium, das im Wortsinn „frei“ ist. Jeder sucht sich das, was ihn interessiert, ohne all die Schranken, die Fakultäts- und Institutsgrenzen setzen. Der Pflichtanteil? Minimal. Selbstorganisation statt Stundenplan. Und: Forschung statt Trichter. Vom ersten Tag an dort dabei sein, wo Wissen produziert wird, und nicht einfach auswendig lernen. Die Alternativgruppe möchte 1990 auch, dass die Studenten druckfähige Manuskripte produzieren und nicht mehr für den Papierkorb üben. Das ist noch die Leipziger Journalistik, die immer darauf gesetzt hat, das Handwerk selbst vermitteln zu können, im geschützten Raum der Universität, unterfüttert mit allem, was man über Sprache, Textformen und Wirkung herausfinden kann, und noch nicht gebrochen durch die Verwertungswünsche von Medienunternehmern jeder Art.

Dieses Papier ist nur ein Beispiel für das, was im langen 89er Herbst diskutiert wurde. Es gibt Konzepte von Journalistikprofessoren, es gibt ein Konzept von einem marxistischen Philosophen. Ganz abgesehen von all den Ideen und dem gesellschaftspolitischen Horizont, der dort umrissen wird und den wir in dieser bedrohten Welt brauchen könnten: Die Erfahrung, dass das alles einfach im Archiv verschwunden ist, hat etwas mit den Menschen gemacht. Sie haben gelernt, dass sich diese Art von Anstrengung genau wie früher nur lohnt, wenn man Politik und Regierungen auf seiner Seite hat.

Mükke: Das ist das „Vorsichtig-werden-Lassen“?

Meyen: Das führt zunächst zu einer Form von Resignation und zum Wunsch, sich möglichst schnell anzupassen. Das spiegeln ja auch die ersten Journalistenbefragungen, von denen du gesprochen hast. Die Vorsicht hat mit einem Diskurs zu tun, der jede Verbandelung mit der SED und ihren Sicherheitsorganen geißelt. Anfang der 1990er-Jahre ist ja in aller Öffentlichkeit diskutiert worden, ob DDR-Journalisten überhaupt weitermachen dürfen. Kann man öffentliche Stimmungen tatsächlich Menschen anvertrauen, die vorher PR für ihre Partei gemacht haben? Man brauchte dann aber einfach erfahrene Redakteure, gerade im Lokalen und dort, wo aus dem Westen niemand wirklich hinwollte. In diesen Redaktionen hat man sehr genau beobachtet, wie auf die entsprechenden Enthüllungen reagiert wurde, bei der Bild-Zeitung, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auch bei einigen großen Regionalblättern.

Leipziger Journalistikstudenten Mitte der 1970er // Foto: Privatarchiv Michael Meyen

Für meine Studie zur Leipziger Journalistenausbildung habe ich einen Absolventen interviewt, der nicht bei der Stasi war, aber trotzdem seit 30 Jahren die Angst mit sich herumträgt, als Wasserträger des Kommunismus gebrandmarkt zu werden. Er war drei Jahre bei der NVA wie fast alle Journalistikstudenten, hat dort Auszeichnungen bekommen und an der Universität dann ein besonderes Stipendium und eine Parteifunktion. Für sein Berufsleben hat das Folgen bis heute. Als Journalist bleibt er lieber bei unpolitischen Themen und verdient sich außerdem etwas dazu mit Auftragsarbeiten für Privatleute. Das ist kein Einzelfall. Leute, die in der DDR das Zeug hatten, Medienstars zu werden, bleiben lieber unter dem Radar. Schau dir die Rundfunkchefs an, die einen ostdeutschen Hintergrund haben. Alles gute Manager, aber keine Publizisten. Von dort kommt kein Kommentar, der im Land für Aufsehen sorgt. Dabei wären das die Journalisten, die eine andere Geschichte erzählen könnten. Menschen, die das hegemoniale Narrativ differenzieren könnten.

Ostdeutsche Stimmen

Mükke: Leider tendiert der Informationsfluss dazu, sich auf dem Weg des geringsten intellektuellen Widerstands zu verfestigen. So ist das auch mit diesem groben Narrativ. Er ist zum einen bequem und lässt sich zum anderen politisch wunderbar nutzbar machen. Er legitimierte bspw. den unbarmherzig und sehr deutsch durchgezogenen Elitenwechsel in Ostdeutschland. Westdeutsche Evaluatoren, Gutachter und Manager und ostdeutsche Saubermänner haben die Massenentlassungen an Akademien, Universitäten, in Verlagen und Medienredaktionen knallhart umgesetzt. Der Elitenaustausch in Ostdeutschland ist ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte.

Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden: Die DDR-Bevölkerung hatte den Beitritt der DDR zur BRD gewählt und um den umzusetzen, war ein Elitentransfer von West nach Ost notwendig und richtig. Nachvollziehen kann ich auch das Begleichen offener Rechnungen in den Jahren der Wendezeit. Dass eine Integration der ostdeutschen Intelligenz, ein fairer Neuanfang für sie, politisch jedoch nicht im Geringsten intendiert war und ist, halte ich für einen Geburtsfehler der deutschen Einheit.

Fremdscham überkommt mich bis heute, wenn ich beispielsweise an den DDR-Afrikanistik-Professor denke, der mit Herz und Seele daran mitgewirkt hatte, afrikanische Länder aus der Kolonialzeit heraus zur Unabhängigkeit zu verhelfen und nach der Wende über erniedrigende und deprimierende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht mehr hinauskam. Über so viel Beton können sich nur Idioten freuen und stahlgewitterharte DDR-Oppositionelle, die seit Jahrzehnten in ihren alten Rollen posen.

Klaus Wolframs Perspektiven sind da weit humanistischer und demokratischer. Wolfram war DDR-Oppositioneller, Mitglied der Verfassungsgruppe des Runden Tisches und Herausgeber der Wende-Wochenzeitung „die andere.“ Man darf nicht vergessen, dass der Wendeprozess auch viele DDR-Oppositionelle zum Verstummen brachte. Auch sie fanden für ihre differenzierteren Diskurse nur wenig Repräsentationsflächen in der bundesrepublikanischen Medienlandschaft und Politik. Wolfram ist heute Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und hielt dort im November 2019 eine bemerkenswerte Rede: „Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen“. Er konstatiert, dass kaum zwei Jahre nach 1990 die Massenmedien in Ostdeutschland so gut wie komplett unter westdeutscher Leitung standen. Damit habe sich die „Generalaussprache, das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung gerade eben erobert hatte, in Entmündigung und Belehrung“ verwandelt. Die Bundesrepublik spinne bis heute „ihr altes Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort – doch inzwischen hört dort niemand mehr zu.“

Wenn die demokratische Kompetenz von 1989 heute noch eine eigene Stimme, Öffentlichkeit und Handlungsfähigkeit in Ostdeutschland hätte, sagt Wolfram, würde sie erkennen, dass die  Gewaltlosigkeit von 1989 „zwei Seiten gehören. Und sie würde der anderen Seite sagen: Gut, wir sind noch immer anderer Meinung als ihr – und ihr seid es umgekehrt wahrscheinlich auch. Aber ihr habt damals nicht geschossen, habt uns unseren Weg gehen lassen, habt euch einer unbekannten Zukunft gebeugt. Deshalb soll von jetzt an jede verordnete Ausgrenzung enden.“

Meyen: Ein paar Stimmen hat das ja noch, was du mit Klaus Wolfram gerade „demokratische Kompetenz von 1989“ genannt hast. Daniela Dahn zum Beispiel. In ihrem vorletzten Buch mit dem feinen Untertitel „eine Abrechnung“ hat sie ja sehr bewusst von „Gegeneinseitigkeit“ gesprochen, weil „das hundertmal Verschwiegene“ auf „Kenntnisnahme“ warte. Weiter bei Daniela Dahn: „Ich bestehe seit nunmehr 30 Jahren darauf, dass der westliche Diskurs den fremden Blick nicht nur aushalten, sondern als Bereicherung begreifen sollte“.

Wenn man das gelesen hat und ihr neues Buch „Tamtam und Tabu“ kennt, ist man gar nicht mehr so sicher, dass die DDR-Bevölkerung den Beitritt zur BRD „gewählt“ hat, wie du gerade meintest. Daniela Dahn zeigt, wie westdeutsche Politik und westdeutsche Medien diese Mehrheit nach ihrem Bild geformt haben. Nur ein Beispiel: nationaler Taumel bei ARD und ZDF, als die Straße noch nichts von einer „schnellen Einheit“ wusste. Darf ich Dich fragen, wie du diese Medienwende erlebt hast und später dann das Studium in Leipzig? Mich interessiert das natürlich, weil du aus einem anderen Milieu kommst als ich und sicher nicht auf die Idee gekommen wärst, in der DDR Journalistik zu studieren.

Eine Vergangenheit, die nicht vergeht

Mükke: Wir hätten uns in der DDR eventuell schriftlich begegnen können, wenn du nach Deinem Studium am Roten Kloster als Redakteur einer SED-Bezirkszeitung gearbeitet hättest und ich dir einen defätistischen Leserbrief geschrieben hätte, zu Deiner Berichterstattung über die jüngsten Planübererfüllungen, zu den 90-Prozent-Wahlerfolgen oder über den sich stetig und planmäßig verbessernden Zustand der Flüsse in der DDR. Nein im Ernst, ich bin in einer sehr schönen und freien dörflichen Umgebung aufgewachsen. Niemand zwang mich in irgendeine weltanschauliche Richtung, abgesehen von Wehrkundeunterricht, Fahnenappellen und den starren Diktionen einer überforderten Staatsbürgerkunde-Lehrerin.

Die wahrhaftigeren Diskussionen, das freiere Wort, das ehrlichere Lachen und den besseren Blues fand ich allerdings in kirchlichen Räumen. 1988 bis Anfang 1991, als Lehrling, war ich engagiert und aktiv in einer kirchlichen Umweltschutzgruppe, in der offenen Jugendarbeit der Diakonie mit Punks und Glatzen, auf den Herbst-Demos, am „Runden Tisch für Sicherheit“ in Zwickau, bei der Organisation von öffentlichen Diskussionen und Podien. „Kirche von unten“ waren meine Leute. Aber du fragst nach der Medienwende. Die verbinde ich wie die Wende selbst mit überwiegend positiven Erinnerungen, allerdings auch mit einschneidenden Ernüchterungen. Auf der Haben-Seite standen die neu erworbenen Freiheiten. Auf der Verlust-Seite stand die viel zu schnelle Versenkung emanzipatorischer Entwicklungen und des Selbstermächtigungsprozesses der Leute in der DDR. Diese Selbstermächtigung von 1989/90 hätte weiter gehen müssen.

Meyen: Wann begann die Ernüchterung?

Mükke: Das Ergebnis der Volkskammerwahl im März 1990 war für mich eine bittere Erleuchtung: Dass gegen die aus dem Westen aufgefahrene professionelle CDU-Wahlhilfe kein Kraut gewachsen war, war zu erwarten. Die CDU holte entsprechend 40,8 Prozent. Bündnis 90, meine Leute, die viel riskiert und 1989 zum guten Teil mit ins Rollen gebracht hatten, erhielten dagegen nur lächerliche 2,9 Prozent. Selbst die gerade erst gegründete Deutsche Soziale Union, aus meiner Sicht ein dumpfer rechtspopulistischer Haufen, fuhr mehr als das Doppelte an Stimmen ein. Man kann diese Volkskammer-Wahl mit ihren fragwürdigen sieben Wochen Vorbereitungszeit und den massiven politischen und medialen Einmischungen aus der Bundesrepublik sehr wohl hinterfragen. Ich zog damals meine Schlüsse und sagte mir: Hau ab, mach Dich aus dem Staub, das alles hat nichts mehr mit dir zu tun.

Ähnliches geschah übrigens vielfach auch in der Kirche. In der Sächsischen Landeskirche, die Oppositionsgruppen zu DDR-Zeiten geduldet hatte, setzten sich in den Wendejahren vielfach die konservativen Evangelikalen und die langweilige Amtskirche nach westdeutschem Muster durch. Was die DDR mit all ihren intriganten und zersetzenden Strategien und Taktiken nicht geschafft hatte, vollbrachte paradoxerweise der „Wendeprozess“: Mehr als 130.000 Mitglieder traten zwischen 1991 und 1996 aus der Landeskirche Sachsen aus. Zum einen weil das Schutzdach der Kirche nicht mehr nötig war, viele auch in den Westen abwanderten. Zum anderen aber ganz sicher auch, weil tausende enttäuschte liberale und linke Christen Kirche bereits anders, im befreiungstheologischen Sinne protestantischer und freier gelebt und gewünscht hatten. Die „Kirche von unten“ fand im rasanten Veränderungsprozess keine Ankerpunkte. – Die heute zunehmend schwierige Lage der Kirchen in Ostdeutschland hat auch diesen Aspekt.

Und freilich spielten Massenmedien in diesem gesamten Transformationsprozess eine zentrale Rolle. Denn was immer fehlte, war ein intensiverer Diskurs auf höherem Niveau über die wichtigen Entwicklungen, Persönlichkeiten, Milieus, Geschehnisse und Kulturen im Osten. Ein Diskurs, der von und zwischen und mit Ostdeutschen geführt wird und nicht über sie. Was im Osten dominierte, waren Regionalpresse, Bild-Zeitung, Superillu und Sergej Lochthofen als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub. Das will ich alles gar nicht diskreditieren. Ich mag Lochthofen sehr. Aber eine Qualitätszeitung á la SZ, FAZ oder DIE ZEIT für den Osten wäre wichtig gewesen. Auch um kulturelle, intellektuelle und politische Eliten in den neuen Bundesländern und Champions herauszubilden und die Diskurse darüber auf deutlich höherem Niveau  zu führen, als das westdeutsche Leitmedien taten und tun.

Meyen: Und wie hast du das Journalistik-Studium in Leipzig erlebt?

Mükke: Eine tolle Zeit. Nachdem ich mein Abi über den Zweiten Bildungsweg nachgeholt hatte, studierte ich ab 1996 im Diplom-Studiengang Journalistik und Afrikanistik in Leipzig und in Kampala, Uganda; inklusive Volontariat bei der Leipziger Volkszeitung. Journalistik machte Sinn und Afrikanistik war zudem noch spannend. 2002 bekam ich meinen Uni-Abschluss.

Das Verhältnis von West-Führungspersonal und Ost-Mittelbau an der Uni empfand ich während meiner Studienjahre und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in der Abteilung Journalistik allerdings immer als skurril und oft unangenehm hierarchisch. Helikopter-Management: Der Professor aus dem Westen, der immer wusste, wo es lang geht, erschien oft am Dienstag, wirbelte am Mittwoch viel Staub auf und war am Donnerstag schon wieder verschwunden. Eigenartig empfand ich auch den Umgang des Ost-Personals mit der Geschichte des Roten Klosters. Die Ostdeutschen hatten sich irgendwie in eine diffus-defensive Rolle drücken lassen. Angst um den Arbeitsplatz – und mochte der auch noch so bescheiden honoriert worden sein – spielte dabei bei einigen eine Rolle.

Schon als Student freundete ich mich mit Elisabeth Fiedler an, die unter anderem Kreatives Schreiben gab, und mit Professor Siegfried Schmidt, der seit den 1950er-Jahren über 100 Semester Kulturjournalismus in der Leipziger Journalistik lehrte. Unglaublich! Siegfried hatte den Gastdozenten Bertolt Brecht in Leipzig noch persönlich erlebt. Elisabeth und Siegfried waren Meister ihres Faches, die die „Evaluierung“ und den Wendeumbau der Leipziger Journalistik beruflich überlebt hatten und mir privat sehr offen ihre Standpunkte, Nöte und Ängste über die alten und neuen Konstellationen schilderten. Nicht, dass sie ihre Karrieren im Roten Kloster als Makel mit sich herumgetragen hätten. Sie hatten intensiv darüber reflektiert. Aber für ihre Ansichten, Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Systemwechsel interessierte sich viel zu lange überhaupt niemand. Derweil etablierten sich die West-Professoren als „Ost-Experten.“ Es fehlte der Austausch, in dem die Ostdeutschen frei, offen, öffentlich und mehrfach ihre Perspektiven hätten darstellen, publizieren und einbringen können. Sie schafften es leider auch kaum, Kontakte in westdeutsche Wissenschaftsnetzwerke zu knüpfen oder gar sich international zu präsentieren und zu publizieren. Sie blieben Maschinisten im Maschinenraum. War das eine Art von Isolation? Ja, für die älteren Kollegen war es das. Ich empfand das als bitter, teilweise sogar als inhuman.

Aber zurück zu deinen Forschungen: Die Wiedervereinigung ist jetzt 30 Jahre her, warum beschäftigst du dich als Professor in München eigentlich noch immer so intensiv mit all diesen Ost-Themen? Gibt es keine drängenderen Probleme für die Medienwissenschaft?

Meyen: Oberflächlich betrachtet schon. Die Einseitigkeit der Leitmedien, die Verengung des öffentlichen Diskursraums, zumindest wenn man wahrgenommen werden will. Birk Meinhardt hat das in seinem Buch ja exemplarisch für die SZ nachgezeichnet. Er benennt dort die Wahrheiten, die nicht in der Zeitung stehen, obwohl der Journalismus doch dafür sorgen soll, dass wir uns eine Meinung bilden können, bevor wir an die Wahlurne treten. Kapitalismus, Rechtsstaat, das Bündnis mit den USA. Wer nicht glauben mag, dass sich der Raum des Sagbaren mit diesen drei Schlagworten eingrenzen lässt, der lese einfach dieses Buch oder die vielen alternativen Angebote, die genau deshalb so viel Zulauf haben. Das ist bestimmt ein Grund, warum ich zu dem zurückgekommen bin, was du „Ost-Themen“ nennst.

Man müsste das systematisch untersuchen, aber mir scheint, dass öffentliche Medienkritik gar nicht so selten mit einer DDR-Biografie verknüpft ist. Leute wie Paul Schreyer und Jens Wernicke oder auch Maren Müller mit ihrer Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien. Eigentlich wollte ich gar nichts mehr zu diesem Themenkreis machen, nachdem meine Studie zur DDR im kollektiven Gedächtnis eher ein Flop war, zumindest hier in Deutschland. Jetzt ist das Thema auch in der Öffentlichkeit wieder da, und es hat ganz offenkundig mit vielen der Probleme zu tun, denen sich eine gesellschaftskritische Medienforschung zuwenden sollte. Kann ich noch ein Wort zu meiner fiktiven Karriere als Redakteur bei einer SED-Bezirkszeitung sagen?

Mükke: Unbedingt.

Studentenbude an der Leipziger Fakultät für Journalistik in den 1950ern // Foto: Privatarchiv Michael Meyen

Meyen: Ich bin ja 1988 an die Sektion Journalistik gekommen, zwei Jahre vor dem Ende des Wohnungsbauprogramms. Die älteren Studenten haben genau darüber geklagt. Dass sie es sein werden, die den Erfolg dieses Programms verkünden, obwohl gerade in Leipzig jeder sehen konnte, dass die DDR dieses Versprechen nicht halten wird. Ich habe dann gleich zu Beginn des Studiums Jürgen Schlimper getroffen, einen Dozenten für Mediengeschichte, der mir eine Promotion zur Weimarer Republik schmackhaft machen wollte. Im ersten Semester, wie gesagt. Mir schien das verlockend. Sieben Jahre an der Uni. Vier bis zum Diplom und dann noch einmal drei bis zum Doktor. 1995, da war ich mir ganz sicher, würde alles besser sein. Das mag aus heutiger Sicht naiv klingen, aber auch die meisten Seminare haben genau darauf hingedeutet. Lauter junge Menschen, die einen anderen Journalismus wollten, und viele Dozenten, die sie in diesem Drang bestärkt oder zumindest nicht gebremst haben. Es gab auch andere, klar, aber in meiner Erinnerung waren die Debatten viel offener als alles, was ich vorher in der Schule oder beim Wehrdienst erlebt hatte.

Mükke: Das glaub ich dir aufs Wort. Ende der 1980er-Jahre hatte die Meinungsfreiheit in der DDR eine Qualität erreicht, die es zuvor nicht gegeben hatte. Meine Eltern waren noch in Zeiten aufgewachsen, in denen ein falscher politischer Witz die berufliche Karriere hätte kosten können. Ende der 1980er-Jahre gab es keine falschen Witze mehr. Sie wurden massenhaft und mit großer Hingabe so gut wie überall erzählt. Wenn meine Mutter ihren Sohn besorgt bat, ich solle doch dieses oder jenes bloß nicht offen in der Schule, auf der Straße oder in der Lehrausbildung ansprechen, und das tat sie oft, habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt und mich über sie lustig gemacht. Die Demokratiebewegung von 1989 war ja nicht über Nacht aus dem Bett gefallen, sondern in jahrelanger Entwicklung gewachsen, auch weil sich das ganze Gefüge – im Land und international – bereits verändert hatte und mehr Luft für die Akteure entstanden war.

Doch nochmal zurück zu deiner Medienkritik: Du sprachst von der „Einseitigkeit der Leitmedien“, von „Verengung des öffentlichen Diskursraums“ und nennst Stichworte wie „Kapitalismus, Rechtsstaat, das Bündnis mit den USA.“ Stellt sich für Dich heute die Systemfrage?

Das mediale Erbe der DDR

Meyen: Was ich interessant finde: Sie stand eigentlich schon von Anfang an. Ich habe ja gerade das Glück, einen Forschungsverbund leiten zu dürfen, der nach dem medialen Erbe der DDR sucht, gefördert vom BMBF, wo man offenbar den Bedarf gesehen hat, trotz der Fülle an Studien, die es zur DDR gibt, noch einmal ganz neu anzusetzen. In diesem Programm werden seit 2018 insgesamt 14 Verbünde gefördert. Darunter sind zwar auch Historikerinnen und Historiker, vor allem aber Fachleute, die bisher wenig mit Geschichte zu tun hatten und jetzt zum Beispiel die Braunkohle-Rekultivierung in der DDR mit dem vergleichen, was damals im Ruhrgebiet gelaufen ist.

Wenn man heute noch einmal liest, was jemand wie Gerhard Gundermann vor 30 Jahren gesagt und gesungen hat, dann findet man vieles von dem wieder, was heute auf der Agenda steht, nicht nur in Sachen Energie und Tagebau. Es gibt eine schöne Interviewsammlung von Michael Kleff und Hans-Eckardt Wenzel, aufgenommen zu Beginn der 1990er und jetzt gedruckt bei Christoph Links. Dort geht es um den Rechtsruck im Osten und um Neonazis, um Umwelt und Klima, um die Ausbeutung des globalen Südens, um eine Gesellschaft, die auf den Abgrund zurast, weil ihre Logik will, dass sich einer auf Kosten des anderen bereichert.

Gundermann sieht die bürgerliche Demokratie in diesem Buch als „Kurzlehrgang“ und sagt, dass die Fragen der Welt eine andere Antwort brauchen. Diese Ideen sind verschüttet worden, sicher durch den Erfolgsrausch, in den sich der Kapitalismus 1989/90 hineingetaumelt hat, sicher durch den Stress, den uns all das beschert hat, auf jeden Fall aber durch das Verstummen der Stimmen, die bei Kleff und Wenzel in diesen frühen Einheitsjahren noch kräftig sind. Von den Liedermachern und Kabarettisten, die dort befragt wurden, hat es kaum jemand auf die gesamtdeutsche Bühne geschafft.

Mükke: Dass das mediale Erbe der DDR anschlussfähig an das Infragestellen des Gesellschaftssystems heute ist, kann kaum verwundern. Die DDR war ja angetreten, den Kapitalismus zu stürzen. Die vielen wissenschaftlichen Analysen und Äußerungen über das Wirken und die Mechanismen von Kapitalismus und Sozialismus, die in der DDR produziert wurden, waren ja auch bei weitem nicht alle hirnrissig. Wer heute in Massenmedien, Büchern, wissenschaftlichen Publikationen, aber auch in Kunst und Musik der DDR dazu sucht, kann sich vor Material nicht retten. Auch ein großer Teil der DDR-Oppositionellen, die die Umbrüche einleiteten, waren links und strebten einen demokratischen Sozialismus an.

Fakt ist aber auch, dass wir heute in einem freien, menschenwürdigen und demokratischen Sozialstaat leben. Deutschland ist eines der attraktivsten Länder der Welt, was sich  eigenartigerweise im Lebensgefühl vieler leider nicht niederschlägt. Wenn ich sehe, wer heute alles einen Systemwechsel herbeisehnt, gruselt es mich auch ab und zu. Und logischerweise spielen Massenkommunikation und Massenmedien und „der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen“ eine zentrale Rolle. Wie jeher.

Es ist ein Ringen um die Themenagenda, um Deutungsmacht, Aufmerksamkeit und auch um Märkte, Jobs und Geld. Die klassischen Medien, der oft gescholtene Mainstream, haben Konkurrenz bekommen. Das Meinungsspektrum und die Publikationsfreude der Menschen haben durchs Internet zugenommen, gleichzeitig auch die medial angerührte Verwirrung und die Schlammschlachten zwischen den alten und neuen Teilnehmern des Medienmarkts. Ein paar Schlammpackungen und Kritik hast ja auch du abbekommen, weil du zu KenFM offenbar eine andere Meinung hast als viele Kommentatoren. Wie hat sich das angefühlt?

Meyen: Nicht gut. Ich nehme mich selbst aber nicht so wichtig, sondern habe das eher als Symptom gesehen. Schon die Frage, ob dieser Staat tatsächlich so frei, menschenwürdig, sozial und demokratisch ist, wie du das offenbar siehst, wird von manchen als eine Art Gotteslästerung empfunden, genauso wie jeder Vergleich mit der DDR, wenn das Ergebnis nicht schon vorher feststeht. Vor allem jüngere Leute scheinen die Erzählung von Diktatur und Unrechtsstaat so internalisiert zu haben, dass sie gar nicht mehr bereit sind, sich auf Argumente einzulassen, die dieser Erzählung widersprechen.

Du hast natürlich Recht: Man will nicht mit jedem, der da gerade um Deutungshoheit und Definitionsmacht kämpft, in einen Topf geworfen werden. Das bedeutet für mich aber nicht, auf Kritik zu verzichten. Früher, in der DDR, hieß es, dass man dem Klassenfeind in die Hände spielt, wenn man Probleme angesprochen oder überhaupt eine Diskussion gefordert hat. Heute klingt das manchmal ganz ähnlich. Sag bloß nicht Mainstream und sprich nicht von den Mächtigen, weil das den Rechten hilft. Als ob Verschweigen und Beschwören die Probleme löst. Daran ist ja letztlich das zugrunde gegangen, was du gerade als Kern der Sozialismusidee beschrieben hast. Der Staat hat sich seine Feinde selbst produziert, frei nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das ist für mich eine Lehre aus der DDR: Wenn wir nicht auch die Ideen Demokratie und Sozialstaat zu Grabe tragen wollen, müssen wir miteinander reden. Und zwar mit allen.

Mükke: Siehst du einen Zusammenhang zwischen den „Lügenpresse“-Rufern und dem starken Rechtsruck in Ostdeutschland einerseits und der von uns gerade besprochenen mangelhaften medialen Partizipation und Repräsentation der Ostdeutschen andererseits?

Meyen: Vermutlich ist die Wirklichkeit wichtiger als das, was die Medien daraus machen. Besitzverhältnisse, Lebenschancen, soziale Mobilität. Wem gehören die Immobilien in den hübsch sanierten Innenstädten? Wer bestimmt in Behörden, Universitäten, Unternehmen? Welche Möglichkeiten haben meine Kinder, das zu erreichen, was ich nicht schaffen konnte? Wenn man sich anschaut, was die jungen Leute schreiben, die sich dritte Generation Ost nennen, oder auch die Bücher von Valerie Schönian und Johannes Nichelmann, die beide gerade Anfang 30 sind, dann scheint sich die Erfahrung zu vererben, anders zu sein als die Mehrheitsgesellschaft.

Schönian spricht ja von „Ostbewusstsein“ und zeigt, dass es das auch gibt, wenn man die DDR nicht mehr erlebt hat. Sie sagt auch, was für ihre Generation anders ist als für Menschen in meinem Alter: Valerie Schönian muss ihre Herkunft nicht verbergen und sich auch nicht vornehmen, so werden zu wollen wie die Westdeutschen. Für dieses Buch hat sie Daniel Kubiak getroffen, einen Kollegen aus Berlin, der dort über ostdeutsche Eltern spricht, über einen Schulunterricht, der die DDR oft pauschal in eine bestimmte Ecke schiebt, und über Medien, die das Ostdeutsche abwerten und so dafür sorgen, dass sich in der sozialen Hierarchie nichts ändert. Es ist nicht schwer, das mit einer Wut zu verlinken, die sich auch gegen den Journalismus richtet.

Die diskursiven Grenzen der Forschung

Mükke: 2010 hatte mich das Institut für Auslandsbeziehungen, IfA, auf eine Tagung in die Hauptstadt Benins nach Cotonou eingeladen. Da trafen sich zwei Dutzend Akademiker und Journalisten aus Westafrika und Deutschland und diskutierten über „50 Jahre Ende der Kolonialzeit und 20 Jahre deutsche Einheit.“ Mich hatte man aus drei Gründen eingeladen – als Afrika-Reporter, als Akademiker – gerade war meine Dissertation „Journalisten der Finsternis“ erschienen, die sich mit der Arbeit von Auslandskorrespondenten in Afrika beschäftigte – und wegen meiner Herkunft als Ostdeutscher.

Ich referierte in Cotonou ziemlich genau zu dem Thema, mit dem wir in unser Gespräch hier eingestiegen sind: „Weshalb haben westdeutsche Leitmedien in Ostdeutschland 20 Jahre nach der Wende keinen Erfolg.“ Die spannenden Diskussionen mit afrikanischen Kollegen über Kolonialisierung zogen sich bis weit nach Mitternacht. Mit von der Partie war damals auch der auf Westafrika spezialisierte Ethnologie-Professor Thomas Bierschenk von der Universität Mainz, der kurz zuvor darüber geschrieben hatte, ob Ostdeutsche eine eigene Ethnie seien. Anlass war ein Urteil des Stuttgarter Arbeitsgerichts, das eine Arbeitssuchende betraf, die wegen ihrer ostdeutschen Herkunft diskriminiert worden war. Das Stuttgarter Urteil ist eines von vielen kleinen und größeren absurden Ausstellungstücken im übervollen Kuriositätenkabinett des innerdeutschen Verhältnisses. Unterm Strich stand dort tatsächlich, Ostdeutsche dürfen diskriminiert werden, weil sie keine eigene Ethnie repräsentierten.

Der Ethnologe Bierschenk argumentierte dagegen, dass es sich bei den Ostdeutschen sehr wohl um eine eigene Gruppe handele. Sogar um eine „mit sehr starken Wir-Gefühl.“ Diese starke ostdeutsche Bindungskraft entfalte sich jedoch erst durch das Gefühl der Diskriminierung durch „die Anderen“. „Ohne Wessis keine Ossis und ohne Ossis keine Wessis“, schrieb Bierschenk und löste das Ganze mit zwei schönen Sätzen auf: „Warum hat man sich nicht auf die juristische Weisheit der Väter des Grundgesetzes verlassen? Dort heißt es doch in Paragraph 3 ganz eindeutig, dass niemand wegen seiner ‚Heimat und Herkunft‘ benachteiligt werden darf.“

Wie war und ist das bei dir? – Statistiken besagen, dass es Ossis auch 30 Jahre nach 1989 einfach nicht drauf zu haben scheinen: Sie sind kaum in Führungspositionen, erstaunlich wenige besitzen Immobilien oder pralle Konten und auch im akademischen Bereich bringen Sie es offenbar nicht weit. Michael Meyen gehört zu den ganz wenigen Ostdeutschen, die es bis in die gesamtdeutsche Elite „geschafft haben“, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Welche Anpassungsleistungen hast du mit Deiner Sozialisation, mit Deinen Prägungen und Weltanschauungen für diesen Erfolg erbringen müssen?

Meyen: Ich weiß gar nicht, ob ich das als „Erfolg“ definieren würde. Die Kommunikationswissenschaft ist ein sehr kleines Fach, das in den großen gesellschaftlichen Debatten so gut wie keine Rolle spielt. Die spannende Frage ist ja: Wäre das für jemanden wie mich auch in einer der reputationsstarken akademischen Disziplinen möglich gewesen? Ich meine damit gar nicht nur die regionale Herkunft, sondern meine Bindung an die Partei und an den Staat DDR. Yana Milev unterscheidet ja Quoten- und Exil-Ostdeutsche. Auf der einen Seite Menschen, die sich 1990 sofort als Bundesbürger gefühlt haben, weil sie entweder in der Opposition waren oder aus anderen Gründen ein Wertesystem mitbrachten, was „passte“ und sofort mit Aufstiegschancen verbunden war. Angela Merkel, Joachim Gauck, vielleicht auch du. Und auf der anderen Seite Leute wie ich, die lange gebraucht haben, um in diesem größeren Deutschland anzukommen. Ich wollte die DDR weder verlassen noch abschaffen. Und plötzlich war sie weg. Als Jordan Letschkow 1994 im WM-Viertelfinale das 2:1 geköpft hat, habe ich gefeiert. Im Rückblick sehe ich, dass mich erst die Berufung nach München mit den Verhältnissen ausgesöhnt hat. 2002 habe ich gesehen: Dieses Land ist tatsächlich tolerant. Und das ausgerechnet in Bayern, was für mich und meine Familie vorher der Hort des Bösen schlechthin war.

Mükke: Sehr verwegen, mich mit Angela Merkel und Joachim Gauck in eine Reihe zu stellen (lacht). Mein Werdegang verlief ein wenig anders: Nach der Währungsunion verlor ich meinen Job in einer kleinen Kunsttischlerei. Bei der Entlassung heulte meine Meisterin, und ich hatte weiche Knie. Ich trieb mich dann mit Rucksack und wenig Geld in der Welt herum, als Hilfsarbeiter in Bayern, Schweden und Australien, trampte quer durch Afrika, studierte die Orchideenfächer Journalistik und Afrikanistik. Vielleicht hätte ich besser Jurist, Betriebswirtschaftler, PR-Manager, Banker oder Immobilienwirt werden sollen, einer Kirche treu bleiben, Golfspielen, Jagen, in eine studentische Verbindung, eine Partei eintreten oder reich einheiraten sollen. Ich hätte vielleicht auch zum institutionalisierten „DDR-Oppositionellen“ getaugt. Da wäre meine „Opfer-Akte“ zu etwas nütze gewesen. Den ersten Bericht legte die Stasi über mich an, als ich 14 Jahre war. Damals wollte mir partout niemand glauben, dass der kritische Brief an Erich Honecker von mir allein verfasst worden war. Endlos versuchte man von mir zu erfahren, wer hinter dem Schreiben stecke. Aber da war niemand.

Meyen: Du hast später dann selbst lange im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde geforscht.

Mükke geht in seinem Buch „Korrespondenten im Kalten Krieg –
Zwischen Propaganda und Selbstbehauptung“ den Fragen nach, wer diese Korrespondenten waren, mit welchen Rollenverständnissen sie an ihren Beruf gingen und mit welchen Arbeitsrealitäten sie konfrontiert waren. // Foto: Halem Verlag

Mükke: Ja, ab Mitte der 2000er-Jahre als Medienwissenschaftler etliche Jahre zum Thema und gleichnamigen Buch „Korrespondenten im Kalten Krieg.“ Propaganda-Aspekte in der Auslandsberichterstattung von Ost- und Westmedien und die Verquickungen von Massenmedien und Geheimdiensten interessierten mich. Keine ganz einfachen Themen. Aus den Forschungen entstand eine systemvergleichende Analyse mit vielen ausführlichen Zeitzeugeninterviews, ein faktenbasiertes Buch weit weg von Verschwörungstheorien und Hysterie. Die Rezensionen beim Deutschlandfunk, der FAZ und in diversen Fachzeitschriften fielen prima aus.

Im Kern war es jedoch eine aufreibende Arbeit. Unter anderem wollten viele einstige Auslandskorrespondenten aus der DDR nicht reden, weil sie durch die Wende ihren Beruf verloren hatten, beruflich nie wieder Fuß fassen konnten und als Wendeverlierer keinerlei Interesse daran hatten, zum Anschauungsobjekt meiner Forschungsarbeit zu werden. Und auch einige Korrespondenten aus dem Westen lehnten meine Arbeit rundum ab, hielten einen Systemvergleich per se für eine Frechheit, da es nach ihrer Definition in der DDR gar keine Journalisten gegeben haben konnte, sondern nur willfährige Propaganda-Mitarbeiter des Zentralkomitees der SED.

Egal. Ich forschte, schrieb das Buch trotzdem und wollte es 2015 zur Leipziger Buchmesse vorstellen – in Koproduktion mit der Stasi-Unterlagenbehörde in deren Räumen in der Runden Ecke in Leipzig. Einen Tag vor Drucklegung des Messekatalogs kündigte mir die Behörde die Zusammenarbeit, weil ich zur Podiumsdiskussion auch einen Korrespondenten eingeladen hatte, dem die Außenstellenleiterin Stasi-Mitarbeit unterstellte. Ich protestierte damals in meiner Funktion als Wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung mit einem Schreiben gegen diese skandalöse Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft und forderte Behördenleiter Roland Jahn auf, er möge Dialog und Gespräche mit Zeitzeugen nicht unterdrücken, sondern ermöglichen. Jahn versprach mir, es werde zu einem späteren Zeitpunkt eine nachholende Veranstaltung mit ihm persönlich geben, wozu es allerdings, man ahnt es schon, nie kam. Offensichtlich wollte Jahn nur verhindern, dass dieser Skandal öffentlich eskaliert, was er prompt wäre, wenn mich damals besagter Korrespondent nicht glaubwürdig darum gebeten hätte, das nicht zu tun, weil ihm und seiner Familie zu diesem Zeitpunkt die Kraft für derartige Auseinandersetzungen fehlte. Das hatte ich zu respektieren.

Absurd an der Situation war auch: Sowohl sein Arbeitgeber als auch ein Gericht hatten dem Auslandskorrespondenten längst attestiert, nicht für die Stasi gearbeitet zu haben und neue Erkenntnisse lagen dazu nicht vor. Und selbst wenn: Wissenschaftler und Journalisten müssen selbstverständlich auf der Suche nach Aufklärung und Wahrheit frei und offen mit Zeitzeugen reden und diskutieren können – mit jedem und zu jedem Thema. Diese Freiheit und Aufgabe betreffen den Kern von Wissenschaft und unserer demokratischen Gesellschaft. Ich denke, es ist richtig, dass die Stasi-Unterlagen nun endlich ins Bundesarchiv eingegliedert werden. Das trägt zur Professionalisierung bei.

Meyen: Das ist das, was ich vorhin mit dem Beispiel der Diplomjournalisten aus der DDR illustrieren wollte. Zum einen haben Einrichtungen wie die Jahn-Behörde, die sich am Machtpol des Erinnerungsfeldes befinden, die Möglichkeit, vieles aus der großen Öffentlichkeit fernzuhalten, was nicht in ihr Bild passt. Und zum anderen werden Zeitzeugen mundtot gemacht, die dieses Bild aufbrechen könnten. Das passiert gar nicht über Verbote oder irgendwelche Drohungen. Das Wissen um die Wucht, die von Medienrealitäten ausgeht, reicht völlig aus. Eine Beobachtung: Der Zugang zu Zeitzeugen und die Bereitschaft, offen auch über das zu sprechen, was im hegemonialen Diskurs eher in die Rubrik „Täter“ fällt, haben sich in den letzten Jahren verbessert. Vor zehn Jahren habe ich allenfalls mit Rentnern sprechen können – und auch das nur, weil ich den richtigen Stallgeruch habe. Jetzt gibt es mehr Selbstbewusstsein, auch bei aktiven Medienleuten.

Mükke: Was die Zeitzeugeninterviews anbelangt, teile ich die Beobachtungen. Die Zugänge sind leichter geworden. Bei denen, die die 1950er und 1960er miterlebt haben, tickt die biologische Uhr. Viele wollen mittlerweile reden, damit etwas von ihrer Lebenserfahrung bleibt und weitergegeben wird. Viele Ostdeutsche, die in den 1990er-Jahren nicht in der Lage oder willens waren zu sprechen und für die auch kaum jemand gesprochen hat, haben mittlerweile ihre Stimme gefunden. Das war ein wichtiger Emanzipationsprozess. Sehr wichtig für die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft, wenn auch der Umschwung zu dieser Zweiten Selbstermächtigung sehr spät einsetzte, was für die Demokratie im Osten schwierig war und ist. Im Kern meint Demokratie ja Gespräch, Diskussion und Wahlmöglichkeiten – und eben nicht Ausgrenzung. Partizipation an und Repräsentation in den Sphären politischer, wirtschaftliche, kultureller und medialer Macht sind dafür zentrale Elemente. Und da sieht es im Osten nach wie vor nicht immer gut aus.

Wie weit die Ausgrenzung, die Spaltung der Gesellschaft und die Verwirrung im Osten gingen und gehen, zeigt der vielerorts bereits in Alltagsgesprächen hoffähig gewordene Vergleich von DDR und Drittem Reich, der irre ist. Das drückt sich im Atemzug-gleichen Gerede von „den Nazis“ und „den Kommunisten“ aus. Die DDR war Resultat des Zweiten Weltkriegs, eine offene Counter-Diktatur mit einer weitgehend dogmatisch-humorlosen Alt-Männer-Führungsriege, deren Mitglieder vielfach durch ihren Widerstandskampf gegen das Dritte Reich traumatisiert waren und viel zu lange, bis zum Ende der 1980er (!), regierten. Das Dritte Reich war ein nationalistischer Terrorstaat, der Millionen Menschen die Wohnungstüren eintrat, folterte, vergaste, die Welt mit Krieg überzog. Die Unterschiede zwischen beiden Staaten und Systemen sind gigantisch.

Selbstverständlich lehne ich das eine wie das andere ab, aus verschiedenen Gründen. Politisierte Versuche, die DDR und das Dritte Reich auf eine Stufe zu stellen, sind aber extrem zynisch und gefährlich. Was meinen denn diejenigen, die das tun, wie das wohl auf einfachere Gemüter und politische Hetzer in Ost- wie Westdeutschland wirkt? War Nazideutschland also gar nicht so schlimm? Freilich können solche unsäglichen Relativierungen dem Rechtsextremismus Vorschub leisten.

Aber zurück zum Kernthema. Wird die geänderte Zeitzeugen-Situation die Arbeiten des neuen Forschungsverbunds zum medialen Erbe der DDR beeinflussen? Was für neue Forschungsansätze werden dort 30 Jahre nach der politischen Einheit verfolgt?

Wie geht es weiter mit der Forschung?

Meyens Buch: „Das Erbe sind wir. Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte“ // Foto: Halem-Verlag

Meyen: Ich hoffe, dass wir tatsächlich etwas Neues zu erzählen haben. Die Zeitzeugen sind dabei nur eine Facette. Wir ziehen eine Linie bis in das Jetzt. Dafür steht der Begriff „Erbe“. Wir fragen nach dem, was in der Gegenwart weiterwirkt. In einem meiner beiden Projekte geht es zum Beispiel um Medienmenschen. Macht es einen Unterschied, wenn Journalisten, Regisseure oder Verleger in der DDR aufgewachsen und vielleicht sogar ausgebildet worden sind? Bringen sie andere Themen in die Öffentlichkeit, andere Perspektiven? Ich würde dafür zum Beispiel gern Holger Friedrich befragen. Warum engagiert er sich bei der Berliner Zeitung und wie erlebt er es, dass der Vorwurf „Stasi-Spitzel“ hängenbleibt, obwohl die Redaktion das in einem langen Dossier differenziert hat?

Mein zweites Projekt untersucht Filme. Wie sieht die DDR aus, die seit 1990 mit Hilfe von Beitragsgeldern oder über die Filmförderung konstruiert wurde? Wir produzieren dazu ein Online-Portal, das auf Vollständigkeit zielt. Man soll dort über jeden Film etwas finden können. Ich erzähle das, weil es zeigt, was den Verbund von früheren Projekten abheben soll. Wir wollen das Material allen zur Verfügung stellen, und wir haben einen sehr weiten Medienbegriff, der Fotoalben einschließt und Schmalfilme, aber auch das, was in den vielen DDR-Gruppen auf digitalen Plattformen läuft.

Mükke: Wenn du dir heute, im Jahr 30 nach der politischen Vereinigung, die Massenmedienlandschaft im Osten anschaust, was siehst du auf der Haben-Seite?

Meyen: Positiv finde ich all das, was man mit dem Begriff Medienkompetenz beschreiben könnte. Viele Ostdeutsche reagieren sehr sensibel, wenn sie merken, dass Menschen manipuliert werden sollen. Und dann stehen natürlich die jungen Leute auf der Haben-Seite, von denen ich ja ein paar genannt habe. Ich hoffe sehr, dass die nächste Generation in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit sehr viel präsenter sein wird als wir.

Mükke: Trotz meiner Kritik: Wir leben heute in einer agilen, offenen Medien- und Wissenschaftsgesellschaft, in der Presse- und Meinungsfreiheit hohe Güter sind und viel Qualitätsjournalismus betrieben wird. Die Informations- und Publikationsmöglichkeiten sind enorm und werden von stabilen rechtsstaatlichen Institutionen abgesichert. Die Funken, die die Diskurse schlagen, gehören dazu. Ich wertschätze das sehr.

Der Vereinigungsprozess wird uns als Thema noch lange erhalten bleiben. Die Rollen von Massenmedien und deren Ost- und West-Akteuren in diesem Prozess sind bei weitem noch nicht erschöpfend analysiert. Das bleibt spannend. Medienjournalisten und Medienwissenschaftler haben hier noch reichlich zu tun. Und wir müssen heftig dafür streiten, dass ostdeutsche Perspektiven in diesem Diskurs nicht untergehen.

Kommunikationswissenschaft | Medienkritik

Den Klimaschutz nicht zerreden. Vier Fallen der Klimakommunikation (16. September 2019)

Wenn am kommenden Wochenende der UN-Klimagipfel in New York beginnt, dürfte der mediale Aufmerksamkeitsstrudel um Klimaaktivistin Greta Thunberg noch einmal an Kraft gewinnen. Michael Brüggemann, Professor für Klima- und Wissenschaftskommunikation an der Universität Hamburg, kritisiert die Fokussierung der Berichterstattung auf die Person „Greta“ und die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Außerdem erklärt er, was gängige Argumentationsmuster in der Klimaschutzdebatte mit einem Stau zu tun haben.

von Michael Brüggemann

Ein Mädchen segelt über den Atlantik und die Welt schaut zu. Von der Bild-Zeitung bis zur New York Times, von RTL bis zur FAZ, überall berichten die Medien intensiv über Greta Thunbergs Überfahrt auf einem Renn-Segelboot nach New York zu einer Konferenz der Vereinten Nationen zum Thema Klimawandel. Greta grüßt von Titelseiten vom britischen Männer-Lifestyle-Blatt GQ bis zum deutschen Stern. „Greta“ wird zu dieser Zeit häufiger auf Google gesucht als „Klimawandel“. Dabei wollte sie doch nicht auf sich aufmerksam machen, sondern auf die Menschheitsherausforderung Klimaschutz.

Greta Thunbergs Streik für Klimaschutz hat Schüler weltweit inspiriert, besonders auch in Deutschland. Die deutsche Politik hat nach anfänglichen Kommentaren nach dem Motto „Überlasst das Thema mal den Profis“ oder „Demonstrieren geht doch auch am Wochenende“ ein Ideenfeuerwerk gezündet, wie man das Klima retten kann. Und Angela Merkel erfand das so genannte „Klimakabinett“ und gab die Losung heraus: „Schluss mit Pille-Palle“, – was eine interessante Diagnose über die deutsche Klimapolitik darstellt.

Die Aufmerksamkeit für das Thema Klimaschutz ist eine große Chance, dass nun die Debatte beginnt, die die Kräfte freisetzt für die ökologische Umgestaltung unserer Gesellschaft. Auf dem Weg dahin sind aber einige Kommunikationsfallen zu umgehen. Es hilft, wenn man sie kennt.

Die bequeme menschliche Psyche als Falle: Wir leben im Zeitalter kognitiver Dissonanz. Unser Handeln steht im Widerspruch zu unserem Wissen. Wir wissen, dass unsere Wirtschafts- und Konsumgewohnheiten Klima- und Ökosysteme aus dem Tritt bringen mit gravierenden Risiken für Mensch und Natur. Wir wissen, dass große Änderungen notwendig wären – und bisher nicht genug passiert. Das verursacht Angst, Wut, Überforderung, zumindest aber ein Unwohlsein, das Menschen vermeiden wollen. Das Gefühl von Dissonanz kann man abbauen, indem man unsere Art zu wirtschaften und zu leben umkrempelt, – nur ist dies mit Mühen, Kosten, Konflikten, Unsicherheiten verbunden.

Unsere Psyche hält bequemere Wege zum Abbau von Dissonanz bereit: indem wir Probleme leugnen, verharmlosen, den Kopf in den Sand stecken. Es hilft auch, beschwörende Ersatzhandlungen vorzunehmen: Placebo statt Medizin, Kompensationsgutschein statt Verzicht auf einen Flug, Symbolpolitik und Aktionismus statt Politik. So flog Angela Merkel 2007 mit dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel zum ikonischen Foto-Shooting in roten Anoraks vor schmelzenden Eisbergen nach Grönland, und vor kurzem wieder nach Island, wo gerade ein Gletscher symbolisch beerdigt wurde. Die Botschaft von 2007 war, die Klimakanzlerin schafft das schon. Die Schülerproteste haben uns erinnert: Wir haben keine Klimakanzlerin.

Eine andere Vermeidungsstrategie unangenehmer Gefühle ist Fatalismus oder die Verschiebung von Verantwortung: „Was bringt es schon, wenn ich auf meine Flugreise verzichte? Was bringt es schon, wenn nur Deutschland seine Emissionen reduziert? Die Luftfahrt (Kreuzfahrten, Fleischkonsum, … hier kann man alles einsetzen) bringt doch nur eine Einsparung von wenigen Prozent der weltweiten Emissionen.“ Die Schlussfolgerung, dass es also nicht meine Verantwortung ist, nicht die unserer Regierung, nicht die unserer Branche, sondern die von anderen, wirkt als eine bequeme Entschuldigung dafür, nichts zu tun. Dabei summieren sich die kleinen Einzelentscheidungen auf zum großen Effekt – wie bei der Entstehung eines Staus.

Umgekehrt gibt es auch unter Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft die Tendenz, die Verantwortung auf die Konsumenten zu schieben. Angeblich wollen die Konsumenten viel billiges Fleisch aus Massentierhaltung essen, immer größere und schwerere Autos kaufen. Weil also die Bürger schuld sind, braucht die Politik nicht tätig werden. Diese Argumentation ignoriert die Bedeutung politischer Rahmenbedingungen, die Entscheidungen von Menschen und Unternehmen in bestimmte Richtungen lenken. Wenn der Bus nur jede Stunde fährt, dann wähle ich eben das Auto… Aber etwas Wahres ist auch dran an der Verschiebung der Verantwortung auf die Bürger: Das Abwählen von Politikern, die keinen effektiven Klimaschutz betreiben, ist tatsächlich eine Angelegenheit, die die Wähler selbst übernehmen müssen.

Dieses Wissen um die eigene Macht als politischer Bürger hilft, um mit den psychischen Herausforderungen der Klimadebatte umzugehen: Ich kann etwas tun als Konsument, aber mehr noch als Wähler und durch politisches Engagement. Gerade die Teilnahme an einer Fridays for Future Demonstration hilft, denn sie zeigt: Du bist nicht allein mit dem Klimaproblem. Zusammen lässt es sich besser lösen.

Die Medienlogik-Falle: Der Journalismus will beide Seiten einer Debatte zu Wort kommen lassen, er betont extreme Meinungen und Konflikte, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und giert nach immer neuen Themen. All dies sind problematische Tendenzen beim Thema Klimawandel. Insbesondere in Fernsehdebatten, und vor allem in den USA, herrschte lange das Prinzip falscher Ausgewogenheit: ein Klimaforscher sitzt zusammen mit einem Leugner des menschengemachten Klimawandels auf dem Sofa und soll den Klimawandel diskutieren. Falsch ist dieses Verständnis von Ausgewogenheit, weil sich die Klimawissenschaft weltweit einig ist, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt und damit gravierende Risiken verbunden sind.

Eine weitere Eigenheit der Medienberichterstattung ist Personalisierung und Fokussierung auf Events statt auf langfristige Prozesse. Viele Medien berichten über Greta Thunberg als Mensch (Personalisierung) und ihren Segeltrip (Ereignis) statt zu diskutieren, wie die internationale Klimapolitik besser werden kann. Einfache Themen schlagen komplizierte. Regelverstöße bekommen Aufmerksamkeit: Wenn die Schüler samstags demonstriert hätten, dann wäre das Thema gar nicht auf die Titelseiten gekommen. Vor allem anfangs richtete sich die Debatte dann auch auf das Thema Schuleschwänzen (einfach) statt Klimaschutz (kompliziert).

Dann brauchen die Medien immer neue Themen und dramatische Wendungen. Wenn Greta erst als Heldin stilisiert wird, dann muss sie im zweiten Schritt gestürzt werden, indem man enthüllt, dass sie gar nicht so heldinnenhaft ist. So berichteten sehr viele deutsche Medien darüber, dass die Segelfahrt von Greta gar nicht so klimafreundlich war, weil für die Rückfahrt eine neue Schiffscrew nach New York fliegen sollte. All dies ist legitime Berichterstattung, aber unmerklich ist das Thema nicht mehr Klimaschutz, sondern Greta Thunberg. So zieht der mediale Aufmerksamkeitsstrudel ein Thema nach dem anderen hinunter. „Dann ist das Thema durch“, sagen Journalisten – fatal für Langzeitprobleme wie den Klimawandel.

Noch viel problematischer als in journalistischen Medien ist die Klimadebatte in sozialen Netzwerken und auf YouTube. Die Algorithmen, kombiniert mit dem Klickverhalten der Mediennutzer, haben die Klimadebatte weit weggerückt von Fragen, die tatsächlich in Wissenschaft oder Politik diskutiert werden. Stattdessen blühen gerade beim Thema Klimawandel Verschwörungstheorien und wechselseitige Beschimpfungen.

Auch diese Probleme sind vermeidbar. Journalisten könnten ihre professionellen Routinen kritisch hinterfragen und bewusst die Aufmerksamkeit auch auf langfristige, gesellschaftlich relevante Probleme zu lenken, statt als Meute auf News-Treibjagd zu gehen und dann alle die gleiche irrelevante Geschichte über die Kohlendioxid-Bilanz einer Segeltour zu schreiben. Das Management von YouTube, Facebook und Twitter könnte die Logiken hinter ihren Algorithmen überdenken. Und auch wir Mediennutzer können überlegen, für welche Medien wir Geld ausgeben, wohin wir klicken und was wir liken und weiterleiten. Denn wir sind Teil der großen digitalen Aufmerksamkeitsmaschine.

Die von Lobbyisten aufgestellte Falle: Es gibt aber auch die ganz bewusste Störung der Debatte durch Leugnung des Klimawandels, gezielte Angriffe auf die Glaubwürdigkeit von Klimawissenschaftlern, strategische Versuche, das Thema herunterzuspielen – mit dem Ziel Klimaschutzpolitik zu verhindern. In den USA laufen schon seit 30 Jahren solche Kampagnen, finanziert durch Öl- und Energiewirtschaft oder Millionäre, mit Investitionen in diesen Branchen. Bis heute fließt Geld in Thinktanks mit Pseudo-Experten, die auf Industrie-finanzierten Konferenzen und in entsprechenden Büchern den Klimawandel als Schwindel darstellen oder verharmlosen. In Deutschland ist das bisher eine Randerscheinung, hier wurde das Thema eher vergessen als geleugnet.

Die Redaktion berichtet kritische über den Kreuzfahrt-Boom und der Verlag vermarktet „traumhafte Kreuzfahrten für unsere Leser“.

Was in Deutschland wichtiger ist als die Aktivität einer kleinen Gruppe von Leugnern des Klimawandels, sind die täglichen Werbebotschaften, die uns zum Kauf klimaschädlicher Produkte aufrufen. Während ich online den warnenden journalistischen Artikel zum Klimawandel lese, blinkt rechts die Werbung für eine Kreuzfahrt oder den Kauf eines SUVs. Dieser Grundwiderspruch tangiert auch prominente Medienmarken und unterminiert deren Glaubwürdigkeit. So titelte der Spiegel im August (Nr. 33): „S.O.S. Wahnsinn Kreuzfahrt – die dunkle Seite eines Traumurlaubs“ – aber der Verlag vermarktet als „Spiegel-Leserreise“ fortwährend „traumhafte Kreuzfahrten für unsere Leser“ und fantasiert in den Verkaufsprospekten vom „ewigen Eis“ – das es infolge Klimawandel leider gar nicht mehr gibt.

Die verschiedenen Industrien betreiben so Anti-Klimaschutzkommunikation, ergänzt um Greenwashing. Es wird suggeriert: Durch das Kaufen neuer Produkte wirst Du nicht nur glücklich, sondern Du stehst im Einklang mit der Natur und schützt vielleicht sogar das Klima. Das ist häufig eine grobe Irreführung. Während bei der Leugnung des menschengemachten Klimawandels ein Ignorieren des Leugners vermutlich die beste Lösung ist, so könnte bei Werbung vielleicht die Regelung bei Zigaretten ein gutes Beispiel abgeben: Wie wäre es mit einem Pflichttext, der den relativen Schaden ausweist, den das jeweilige Produkt in Herstellung, Betrieb und Entsorgung für Klima und Umwelt verursacht?

Die Polarisierungsfalle: Die USA haben sich, angeheizt auch durch die oben genannten Kampagnen, zu einem gespaltenen Land entwickelt. Die Leugnung des Klimawandels ist zum Teil der politischen Identität der republikanischen Partei geworden. Umweltaktivisten sind ein Feind, mit dem man nicht einmal mehr redet (und umgekehrt). Als Small-Talk-Thema mit Unbekannten fällt der Klimawandel aus, weil man nie weiß, ob man nicht womöglich in Streit gerät. In Deutschland sehen wir gerade beim Thema Greta Thunberg und Fridays for Future, wie sich vor allem in sozialen Medien ebenfalls die Aggressionen hochschrauben. Es besteht zumindest ein Risiko, dass auch hier das Thema Klimaschutz zum Opfer einer allgemeinen verhärteten Frontenbildung wird.

Klimakommunikation, die die Identität, Werte und den Lebensstil anderer Menschen pauschal angreift, heizt dies an. Vorwürfe und die Titulierung als Sünder werden niemanden überzeugen, sondern Gegenvorwürfe erzeugen. Denn niemand ist ein Klimaheiliger, und dies ist auch nicht der Anspruch, an dem wir die engagierten Schüler von Fridays for Future messen sollten. Greta hätte das Flugzeug nach New York nehmen können. Sie darf genauso um die Welt fliegen wie jeder andere Mensch. Ihre Botschaft bleibt wahr, auch wenn die Botschafterin keine Heilige ist. Genauso wenig ist jeder Fleischesser oder Autofahrer ein Sünder, wenngleich unbestritten diese Konsumentscheidungen eben dem Klima schaden.

Auf Seiten der Klimaschützer ist der Unterschied zwischen der Kommunikation von Fridays for Future und der radikaleren Extinction Rebellion offenkundig: Erstere haben die Mitte der Gesellschaft erreicht, Schüler, Eltern, Wissenschaftler, die nichts kaputtmachen wollen, sondern unsere Welt lebenswert erhalten wollen. Wenn man aber mit radikalen Parolen und destruktiven Protestformen schockieren will, dann generiert das zwar Aufmerksamkeit, es schreckt aber die moderaten Kräfte ab, ohne die es keine politischen Mehrheiten für entschiedenen Klimaschutz geben wird.

Damit die große Debatte auch zu großen Fortschritten beim Klimaschutz führt sollte Kommunikation auf allen Ebenen, vom Gespräch mit der Nachbarin bis zum Klimagipfel der UN immer wieder bei drei Fragen ansetzen: In welcher Welt wollen wir leben? Und: Was können wir tun, um diese Welt zu bekommen? Wie kann ich meinen Bedürfnissen zum Beispiel nach Genuss oder Selbstverwirklichung nachgehen, ohne das Klima zu schädigen? Das sind die Fragen, die die positiven Antriebskräfte freisetzen, die wir für effektiven Klimaschutz brauchen.

Medienkritik

Vom Politik- zum Presseskandal? (11. Juni 2019)

Die Verdachtsberichterstattung rund um „Ulrike B.“ und das Bremer BAMF

von Magdalena Neubig    

An 20. April 2018, einem Freitagvormittag, veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Internetseite einen Text mit der Schlagzeile „Verdacht auf weitreichenden Skandal im Bamf“. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) sowie Radio Bremen vermeldeten die Nachricht zeitgleich ebenfalls auf ihren Kanälen. Gegenstand des mutmaßlichen Skandals war Ulrike B., eine ehemalige Leiterin der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Bremen. Aus den Veröffentlichungen des Rechercheverbunds bestehend aus Süddeutscher Zeitung, NDR und Radio Bremen ging hervor, dass Ulrike B. in ihrer Zeit in Bremen vermutlich in etwa 2000 Fällen Asyl gewährt hatte, „obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren“ (SZ). Sie habe offenbar mit drei Anwälten zusammengearbeitet, die ihr auch aus anderen Bundesländern „systematisch Asylbewerber zuführten“ (SZ). Des Weiteren stehe der Verdacht der Bestechlichkeit im Raum. Ulrike B. sollte zumindest in Form von Restaurant-Einladungen Zuwendungen erhalten haben.

Aufgrund des Ausmaßes der berichteten Vorwürfe verbreitete sich der Verdacht schnell auch auf diversen anderen Kanälen. Bei der Welt wurde einen Tag später, am 21. April, ebenfalls vom „BAMF-Skandal in Bremen“ gesprochen, bei der Bild-Zeitung hieß die Schlagzeile „Bamf-Skandal – So lief der unfassbare Asyl-Betrug von Bremen“. Die Berichterstattung zum Thema war auch in den darauffolgenden Wochen sehr präsent. Auch Politik-Satire-Formate wie die heute-show platzierten den Fall groß in ihrem Programm und berichteten beispielsweise in der Kategorie „Die 1.000 korruptesten Behörden Deutschlands“ über das Bremer BAMF. Insbesondere der Aspekt, dass Asylbewerber gewissermaßen mit Bussen nach Bremen gekarrt worden sein sollten, um sich positive Bescheide zu besorgen, wurde in der Sendung aufs Korn genommen. Dort allerdings auch nicht immer im distanzierenden Konjunktiv.

Rücktritt gefordert

Der sogenannte BAMF-Skandal war in diesem Zeitraum aber nicht nur in den traditionellen Medien präsent, sondern unter anderem auch bei rechten Gruppierungen wie der Identitären Bewegung. Der YouTuber „Operation Fregin“, damals noch Mitglied der Identitären Bewegung, erzählte in seinen Videos vom „Asyl-Todesengel im grünen Sumpf Bremens“ – natürlich nicht nach den Regeln einer vorsichtigen Verdachtsberichterstattung. Die Videos sind seit Anfang Januar 2019 nicht mehr abrufbar.

In der überwiegenden Berichterstattung verschob sich der Fokus nach etwa sechs Wochen von den Hintergründen des „Skandals“ mehr und mehr hin zu seinen politischen Konsequenzen. So schrieb der Focus am 4. Juni beispielweise darüber, dass sich Innenminister Horst Seehofer und die Leiterin des BAMF, Jutta Cordt, vor dem Innenausschuss Fragen der Bundestagsabgeordneten stellen müssten.

In der Bundespolitik überschlugen sich derweil die Reaktionen. CSU-Innenstaatssekretär Stephan Mayer sprach bei „Anne Will“ von „hochkriminellen“ Mitarbeitern beim Bremer BAMF. Der Rücktritt von Seehofer sowie von Cordt wurde gefordert. FDP und AfD wollten einen Untersuchungsausschuss im Bundestag einrichten. Die Forderung wurde von vielen offenbar der AfD-nahestehenden Nutzern in Sozialen Netzwerken geteilt. Da sich die Grünen sowie die Linke dagegen aussprachen und später auch die SPD, wurde dieser jedoch nicht eingerichtet.

Veränderte Sachlage

Anfang Juni änderte sich langsam die Tonalität in der Berichterstattung. So schrieben Caterina Lobenstein und Martin Klingst auf Zeit Online in einem Artikel mit der Überschrift „Bamf-Skandal – Opfer einer Intrige?“, dass es laut der Aussage eines Anwalts Unterlagen gebe, die Urike B. entlasten würden.

Am 12. und 13. Juni veröffentlichten auch die Medien, die als erstes die Vorwürfe publik gemacht hatten, Berichte über eine veränderte Sachlage. Auf Sueddeutsche.de hieß es unter dem Titel „Zweifel an Vorwürfen gegen Bamf-Außenstelle“, dass offenbar weit weniger Fälle unrechtmäßig beschieden worden seien als vorher vermutet und dass es Zweifel am Belastungszeugen gebe. Der Faktenfinder der Tagesschau fasste in mehreren Fragen und Antworten unter anderem zusammen, dass die Bremer Bamf-Behörde völlig rechtmäßig zwischenzeitlich Anträge aus anderen Zuständigkeitsbereichen bearbeitet hatte. Zudem sei es in Bremen vor allem um Anträge von jesidischen Asylbewerbern gegangen. Da die Vereinten Nationen die Verbrechen an den Jesiden als Völkermord durch den sogenannten „Islamischen Staat“ eingestuft hatten, sei die Anerkennungsquote in Deutschland auch außerhalb von Bremen sehr hoch gewesen. Des Weiteren gebe es keine Beweise, dass Ulrike B. bestechlich war.

Dass es einen neuen Stand der Dinge gab, war für Leser der Bild-Zeitung vorerst nicht zu erkennen. Auch am 20. Juni wurden dort noch Artikel mit Überschriften wie „Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler – Keiner will uns sagen, ob DIE noch bei uns sind“ veröffentlicht, in denen thematisiert wurde, inwieweit das BAMF Schwerverbrechern Asyl gewährt habe.

BAMF-Chefin Jutta Cordt wurde dann am 21. Juni ihres Amtes enthoben.

Alle groß angekündigten Verdächtigungen nicht zutreffend

Ungewöhnlich an der Berichterstattung über das die Bremer BAMF-Außenstelle war auch, dass diese recht bald stark unter medienkritischer Beobachtung stand, obwohl sie bis heute noch nicht einmal abgeschlossen ist, da die Sachlage an sich juristisch noch nicht geklärt ist. Knapp eine Woche, nachdem SZ, NDR und Radio Bremen die anfänglichen Verdächtigungen stark relativierten, veröffentlichte der Strafrechtprofessor Hennig Ernst Müller am 19. Juni eine rein auf die bis dahin erschienenen Veröffentlichungen bezogene Analyse der Berichterstattung in dem juristischen Web-Portal „Beck-Community“. Nach eigenen Aussagen hatte er ursprünglich einen Artikel über die inhaltlichen Verfehlungen im BAMF schreiben wollen und sei dann sehr überrascht gewesen, dass sich alle groß angekündigten Verdächtigungen als nicht zutreffend erwiesen. Von der seriösen Presse habe er das nicht erwartet. Entsprechend hart geht er in seiner Analyse dann auch mit dem Rechercheverbund ins Gericht:

„Sie (der Verbund, die Red.) haben Menschen mit Vorwürfen maximal geschadet, um eine Geschichte zu bringen, die schlecht recherchiert und unausgegoren war und damit den Rufmord vor die Recherche gestellt“.

Trotz der unsauberen Recherche habe man dann jedoch aufgrund der „geschilderten konkreten Details“ kaum daran zweifeln können, dass Ulrike B. Unrecht begangen habe. Und das, obwohl die Journalisten durch die Verwendung des Konjunktivs formal den Richtlinien der Verdachtsberichterstattung Genüge getan hätten. Müller wirft dem Rechercheverbund außerdem vor, dass dessen Journalisten nicht genügend beachtet hätten, welche Folge solche Rechercheergebnisse seriöser Medien in rechten Kreisen haben könnten: „In der heutigen Zeit müssen Journalisten wissen, was ihre Berichte über ein Ermittlungsverfahren anrichten können. Umso besser und fundierter muss die Recherche sein.“ Müllers Beitrag für die Beck-Community wurde kurz darauf auch auf dem medienkritischen Blog „Übermedien“ veröffentlicht.

Nicht ausreichend recherchiert

Die kritische Analyse des Strafrechtsprofessors ergänzend, wurde auf Übermedien auch eine Stellungnahme des Investigativchefs des Norddeutschen Rundfunks, Stephan Wels, veröffentlicht. Er sagt darin unter anderem, dass in den veröffentlichten Berichten deutlich gemacht worden sei, dass es sich bei den Vorwürfen nur um einen Verdacht handelt. „Wir haben uns diesen Verdacht aber nicht zu eigen gemacht, sondern sofort versucht, alle Argumente ins Gesamtbild einzufügen“, so Wels.

Müller hat seinen Blog-Eintrag nach der Erstveröffentlichung immer weiter aktualisiert. So beschrieb er im Juli und August unter anderem, wie verschiedene Medien davon berichten, dass der Skandal langsam „in sich zusammenbricht“ und immer neue, teils widersprüchliche Aussagen gemacht werden, wie viele der ursprünglichen 1.800 bis 2.000 Fälle tatsächlich falsch beschieden worden sind. Auch andere Medien (wie FAZ und Spiegel Online) hätten nicht ausreichend recherchiert und nur ungenau über die Sachlage berichteten.

Neben der Kritik des Juraprofessors gab es auch pointierte Kritik von Kollegen aus dem Journalismus. „Der Bamf-Skandal ist ein Presseskandal“ – so beurteilte es zumindest der Berliner Journalist und Datenexperte Lorenz Matzat in einem Artikel, den er am 26. September auf Medium.com veröffentlichte. Er begründet dies mit vier Kritikpunkten. Zuerst einmal habe es keine Stellungnahme der Verdächtigten gegeben: „Die Beschuldigte selbst war nicht konfrontiert worden; andere Recherchen, ob die Vorwürfe stimmten, hatte es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gegeben.“ Auch Matzat wirft dem Rechercheverbund vor, dass er die Konsequenzen ihrer Berichterstattung zu wenig im Blick gehabt habe. Offenbar habe man sich nicht „dem Vorwurf des angeblichen Verschweigens“ aussetzen wollen. „So kam es möglicherweise zu einer unguten Melange aus Geilheit auf einen Scoop, einer Prise ,Besorgtbürgertums‘ sowie Angst vor der AfD und anderer rechter Schreihälse. Im vorauseilenden Gehorsam wurde gehandelt“, spekuliert Matzat. Abschließend kritisiert er das Vehikel der „privilegierten Quelle“, aufgrund dessen Behörden grundsätzlich glaubwürdige Aussagen machen würden. „Wie kann sich solch ein obrigkeitshöriges Konstrukt mit dem Selbstverständnis einer freien und unabhängigen Presse vertragen?“, fragt Matzat daher. Der tatsächliche Skandal an der Berichterstattung des Rechercheverbunds sei nun, „dass es eine Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den begangenen Fehlern und seinen Folgen nicht gibt“.

„Möglicherweise zu wenig hingeguckt“

Auf Matzats Kritik hin gab es keine Reaktion vom Rechercheverbund. Stephan Wels vom NDR begründet dies im persönlichen Gespräch auch mit der Tatsache, dass Matzat seinen Artikel veröffentlicht hatte, ohne vorher mit den betreffenden Kollegen vom Rechercheverbund gesprochen zu haben: „Ich habe mich echt ein bisschen gewundert – warum ruft der uns nicht an? Es ist ja nicht schwer, uns ausfindig zu machen“. So habe er zu den Anschuldigungen im Vorhinein keine Stellung nehmen können.

Der Leiter der Recherche-Redaktion von Radio Bremen, Jochen Gabler, äußerte sich zu den Vorwürfen jedoch an anderer Stelle. Im Deutschlandfunk sagte er im August 2018, dass „möglicherweise zu Anfang, als die Basis der Vorwürfe im Wesentlichen auf einem Bericht der Interimsleiterin des Bremer Bamf beruhten, zu wenig hingeguckt“ worden sei. Angesicht der Vorwürfe, die anfangs aber im Raum standen, sei es nicht in Frage gekommen, nicht darüber zu berichten: „Ich möchte die Redaktion sehen, die angesichts von Durchsuchungen nicht berichtet, bis alles geklärt ist. Das halte ich für absurd, das ist jenseits der Realität“.

Ähnlich äußerte sich seine Kollegin Christine Adelhardt, Koordinatorin der BAMF-Recherche von NDR, Radio Bremen und SZ nochmals im Mai 2019 gegenüber der taz:

„Unsere ersten Berichte waren klassische Verdachtsberichterstattung: Wir haben den Verdacht der Staatsanwaltschaft wiedergegeben. Dieser Verdacht, Korruption und Bestechung in einer deutschen Behörde, kam so monströs daher, da wüsste ich nicht, wie wir nicht hätten berichten sollen.“

Richtigzustellen habe man bei SZ/NDR/Radio Bremen nichts, da vor der Veröffentlichung des Verdachts auch die Informationen der privilegierten Quelle ‚Bremer Staatsanwaltschaft‘ sorgfältig überprüft worden seien und es neben dem Durchsuchungsbeschluss für die hohe Anzahl der manipulierten Akten zwei unabhängige Quellen gegeben habe. Außerdem habe ihre Redaktion früh diverse Fakten in Frage gestellt: „Wir haben so gut wir konnten in beide Richtungen recherchiert. Was daraus politisch gemacht wird, dafür können wir nichts“.

Erhebliche Rufschädigung

Strafrechtsprofessor Müller kritisiert Adelhardts Aussagen in seinem aktualisierten Blogbeitrag in der Beck-Community. Seiner Einschätzung nach habe natürlich über den Vorfall berichtet werden sollen, aber erst „NACH einer Recherche“. Er bestreite nach wie vor, dass es vor der Erstveröffentlichung tatsächlich eine sorgfältige Prüfung der privilegierten Quellen gegeben habe. Auch sei die BAMF-Berichterstattung mehr als „klassische Verdachtsberichterstattung“ gewesen, da es sich um eine „von einem Recherchenetzwerk koordinierte gleichzeitige Veröffentlichung in Großaufmachung unter Mitteilung von Details“ gehandelt habe. Journalisten stellten sich naiv, wenn sie sagten, dass sie nichts dafür könnten, was politisch daraus gemacht werde: „Dass es politische ‚Schockwellen‘ geben würde und eine erhebliche Rufschädigung einer bis dahin nicht öffentlich bekannten Beamtin, war vorhersehbar und wegen der großen Aufmachung auch durchaus ‚gewollt‘“.

Auf den Aspekt der privilegierten Quellen geht auch die taz im Mai nochmal ein. Denn das Bremer Verwaltungsgericht hatte kurz zuvor befunden, dass die Staatsanwaltschaft Ulrike B. in den Medien unzulässig vorverurteilt hat. Zeit Online habe daher einen Bericht löschen müssen, der private Details enthielt, die die Journalisten von einem Sprecher der Staatsanwaltschaft erfahren hatten.

Juristisch ist die Frage, inwieweit es einen BAMF-Skandal tatsächlich gegeben hat, auch im Juni 2019 noch nicht abschließend geklärt. Panorama hatte im März dieses Jahres berichtet, dass rund 18.000 positiv beschiedene Asylbescheide aus Bremen überprüft worden und nur 47 davon widerrufen oder zurückgenommen seien. Die Anzahl der widerrufenen Verfahren in Bremen liege somit auf einem bundesweiten Niveau. Was die möglichen Motive von Ulrike B. betreffe, gehe die Ermittlergruppe laut Panorama inzwischen davon aus, dass zwischen der ehemaligen Behördenleiterin und dem jesidischen Anwalt Irfan Cakar eine „besondere Nähe“ bestanden habe: „Um dem Anwalt zu gefallen, so der Verdacht, soll die Beamtin Asylanträge rechtswidrig positiv entschieden haben – in welcher Zahl dies der Fall sein soll, ist noch nicht endgültig geklärt“.

Kaum belastbare Rückschlüsse

Auch „Buten un Binnen“, ein Regionalmagazin von Radio Bremen, griff den „BAMF-Skandal“ ein Jahr nach der Erstveröffentlichung des Verdachts nochmal auf: „Heute, ein Jahr danach, gehen die Ermittler nach wie vor davon aus, dass der BAMF-Skandal existiert, auch wenn sie ihn so nicht nennen. […] Der Verdacht gegen die Beschuldigten habe sich nach der Auswertung der Akten und E-Mails erhärtet, sagt der Sprecher der Bremer Staatsanwaltschaft, Frank Passade.“ Gleichzeitig schreibt der Autor des Artikels, dass die Zahl der 47 widerrufenen oder zurückgenommenen Verfahren „kaum belastbare Rückschlüsse zu[lasse], ob Asylanträge bewusst manipuliert wurden“. Des Weiteren heißt es in dem Text: „Ein Jahr danach wissen wir kaum mehr als zu Beginn des Skandals.“ Im Sommer wolle die Bremer Staatsanwaltschaft ihr Ermittlungsergebnis präsentieren und entscheiden, ob sie Anklage bei Gericht erhebt.

Strafrechtsprofessor Müller zieht in seinem Blogeintrag dennoch das folgende Fazit:

„Ich habe mittlerweile zwar keinen Zweifel mehr daran, dass insb. jesidische Asylantragsteller, die von den beiden involvierten Kanzleien kamen, in Bremen sehr wohlwollend behandelt wurden und hierbei wohl auch möglicherweise interne Vorschriften missachtet wurden. Meine derzeitige Einschätzung ist aber, dass der Bremer BAMF-Skandal stark übertrieben wurde und sich am Ende als weit begrenzter herausstellen wird als zunächst verkündet; möglicherweise bleibt von einem ‚Skandal‘ auch gar nichts übrig außer der Skandal der (übertriebenen) Medienberichterstattung darüber selbst“.

Quellenverzeichnis