#nr22 | Auszeichnung | Krisenberichterstattung

„Ich kann mich nur verneigen“ (12. Oktober 2022)

Arndt Ginzel erhält den Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2022 für seine mutige Berichterstattung aus dem Krieg in der Ukraine

Der freie Fernsehreporter Arndt Ginzel ist mit dem Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2022 ausgezeichnet worden. Auch, aber nicht ausschließlich für seinen Film „Die Straße des Todes“ (ZDF), den Laudator Christoph Reuter eine „lange, beklemmende Fahrt in den Wahnsinn von Putins Inva­sion“ nannte. Er sei ein bisschen neidisch gewesen, sagte der Spiegel-Reporter, weil Ginzel zu früh so tief aus der Ukraine berichten konnte, und schloss seine Laudatio mit den Worten: „Ich kann mich nur verneigen.“

„Arndt Ginzel ist mit seinen Recherchen wie kaum jemand sonst vor Ort russischen Kriegsverbrechen nachgegangen und hat damit dem deutschen Publikum auf herausragende Weise die Schrecken dieses Krieges Nahe gebracht“, würdigte Daniel Drepper, Vorsitzender von Netzwerk Recherche (NR), den Preisträger.

Ginzel berichtet während des russischen Angriffskrieges – hauptsächlich für das ZDF – aus der Ukraine und begibt sich mitten in die Frontregion. Während er recherchiert, riskiert er sein Leben – und hält trotzdem seine hohen journalistischen Standards ein.

Mit dem Leuchtturm ehrt NR aber nicht nur seine jüngere Arbeiten. Bereits seit der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 recherchierte Ginzel zu prorussischen Separatisten. Außerdem berichtet Ginzel immer wieder auch im ZDF-Magazin frontal unter hohem persönlichem Einsatz über radikale Coronaleugner:innen und Rechtsradikale in Deutschland, die zu Gewalt gegen Politiker:innen aufrufen.

Als freier Journalist geht Ginzel dabei ein besonderes Risiko ein. Mit diesem Preis möchte NR deshalb auch die Arbeit anderer freier Journalist:innen würdigen und sich für umfassende Unterstützung und bessere Arbeitsbedingungen aussprechen.

„Seit Ausbruch des Krieges ist einmal mehr deutlich geworden, wie schwach viele deutsche Redaktionen im Ausland aufgestellt sind – und wie prekär die Lage von freien Kolleg:innen ist, die diese Lücken füllen sollen. Diese Auszeichnung soll ein Licht auf die unzureichenden Bedingungen werfen, unter denen viele freie Kolleg:innen vor allem in der Recherche und im Ausland oft arbeiten müssen“, sagte Drepper.

Der Preisträger selbst dankte seinem Team in der Ukraine („auch Freie“) und seinem Kameramann („auch frei“), ohne die „dieser Film nie möglich gewesen“ wäre. Ausdrücklich bedankte er sich auch bei der frontal-Redaktion.

#nr22 | Medienkritik

„Es geht vor allem um Sensibilisierung“ (12. Oktober 2022)

Sollen, dürfen oder müssen Medien Bilder von Gewaltaten zeigen? Einschätzungen der Medienethikerin Claudia Paganini

Täglich erreichen schockierende Aufnahmen von teils extremer Gewalt die Redaktionen. Als Gatekeeper müssen Journalist*innen abwägen, welche Bilder noch dem Informationsinteresse oder nur dem abstoßendem Schrecken dienen. Entscheiden sie sich für eine Publikation, könnte ihnen Sensationsgier unterstellt werden. Zur journalistischen Arbeit gehört es jedoch, auch mittels Fotografien über Gewalt, Leid und Tod zu berichten.

Der Diskurs über Gewaltbilder bewegt sich zwischen zentralen Maximen der Bildethik. Auf der einen Seite die professionelle Augenzeugenschaft: Dahinter steht die Erwartung an die Bildberichterstattung, die Situation vor Ort so treffend wie möglich wiederzugeben. Auf der anderen Seite sollen die Persönlichkeitsrechte von Abgebildeten und Angehörigen geschützt werden. Beide Maximen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Wie also kann eine ethisch korrekte Bildberichterstattung in Kriegszeiten aussehen? Die Medienethikerin Claudia Paganini, Professorin an der Hochschule für Philosophie in München, beschreibt im Interview, welche ethischen Kriterien bei der journalistischen Bildauswahl entscheidend sein sollten.

Frau Paganini, wie definieren Sie aus medienethischer Perspektive ethisch korrekten Fotojournalismus?

Paganini: Das Wichtigste ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Publikationen noch ethisch vertretbar sind und welche nicht, und nicht in einen Automatismus zu verfallen. Wir dürfen es uns auf keinen Fall einfach machen und denken, dass nur weil man gegen den Krieg mobilisieren und aufklären möchte, man alles veröffentlichen darf.

Klar, aber wie trifft man die richtige Entscheidung?

In der Ethik ist es ganz oft so, dass wir gar nicht die Möglichkeit haben, die eine gute Lösung zu finden. Wir finden uns in Situationen wieder, die so komplex und schwierig sind, dass es eigentlich nur schlechte Lösungen gibt – gerade bei der Kriegsberichterstattung. Man sollte daher versuchen, möglichst alle Perspektiven der Beteiligten zu berücksichtigen, und sich fragen, wie sich das für eine betroffene Person anfühlt.

Worauf sollten Redaktionen achten, um eine ethisch korrekte Bildberichterstattung zu gewährleisten?

Also auf jeden Fall das Problembewusstsein, dass es verschiedene Spannungsfelder gibt, die ich berücksichtigen muss. Mitgefühl gegenüber den Objekten meiner Berichterstattung. Verantwortung gegenüber den Rezipient*innen. Eine realistische Einschätzung dessen, was mein Bild leisten kann und wie es wahrgenommen wird. Wobei es da wichtig ist, sich selbst und die Funktion des eigenen Bilds weder zu unter- noch zu überschätzen. Und ich würde auch noch sagen Kompetenz – fachliche Kompetenz. Dass ich das journalistische Handwerk beherrsche.

Was müssten die Redaktionen an ihrer Struktur ändern, damit Journalist*innen vermehrt auf Schockbilder verzichten?

Zunächst ist es elementar, den Druck von den Journalist*innen zu nehmen. Man muss sich bewusst sein, dass der ständige ökonomische Druck innerhalb der Redaktionen nicht ideal ist, um gegenüber anderen Empathie zu zeigen. Wenn der redaktionelle Druck reduziert wurde, geht es vor allem um Sensibilisierung. Man muss Journalist*innen zeigen, was für Auswirkungen ihre Berichterstattung haben kann, wie es den Betroffenen damit langfristig geht und dass sowohl Berichtsobjekte als auch die Adressat*innen retraumatisiert und getriggert werden können. Wir können Journalist*innen nicht dazu verpflichten, moralische Helden zu sein.

Aber was kann man in Aus- und Fortbildung tun?

Journalist*innen sollten vermittelt bekommen, wie Krisenkommunikation funktioniert, wie Menschen Krisen verarbeiten und in welcher Phase man welche Fragen eher vermeiden sollte. Es wäre sinnvoll, eine Art Supervision anzubieten. Denn nur, wenn ich meine eigenen Emotionen verstehe, verarbeite, kann ich mich wiederum für den anderen öffnen.

Sollte eine Professionsethik, also ein Grundkonsens über verbindende Werte und unverrückbare Maßstäbe für die Berichterstattung, im Fotojournalismus etabliert werden?

Ich denke, dass Professionsethiken sehr wichtig sind, weil sie Orientierung bieten und den Einzelnen auch ein Stück weit entlasten. Es muss jedoch immer einen Spielraum für die konkrete Situation geben. Der Umstand, dass jede*r Journalist*in Richtlinien für sich anders auslegt, ist grundsätzlich etwas Positives. Dadurch kommt in einer Demokratie eine unterschiedliche Berichterstattung zustande, die dem Publikum entspricht.

Haben Sie eine Idee, wie konstruktiver Fotojournalismus aussehen könnte?

Man könnte mit Bildern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen, sich zu engagieren. Beispielsweise zeigen, dass deutsche Familien geflüchtete Familien aufnehmen. Zeigen, wie Freiwillige Kleidungsspenden sortieren und ausgeben, aber auch wie Journalist*innen sich bemühen, seriöse Recherche zu betreiben. Es muss nicht immer humanitäres Engagement sein. Wir müssen nun wirklich keine Angst haben, dass die Menschen vergessen, dass Krieg schrecklich ist, weil sie zu wenig schreckliche Bilder sehen.

#nr22 | Kriegsberichterstattung

Zeigen, was niemand sehen will (12. Oktober 2022)

Kriegsfotografie bewegt sich im Graubereich der Informationspflicht: Sollten Medien Kriegsbilder zeigen, auf denen ­getötete und verstümmelte Menschen zu sehen sind? Eine ethische Herausforderung für Redaktionen

von Hannah Reuter

Die Wirklichkeit des Krieges ist manchmal kaum auszuhalten: erschütternd, grausam, unmenschlich. Den Journalismus stellt das vor die Herausforderung, das Unerträgliche angemessen abbilden zu müssen. Wie geht das? „Journalisten müssen dokumentieren, was passiert“, sagt der Fotojournalist Till Mayer, der bereits aus zahlreichen Krisenregionen berichtet hat. Er selber sieht „Schlachtengemälde“, wie er sagt, nicht als seine Art der Fotografie. Stattdessen stehen in seinen Portraits die Menschen im Mittelpunkt. Ihnen möchte er Stärke verleihen. Doch nur wenn das Kriegsgeschehen ungeschönt gezeigt werde, könnten die Menschen zuhause verstehen, was vor Ort wirklich geschehe, meint Mayer.

So einleuchtend diese Auffassung ist, Fotoredaktionen können derlei Entscheidung nicht losgelöst von ethischen und rechtlichen Abwägungen treffen. Etwa bei der Frage: Kann das öffentliche Informationsinteresse rechtfertigen, dass Menschen abgebildet werden, die auf brutalste Weise im Krieg getötet wurden? „Ein Zurschaustellen identifizierbarer Leichen gibt es bei uns nicht“, erklärt Andreas Prost, Leiter der Bildredaktion von Zeit Online. „Das Persönlichkeitsrecht wiegt für mich in dem Moment schwerer als das Informationsbedürfnis.“ Auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) bietet ihren Kunden keine Bilder von getöteten Personen an, auf denen die Gesichter erkennbar sind.

Darstellungen, auf denen die Opfer identifiziert werden können, greifen nicht nur in ihre Persönlichkeitsrechte ein, sondern verletzten auch ihre Würde. „Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung“, heißt es in Ziffer 8 des deutschen Pressekodex. Präzisiert wird dies in Ziffer 11: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird.“ Die Getöteten dürfen durch die Bilder nicht ein zweites Mal zu Opfern gemacht werden.

Was ist zumutbar?

Doch neben den Betroffenen selbst spielt immer auch der Schutz des Publikums eine Rolle. Marlis Prinzing, Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln, plädiert dafür, bei jedem Bild sorgfältig zwischen der öffentlichen Relevanz und den Zumutungen für das Publikum abzuwägen. „Journalistinnen und Journalisten sollten überlegen, was damit ausgelöst werden könnte, bevor sie solche Bilder veröffentlichen“, so Prinzing. Personen gingen auf emotionaler Ebene sehr unterschiedlich mit Bildern dieser Art um. Eine eindeutige, vorhersehbare Wirkung gebe es nicht, erklärt die Medienethikerin.

Das Publikum vollständig vor schrecklichen Kriegsbildern abzuschirmen, ist durch die Verbreitung in den sozialen Medien kaum möglich. Auf diesen Plattformen können Warnhinweise Nutzer*innen aber zumindest auf sensible Inhalte aufmerksam machen. Dieser Leitlinie folgt auch Zeit Online, indem alle Bilder, die getötete oder schwer verletzte Personen zeigen, hinter einer solchen Warnung verborgen werden. Die Entscheidung liegt somit vor allem bei den Leser*innen selbst. Doch auch darüber gibt es in der Redaktion oft Diskussionen: „Das Empfinden, was gezeigt werden kann oder eine Triggerwarnung braucht, ist sehr unterschiedlich“, räumt Andreas Prost ein.

Bilder dieser Art sind wohl für die meisten Menschen nur schwer zu ertragen. Till Mayer berichtet seit vielen Jahren aus dem Ukraine-Konflikt. Bis zum Einmarsch Russlands habe es nur niemanden so richtig interessiert, meint der Fotojournalist, der auch in dieser Phase des Krieges wieder in der Ukraine unterwegs ist. Er hält es für möglich, dass eine stärkere mediale Aufmerksamkeit öffentlichen Druck erzeugen und so die Eskalation eines Konflikts verhindern kann: „Wegschauen behebt kein Problem, es bringt auch jetzt die Gefahr eines großen europaweiten Krieges immer näher“, meint Mayer. Auch Marlis Prinzing sieht in grausamen Kriegsbildern das Potenzial, auf humanitäre Katastrophen aufmerksam zu machen und somit möglicherweise sogar zu einer Lösung beizutragen.

Würde bewahren

Gleichzeitig besteht laut der Expertin für Medienethik die Gefahr einer einseitigen Berichterstattung, die sich zu sehr an dem Narrativ einer der Kriegsparteien orientiert. Für die Fotojournalistin Julia Leeb geht dies oft damit einher, dass die plakative Darstellung von Opfern genutzt wird, um politische Entscheidungen und militärische Maßnahmen zu legitimieren. Die Journalistin, die bereits aus vielen Krisenregionen, darunter Libyen, Syrien und dem Sudan, berichtet hat, plädiert daher dafür, das Motiv hinter einzelnen Bildern zu hinterfragen: „Man darf auf keinen Fall das Leid der Anderen in­stru­mentalisieren, um eine gewisse Meinung hervorzurufen oder emotionalen Druck aufzubauen.“

Kriegsbilder sollten zwingend die Würde der abgebildeten Menschen bewahren. Dabei ist nicht nur entscheidend, ob Leichen gezeigt, sondern auch, wie sie dargestellt werden. Möglich ist etwa, nur einzelne Körperteile von Getöteten zu zeigen, ihre Gesichter zu verpixeln oder sie aus einer anderen Perspektive zu fotografieren. Um in dieser Frage die richtige Entscheidung treffen zu können, ist für Andreas Prost der Kontakt zu den Fotograf*innen vor Ort wichtig. „Der Editierprozess ist im Idealfall nicht einseitig“, erklärt der Fotoredakteur. „Im Austausch mit den Personen vor Ort kann ich mir die Situation einordnen lassen, in der das Bild entstanden ist, um die Szene besser zu verstehen.“

Ob ein Bild die Würde der Opfer verletzt, das Publikum verstört oder doch ein wichtiger Teil von realistischer Kriegsberichterstattung ist, muss für jede Darstellung einzeln diskutiert und sorgfältig abgewogen werden. Weder die Ethik noch die Wissenschaft können den Redaktionen die Gewissensentscheidung abnehmen, sie stoßen hier an ihre Grenzen.

#nr22 | Gemeinnütziger Journalismus

Im Osten viel Neues (12. Oktober 2022)

Der Lokaljournalismus in Ostdeutschland erfindet sich neu. Für die Gründer*innen bedeutet das einen Balanceakt zwischen den Herausforderungen und Potenzialen der Region

von Alexandra Tornow

Der Lokaljournalismus in den ostdeutschen Bundesländern befindet sich im Aufbruch. Das zeigen verschiedene Start-ups, die das regionale Medienangebot mit ambitionierten Projekten erweitern. Die Gründer*innen stellen sich dabei einer schwierigen Ausgangslage. „Es bringt ja nichts, weiter in einer Lokalredaktion zu hocken und zu sehen, wie da die Leser schwinden und die Kollegen immer weniger werden“, sagt Christine Keilholz. Sie ist die Gründerin von Neue Lausitz, einer Online-Publikation, die den Strukturwandel in der brandenburgischen und sächsischen Region thematisiert. Seit Anfang 2022 schickt sie wöchentlich Newsletter an ihre Abonnent*innen, größtenteils Personen, die sich ihrerseits am regionalen Strukturwandel beteiligen.

Klein und agil

Ob der digitale und zielgruppenorientierte Newsletter eine Art Tageszeitung von morgen werden kann, bleibt abzuwarten. Der Bedarf nach lokalen Informationen sei aber nach wie vor da, meint Keilholz. Dörthe Ziemer, die Gründerin des Online-Magazins Wokreisel, stimmt zu. Für den brandenburgischen Landkreis Dahme-Spreewald berichtet sie seit Mai 2021 über Gesellschaft, Politik und Kultur. Dabei setzt sie wie viele neue Lokalmedien auf Tiefgründigkeit. Statt hektisch gefüllter Zeitungsseiten will das Wokreisel-Team lieber im Wochentakt gründliche Recherchen anbieten.

Wer Pionier*in sein will, muss sich trauen, neue Wege einzuschlagen. Sowohl Ziemer als auch Keilholz waren zwar zuvor schon im Lokaljournalismus tätig, doch Unternehmertum will auch gelernt sein. „Suchen, finden, ausprobieren“, beschreibt Ziemer den Entwicklungsprozess von Wokreisel. Während die gelernte Journalistin versucht, zwischen dem Online-Magazin und ihrem zweiten Standbein als Freie im PR-Bereich die Balance zu halten, beschäftigt Keilholz besonders die Autor*innensuche für Neue Lausitz: „In einer Region wie der Lausitz Autoren zu finden, die den thematischen Background und das Handwerkszeug haben, um eine solche Publikation zu bespielen, das ist nicht so leicht“. Die Start-ups können weder von etablierten Medienhäusern profitieren, die ihnen den Rücken stärken, noch sind die ostdeutschen Regionen als große Medienstandorte bekannt. Gerade kleine Medienstandorte seien aber ideal, um solche neuen Projekte auszuprobieren, meint Henryk Balkow vom Mediennetzwerk Thüringen (MENT): „Wir können die Vorreiter sein, weil wir klein und agil sind.“ MENT bringt Medienunternehmen, Freiberufler*innen und Journalist*innen zusammen und will unter dem Motto „Kooperation statt Konkurrenz“ neue Ideen fördern – auch im Lokaljournalismus.

Das Risiko, dass sich ein Projekt nicht zu dem entwickelt, was sich die Gründer*innen zu Beginn vorgestellt hatten, besteht durchaus. So endete im Juni Der Bus, ein sechsmonatiges Pilotprojekt von Krautreporter und dem Medieninnovationszentrum Babelsberg, für das auch Keilholz als Redakteurin tätig war.

Viele sind auf Fördermittel angewiesen

Das digitale Stadtmagazin für Cottbus hielt in seinem Newsletter junge Cottbuser*innen über das Geschehen in der brandenburgischen Stadt auf dem Laufenden. Zum Ende des Förderzeitraums habe sich aber keine nachhaltige Finanzierung eingestellt, hieß es im letzten Newsletter. Dass sich ostdeutsche lokaljournalistische Projekte aber auch etablieren können, beweist Katapult MV. Mehr als 5.000 Unterstützer*innen finanzieren mittlerweile die im Juni 2021 gegründete Redaktion, die neben ihrem Hauptsitz in Greifswald ein Lokalbüro in Rostock betreibt und weitere Standorte aufbauen will. Das Print-Magazin für Mecklenburg-Vorpommern erhalten Abonnent*innen einmal im Monat mit exklusiven Beiträgen, während die aktuelle Berichterstattung auf der Website und auf Social Media überwiegend kostenlos ist.

Von ähnlichen Abozahlen sind die meisten Start-ups noch weit entfernt. Dennoch finanziert sich Neue Lausitz einzig über Abonnements, anfangs mussten eigene Rücklagen herhalten. Den Preis für ihr Angebot legt Keilholz je nach Interessent*in fest – Privatpersonen zahlen weniger als Unternehmen, bei denen mehrere Personen mitlesen. Wokreisel lebt seit Gründungsbeginn von Fördermitteln des Landes Brandenburg und des Grow-Stipendiums von Netzwerk Recherche und wird auch im kommenden Jahr auf Fördermittel angewiesen sein. Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg unterstützte 2022 zum zweiten Mal in Folge 32 lokaljournalistische Projekte mit insgesamt einer Million Euro. Wokreisel-Leser*innen haben dadurch kostenfrei Zugriff auf die Inhalte, nur der Newsletter ist seit August kostenpflichtig. Die Fördermittel gaben Ziemer die Sicherheit und gleichzeitig die Freiheit, etwas Neues auszuprobieren: „Ich habe jetzt keinen Businessplan, der 10, 15 Jahre trägt. Aber ich denke, so geht’s dem Lokaljournalismus auch – der hat auch keinen Businessplan für die nächsten 20 Jahre.“

Wider die Spaltung

Nicht nur wegen finanzieller Unsicherheiten braucht es Mut, sich mit Lokaljournalismus selbstständig zu machen und kritisch zu berichten. Laut dem European Centre for Press and Media Freedom nahm 2021 die Zahl der Angriffe auf Lokaljournalist*innen in Deutschland zu. Angefeindet wurden Keilholz und Ziemer bislang nicht – auch wenn in den Landkreisen, aus denen sie berichten, einige Populist*innen und Kohleausstiegsgegner*innen den Medienverdruss befeuern. Im Schnitt stehen Ostdeutsche den Medien etwas skeptischer gegenüber, bestätigt Christopher Pollak vom Zentrum Journalismus und Demokratie der Universität Leipzig. Dass ostdeutsche Lebenswelten seltener medial aufgegriffen werden, sei eine mögliche Erklärung dafür. Westdeutsche sind bundesweit in Führungspositionen der Leitmedien überrepräsentiert und fast alle Regionalzeitungen, die im Osten erscheinen, gehören westdeutschen Verlagen, zeigte eine Untersuchung von Lutz Mükke für die Otto Brenner Stiftung.

Ob bewusst oder nicht: die Neugründungen steuern dieser medialen Spaltung entgegen. Für Pollak ist das ein Grund zur Hoffnung. Denn wenn vermehrt regionale Perspektiven journalistisch dargestellt werden, könnte das Medienvertrauen vor Ort gestärkt werden. Trotz vieler Hürden steckt in den Projekten somit das Potenzial für Veränderungen – im Lokaljournalismus und in der ostdeutschen Öffentlichkeit.

#nr22

Aus den eigenen Fehlern lernen (12. Oktober 2022)

Nach den Aufregungen um rbb und NDR gibt es großen Diskussions- und Handlungsbedarf. Welche Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist berechtigt – und welche überzogen?

von Steven Vorphal und David Hammersen

Nach der Affäre um rbb-Intendantin Patricia Schlesinger und Vorwürfen gegen den NDR steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter Dauerfeuer. Einige Politiker*innen fordern unter anderem eine stärkere Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die Reduzierung der Gehälter von Führungskräften.

Zukunft ohne ARD?

Johannes Boie, Chefredakteur der Bild-Zeitung, holt zu einer Generalabrechnung aus und wirft der ARD einen politischen „Linksdrall“ vor. „Das Erste ist oft das Allerletzte“, schrieb Boie in einem Kommentar über den Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und legte auf der NR-Jahreskonferenz noch einmal nach: Er könne sich eine Zukunft ohne ARD vorstellen, in der das ZDF auch die regionale Berichterstattung übernehme.

Dass Handlungsbedarf besteht und Strukturen sowie Zuständigkeiten reformiert werden müssen, bestätigen auch Akteure aus der ARD. „Eines der wesentlichen Probleme in diesem Sender ist, dass die Menschen, die den Finger in die Wunde legen, nicht ernst genommen wurden“, kritisierte NDR-Redakteurin Christine Adelhardt und fügte hinzu: „Ich will mit meinen Interessen nicht missachtet werden und da kann der NDR noch eine Menge lernen.“ NDR-Intendant Joachim Knuth räumte in einer anderen Diskussionsrunde zum Thema ein: „Wir haben die Situation in dieser Dimension nicht gesehen.“

Entstanden ist eine unübersichtliche Situation mit ganz vielen Baustellen, mit Schuldzuschreibungen und Handlungsaufforderungen. Doch ist die Generalabrechnung berechtigt oder gibt es eine Gunst der Stunde: Impuls zur Reform?

Immer ein scharfes Auge auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Anton Rainer, Redakteur im Wirtschaftsressort des Spiegel, sieht das Problem der Debatte darin, dass sich die vielen unterschiedlichen Vorwürfe „unter dem Norddeutschen Rundfunk subsumieren“. Statt sich differenziert mit den verschiedenen Vorwürfen im Einzelnen auseinanderzusetzen, verliere sich die Berichterstattung zu sehr in einer Skandalisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an sich.

Geht die generelle Kritik an der ARD aus Teilen der Politik und privaten Medien wie der Bild-Zeitung also zu weit? „Wir haben grundsätzlich ein scharfes Auge auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, gibt Boie zu. Im Hinblick auf die aktuelle Situation sagt der Bild-Chefredakteur: „Hier kommen Skandale auf den Tisch und da stürzen sich alle drauf. Natürlich auch wir.“ Den Vorwurf unsachgemäßer Härte der Bild gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk lässt Boie nicht stehen: „Es war eine Berichterstattung wie jede andere. Immer mit gleicher Härte und gleichem Kompass.“

Berichterstattung von außen: gut für das Innere?

Der Buchautor und Fernsehproduzent Stephan Lamby, der das Panel moderierte, sieht in der generellen Berichterstattung von außen einen „Brustlöser“ für den Norddeutschen Rundfunk. Auch Intendant Knuth freut sich nach eigenen Angaben über die aufkommende Transparenz in der Aufarbeitung, an der er festhalten wolle. Das hofft auch die Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner (Grüne), Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für Digitales, und kann den negativen Schlagzeilen deshalb auch etwas Positives abgewinnen. Sie habe noch nie so viel selbstkritische Berichterstattung über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbst gesehen. „Das wird höchste Zeit und ist auch richtig. Denn es gibt viele Strukturen, die verändert werden müssen.“

Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda (SPD) sieht die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dieser werde für das demokratische „Zeitgespräch der Gesellschaft“ auch in Zukunft gebraucht. Doch würden die Sender mit ihren Programmleistungen vielleicht in einer gemeinsamen Plattform aufgehen.

#nr22 | Social Media

Nahbare News (5. Oktober 2022)

Immer mehr Medienhäuser platzieren journalistische Inhalte auf Tiktok – doch zu welchem Preis?

von Florian Görres und Yaejun Rhee

Anna Albrecht steht seit etwa drei Jahren für den TikTok-Account der Tagesschau vor der Handykamera, sie hat das Konzept mitentwickelt. Zusammen mit zwei Kolleg*innen präsentiert sie dort aktuelle Informationen über Ereignisse auf der ganzen Welt. Auch bekannte Fernsehgesichter sind gelegentlich auf dem Account zu sehen – ein Video, in dem Susanne Daubner die Anwärter auf die Jugendwörter des Jahres präsentierte, wurde zum viralen Hit. So könne das „perfektionistische und dadurch auch oft sehr steife Image“ der Tagesschau-Sprecher*innen aufgelockert werden, sagt Albrecht. „Wenn wir von Fakten sprechen, dann ist es auch gut, da so perfektionistisch zu sein. Aber trotzdem arbeiten hier auch Menschen, die Sport machen oder Computerspiele daddeln“, erklärt Albrecht weiter. (mehr …)

#nr22

Journalistik-Studierende der Universität Hamburg produzieren den Nestbeschmutzer zur #NR22 (4. Oktober 2022)

Die Redaktion. Foto: Wulf Rohwedder

Endlich wieder ein Nestbeschmutzer, der nicht im Homeoffice entstanden ist. Für die Zeitung zur Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche haben sich Studierende der Journalistik und Kommunikations­wissenschaft an der Universität Hamburg im Vorfeld intensiv mit den Themen der Tagung beschäftigt. Recherchen zum Klima- und Lokaljournalismus kommen im Blatt genauso vor wie Kriegsberichterstattung. Außerdem widmet sich der Nestbeschmutzer in einem umfangreichen Schwerpunkt der mangelnden Diversität in den Redaktionen. (mehr …)

#nr22 | Interview | Lokaljournalismus

„Ohne Kooperationen wird der Lokaljournalismus in Zukunft nicht denkbar sein“ (28. September 2022)

Der Lokaljournalismus befindet sich in einer angespannten Situation: Sinkende Abozahlen und fehlende Anzeigenerlöse führen vielerorts in Redaktionen zu Stellenabbau und Sparmaßnahmen. Tiefgehende Recherchen bleiben wegen der fehlenden Ressourcen zunehmend auf der Strecke. Recherchenetzwerke wie Correctiv.Lokal sind eine Antwort auf die wachsenden Probleme. Das gemeinnützige Recherchezentrum möchte den Lokaljournalismus stärken, in dem es datenbasierte Recherchen in vernetzter Zusammenarbeit mit Journalist*innen aus ganz Deutschland anstößt. Prof. Dr. Wiebke Möhring von der TU Dortmund spricht im Interview über die Herausforderungen von Recherchenetzwerken und die Zukunft von Kooperationen im Lokaljournalismus.

 

Frau Prof. Dr. Möhring, Netzwerke wie Correctiv.Lokal möchten gemeinsam mit tausenden Mitgliedern tiefgehende Recherchen anstoßen, um den Lokaljournalismus zu stärken. Wie muss eine solche Zusammenarbeit organisiert sein, damit sie gelingt?

Möhring: Im Vorhinein muss immer sehr klar sein, wie die Strukturen und Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit aussehen. Es muss abgesprochen und klar benannt werden, welcher Kooperationspartner welchen Anteil an der Recherche leistet. Zusätzlich muss die Veröffentlichungsstrategie der Recherchen mit dem Netzwerk abgestimmt werden, damit am Ende kein Partner nachrangig berichtet und sich vernachlässigt fühlt. (mehr …)

#nr22 | Kriegsberichterstattung | Video

Freie Kriegs- und Krisenreporter: Im Einsatz ohne Rückendeckung (28. September 2022)

Foto: ALEX CHAN TSZ YUK

Unfälle, Entführungen oder gar der Tod, für Krisen- und Kriegsreporter sind das reale Arbeitsrisiken. Doch Journalistinnen und Journalisten in Festanstellung haben gegenüber ihren freien Kollegen Vorteile: Unterstützung auf Kosten der Heimatredaktion kann im Ernstfall überlebenswichtig sein. Der Film von Laurent Schons lässt Betroffene zu Wort kommen: Jörg Armbruster und Alex Chan Tsz Yuk – beide gerieten im Einsatz unter Beschuss. „Netzwerk Recherche“-Vorstandsmitglied Pascale Müller und Auslandskorrespondent Marc Engelhardt geben Einblicke in die Branche und „Reporter ohne Grenzen“-Sprecher Christopher Resch zeigt Wege aus der Krise auf.