Dokumentation | Politik und Journalismus
Das Schweigen der Lämmer
Ringen um Selbstbehauptung im populistischen Diskurs –
re:claim-Tagung der Rudolf-Augstein-Stiftung
von Volker Lilienthal
Der öffentliche Raum – wird er nicht längst von den Rechtspopulisten und ihren medialen Nachsprechern dominiert? Viele Liberale haben den Eindruck, der „Vogelschiss“ sei salonfähig geworden und die Losungen der AfD seien ansteckend eingesickert in den Disput, wie er zum Beispiel in den TV-Talkshows gepflegt wird.
„Heimat Deutschland – nur für Deutsche oder offen für alle?“ fragte Frank Plasberg am 25. Februar. Schon alleine der Titel hatte bereits vor der Sendung für Proteste gesorgt, zum Beispiel bei Hasnain Kazim, Spiegel-Korrespondent in Wien, der auf Twitter mit der Redaktion diskutierte: „Hallo @hartaberfair, ihr meint also, die Antwort: ,Nein, nicht offen/keine Heimat zum Beispiel für Leute wie dich!‘ ist eine ,Möglichkeit‘? Ernsthaft? Ob ihr’s glaubt oder nicht, aber es gibt eine Menge Leute, die so denken. Und diesen Leuten gebt ihr Raum? Wirklich?“
Hallo @hartaberfair, ihr meint also, die Antwort: „Nein, nicht offen/keine Heimat zum Beispiel für Leute wie dich!“ ist eine „Möglichkeit“? Ernsthaft? Ob ihr’s glaubt oder nicht, aber es gibt eine Menge Leute, die so denken. Und diesen Leuten gebt ihr Raum? Wirklich? https://t.co/ITCARQrhE4
— Hasnain Kazim (@HasnainKazim) 25. Februar 2019
Streitfälle wie dieser zeigen, dass die Stimmung in Deutschland angesichts der rechtspopulistischen Herausforderung nicht mehr gelassen ist, sondern einigermaßen nervös. Viele haben den Eindruck, es tobe ein Kampf um kulturelle Hegemonie – den die Demokraten, Liberalen und Weltoffenen verlieren könnten.
Auch gegen solchen Pessimismus richtete sich die Konferenz der Rudolf Augstein Stiftung am 22. Februar 2019: „re:claim public discourse“. Im Spiegel-Haus an der Ericusspitze in Hamburg ging es um nicht weniger als um die Rückeroberung des öffentlichen Raums – mindestens aber um die Formulierung von Gegenstrategien. Wobei der Schwerpunkt auf journalistischen Strategien lag, weniger auf politischen.
Mit „Reclaim Autonomy – Selbstermächtigung in der digitalen Weltordnung“ hatte die Augstein-Stiftung die re:claim-Marke 2016 erstmals gesetzt. Das damalige Symposium war dem Andenken an den 2014 verstorbenen Publizisten und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher gewidmet. Die Ergebnisse der Erörterungen können in einem 2017 erschienenen Band der edition suhrkamp nachgelesen werden.
„Noch rollen keine Köpfe“
Stiftungsvorstand Jakob Augstein setzte gleich zu Anfang einen Ton, der die Gefahr signalisierte, obwohl er zu beschwichtigen schien: Noch führen keine Panzer vor, „noch rollen keine Köpfe“. Zu beobachten sei eine schleichende Veränderung der politischen Verhältnisse. Offenbar sind Panzer aber wieder vorstellbar geworden – und zwar deshalb, weil die enttabuisierende Ausweitung des wieder Sagbaren weit vorangeschritten ist.
Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda zeigte sich von Augsteins Steilvorlage sichtbar angesprochen und wich vom Redemanuskript ab. Der Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft sei strittig geworden, keine Selbstverständlichkeit mehr. Brosda sieht eine „überproportionale Betonung des Individuellen“ am Werk und das Problem, dass aus der digital ermöglichten Vielzahl der Meinungsäußerungen noch lange kein Meinungsbildungsprozess folge. Wie kann man es schaffen, so fragte Brosda, die Meinung der Bürger „nicht nur algorithmisch zu aggregieren, sondern diskursiv zu vernetzen“? Mindestvoraussetzung dafür: Wir alle müssen überzeugbar bleiben. Sonst sei der Diskurs tot.
Radikal zu Ende gedacht, müsste das aber auch für die Liberalen gelten, von denen eben auch nicht wenige glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben. Die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch wies darauf hin, dass der Liberalismus heute die eigentlich konservative Position sei, weil er für den Systemerhalt plädiere. Dieses Milieu sei hochgradig irritiert von einem „Aufbegehren der Laien“, die so vieles, was bisher in der befriedeten Bundesrepublik galt – vom Großen des Asylrechts bis zum Kleinen ziviler Umgangsformen wie einem Mindestrespekt vor dem politischen Gegner –, in Zweifel ziehen und das liberale Establishment aus ihren Machtpositionen – von Rundfunkhäusern bis zu Gerichten – jagen wollen.
Zur neuen kommunikativen Lage im Zeichen von Rechtspopulismus und Social Media gehört übrigens auch, dass Tagungen wie diese, die via Livestream übertragen wurde, von abwesenden Kritikern sozusagen kontrollgesichtet und dann sofort negativ kommentiert werden. Der User @PortalAlemania twitterte am Tagungstag: „Auf der #reclaim19 zeigt sich, daß [!] der klassische #Journalismus gemäß #Pressekodex tot zu sein scheint… Statt von Journalisten*Innen sollte man vielleicht mittlerweile von #Agenten*Innen sprechen…“ Leute sind das, die offenbar sehr viel Zeit haben, ihren Gegnern das Gefühl zu geben: Sie werden beobachtet.
Was ist da schiefgelaufen?
Woher nur die Wut, woher der Hass? Koppetsch nannte als nur eine Ursache unter anderen eine „eskalierende Form sozialer Ungleichheit“ – um dann erstaunlicherweise, als konkretisierende Operationalisierung ihrer These, mehr die Euro-Finanzkrise und die Globalisierung als den sehr viel alltäglicheren „Hartz IV“-Komplex und dessen deklassierende Breitenwirkung zu nennen. Geschenkt. Die Soziologin hatte aber schon recht, wenn sie Journalisten empfahl, genauer hinzuschauen in die „gesellschaftlichen Arenen“, die nicht die ihren sind. Leitfrage: Was ist da schiefgelaufen?
Aber diese Frage wird eben zu selten und wenn, dann oft zu spät gestellt. Journalismus ist häufig (auch vom Autor dieser Zeilen) gewürdigt worden als Frühwarnsystem der informierten, der aufgeklärten Gesellschaft. Im Normalfall bleibt der Journalismus aber eben doch fixiert auf die Aktualität: Er reagiert häufiger auf ein Problem, einen Systemfehler, als dass er ihn antizipiert hätte. Ethnographische Erkundigungen im deutschen Alltag, in den Milieus derer, die keine Stimme haben, sind die Ausnahme – und wenn, führt dann das journalistische Bemühen zu schillernden Reporterpreisen, zu blitzlichthaften Thematisierungen, aber ohne weitere Konsequenzen. Es stimmt: Der Journalismus braucht eine Revision seiner Aufmerksamkeitslogik, wie Alexander Sängerlaub, der bei der Stiftung Neue Verantwortung über Desinformation forscht, auf der Hamburger Tagung in einem Zwischenruf bemerkte.
Ein zweites Problem ist sicherlich die Milieubefangenheit der durchschnittlichen Journalisten. Sie schreiben über und für ihresgleichen. Zugang zu den ihnen fremden Milieus finden sie kaum. Die Redaktionen reproduzieren sich selbst aus der immer gleichen Konformitätsblase des deutschen Mittelstands. Verständnis und Respekt für diejenigen, die auf der wohlstandsabgewandten Seite Deutschlands leben, entsteht so eher weniger.
Reinemann: Kritische Berichterstattung wirkt
Journalismus ist eben nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems, wie Jakob Augstein sagte. Er wiederholte damit eine These, die der Verleger und Herausgeber des Freitag Anfang 2017 in einem Vortrag an der Universität Hamburg entwickelt hatte. Wo waren die angeblich so verantwortungsvollen Journalisten, wollte er jetzt in einer Diskussionsrunde mit Bascha Mika und Carsten Reinemann wissen. Wo waren sie denn, als es ernst wurde und die rechte Revolution am Horizont heraufzog?
Mika, Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, glaubt, in der Beantwortung einer Politik hin zu sozialer Ungerechtigkeit seien es zu wenige Stimmen gewesen, und die seien nicht durchgedrungen. Der Kommunikationswissenschaftler Reinemann aber wandte sich gegen die Annahme, kritische Berichterstattung sei ganz wirkungslos und könne die Demokratie nicht schützen: Wenn 80 Prozent der Deutschen sagen, die AfD grenze sich nicht genügend von Rechtsextremen ab, dann sei das auch ein Ergebnis von Berichterstattung.
Journalisten springen also nicht mehr über jedes Stöckchen, das ihnen die AfD hinhält? Nach dem Eindruck von Bascha Mika ist es so, wie es Bernd Gäbler in seiner zweiten Rechtspopulismus/Medien-Studie für die Otto Brenner Stiftung beschrieben hat. Aber es bleibe noch so viel zu tun, so Mika: „Wir sind immer noch in einer Komplizenschaft mit den Rechten in der Berichterstattung.“ Was sie damit meinte: Bei jedem mit der sogenannten Flüchtlingskrise konnotierten Ereignis werde einerseits Pro Asyl gefragt und andererseits die AfD. „Ja, warum denn!?“ rief Mika aus.
Phillips: Journalismus muss sich neu justieren
Nicht nur sie sieht hier eine falsche Ausgewogenheit am Werk, einen „bothsiderism“, eine „false balance“, wie sie seit längerem auch in der Kommunikationswissenschaft international diskutiert wird, so z.B. von Michael Brüggemann und Sven Engesser am Fallbeispiel der Berichterstattung über den Klimawandel. Stephanie Reuter, die als Stiftungs-Geschäftsführerin diese argumentenstarke Tagung konzipiert hatte, holte zu diesem Thema Prof. Whitney Phillips von der Syracuse University in New York nach Hamburg. Philipps hat intensiv zu dem Problem des journalistischen Umgangs mit Extremismus geforscht. Der von ihr im vergangenen Jahr vorgelegte Report „The Oxygen of Amplification. Better Practices for Reporting on Extremists, Antagonists, and Manipulators“, der im Netz in gleich drei Varianten abrufbar ist, verdient die nähere Auseinandersetzung.
„Strategic silence“ – so lautet eine von Philipps Empfehlungen. Keine unnötige Aufmerksamkeit für das Antidemokratische, Illiberale und Inhumane. Der Begriff kommt nicht zuletzt aus der Krisen-PR, wird aber eben auch wissenschaftlich diskutiert. Doch kann dieses scheinbar gebotene Schweigen eine Maxime für journalistisches Handeln sein? Im Sinne des Totschweigens ganz bestimmt nicht, weil dies dem journalistischen Prinzip des Berichtens, des Öffentlich-Machens, der Herstellung von Transparenz zuwiderliefe. Diesem Prinzip liegt ja die Annahme zugrunde, dass ,Öffentlich‘ immer besser ist als ,Nicht-Öffentlich‘. Nur wenn die Staatsbürger möglichst umfassend wissen, was Sache ist, können sie sich begründet entscheiden – für oder gegen etwas. Totschweigen wäre politisch gefährlich, weil es dem Lügen-, dem Lückenpresse-Vorwurf Feuer gibt. Aber selbst, wenn nicht: Kein Problem wird damit aus der Welt geschafft, kein Rechtspopulist, kein Rechtsextremer verschwindet deshalb von der Bildfläche.
Aber Philipps plädiert ja auch nicht für stures Schweigen, eher für eine Dosierung der Lautstärke in der Extremismus-Berichterstattung: „Minimize focus on intentions and origins. Maximize focus on impact and context“, sagte sie in Hamburg.
Am Beispiel von Gaulands „Vogelschiss“ würde das wohl bedeuten: sich nicht immer wieder wundern und empören und nachfragen: Wie konnte ein gebildeter Mann wie er das nur sagen? (Eine nutzlose Frage, die so oder ähnlich dutzendfach formuliert wurde – hilflose Irritation von Angehörigen desselben gebildeten Milieus.) Eher schon so:
- Experten zu Wort kommen lassen, die daran erinnern, was diese zwölf Jahre, die laut Gauland in tausendjähriger deutscher Geschichte angeblich marginal sind, wirklich bedeuten und inwieweit sie fortwirken;
- Holocaust-Überlebende fragen, wie diese Geschichtsvergessenheit auf sie wirkt;
- oder einfach als kluger optischer Kommentar, wie es der Tagesspiegel vorgemacht hat.
Die Konferenz „re:caim public discourse!“ kreiste ihr Thema vielfach mit zahlreichen kompetenten Referentinnen und Referenten ein. Zum Beispiel wurden in drei Workshops Spezialfragen wie „Europa: Angriffe auf die ,Vierte Gewalt‘“ (mit Christian Mihr und Márto Gergely) und „Countering Disinformation and Hate in the Digital Public Sphere“ (mit Raymond Serrato von der UN-Menschenrechtskommission, dem Youtuber Rayk Anders und Lena Frischlich von der Universität Münster) erörtert. In Workshop 2 sprachen „unter drei“ RBB-Reporter Olaf Sundermeyer und Melanie Amann, Leiterin des Hauptstadtbüros des Spiegel, über Recherche-Schwierigkeiten in rechten Milieus – und wie man sie überwindet.
Der nächste Schritt – von Analyse und Kritik hin zur demokratieförderlichen Aktion – wurde am nächsten Tag (23. Februar) von Augstein-Stipendiaten und –Projektpartnern vorbereitet. In einem Kreativ-Workshop bearbeiteten sie Themen und Fragen wie diese: „Wie erreichen wir auch die Demokratieverdrossenen?“
Die Diskussion um den angemessenen journalistischen Umgang mit politischem Extremismus wird weitergehen. Jakob Augstein hat zum Abschluss schon mal einen Stein ins Wasser geworfen. Ob vielleicht der Satz „des Gründers“, wie er Rudolf Augstein nannte – „Sagen, was ist“ – künftig eher lauten sollte: „Sagen, was sein sollte“ oder „Sagen, was sein kann“.
Man verstünde Jakob Augstein gründlich falsch, würde man annehmen, er habe dabei an hoffnungsfrohen „Constructive Journalism“ gedacht.
26. Februar 2019