#digijour2015 | Dokumentation
Der Journalismus ist tot – es lebe der Journalismus
Gutjahr: „Das Endspiel hat begonnen: der Krieg um die Talente“
von Daniela Friedrich
Der deutsche Journalismus leidet an Brain-Drain. Und daran ist er selber schuld. Das prominent besetzte Abschlusspodium der Tagung Digitaler Journalismus postulierte unterhaltsam den Untergang des Journalismus in Deutschland.
„Herr Gutjahr, warum sind Sie so pessimistisch?“ stieg Moderatorin und Journalistin Inge Seibel in die Diskussion ein. Der Journalist und Blogger Richard Gutjahr erklärte: „Das Endspiel hat begonnen: der Krieg um die Talente“. Laut Untertitel der Podiumsdiskussion, die die zweitägige Veranstaltung der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur am 6. November 2015 abschloss, sollten Forderungen an Medienorganisationen, Redaktionen, Publikum, Ausbildung und Wissenschaft aufgestellt werden. Gutjahr zum Beispiel forderte dazu auf, sich nicht selbst zu beweihräuchern. Man solle in den Wettbewerb um den Nachwuchs einsteigen und technologisch aufholen. Er sprach von seiner Zunft: den Journalisten.
Digitale Strukturen schaffen neue Bedingungen, denen kaum einer in Deutschland gewachsen sei. Gutjahr nennt es „die Uberisierung der Gesellschaft“: „Die alten Verteiler werden umgangen. Den neuen Hubs gelingt es einfach besser, Leser und Schreiber zusammenzubringen.“ Hörbar wurde auch Kritik an den großen Medienunternehmen, die die technologische Entwicklung verschlafen hätten. Gutjahr sieht aber trotz alledem eine Chance für Einzelne: „Das ist das Beste, was mir passieren konnte: Ich kann als einzelner Journalist meine Inhalte neben den Großen platzieren. Eine goldene Zeit. Wenn du gut bist.“
Während Gutjahr zur Schnelligkeit riet und zum Wettrennen mit dem Silicon Valley aufforderte, mahnte Michael Brüggemann, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, zur Gründlichkeit. Aus der Vergangenheit lasse sich viel lernen. Wissenschaftliche Befunde seien langfristig gültig, Analysen von Unternehmensberatungen wie McKinsey und Co. nur kurze Zeit. Brüggemann zufolge lohnt es sich, Forschungsergebnissen der letzten Jahre Beachtung zu schenken, wenn über die Zukunft des Journalismus nachgedacht wird. Er lobte den Raum für Austausch zwischen Wissenschaft und Forschung, den die Tagung bot.
Anita Zielina, Chefredakteurin von NZZ Online (Neue Züricher Zeitung), sprach vor allem aus ihrer eigenen Praxis. Ihre Redaktion habe sich in der letzten Zeit einem „Motortuning“ unterzogen. Inzwischen werde interdisziplinär gearbeitet. Entwickler, Verlagsleute, Redakteure und Produktmanager säßen in Zürich an einem Tisch. Journalismus werde für das Publikum gemacht und nicht für andere Journalisten. Für wenige Leuchtturmprojekte des Multimedia-Storytelling habe man im Elfenbeinturm gesessen, so Zielina selbstkritisch, und dabei die vergessen, die dafür bezahlen sollen. „In Schönheit sterben wird uns nichts nützen, wenn wir es nicht schaffen, digitales Erzählen in die normale Berichterstattung zu integrieren“, schloss die aus Österreich stammende Chefredakteurin.
Ulrike Langer, die von Seattle aus die amerikanische Medienszene beobachtet, sieht deutsche Medienhäuser im Vergleich zu den Vereinigten Staaten „dilettantisch erste Schritte machen“. Ihr gehe das hier alles viel zu langsam. Jetzt sei in Medienhäusern die Zeit für Snapchat und nicht für einen Relaunch der Website. Langer schloss sich Zielina an, wonach es um Nutzwert geht. Journalisten sollten die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser im Fokus haben. In allem, was sie tun, so Langer, sollten sie „eine Wolke der Relevanz hinter sich her ziehen“. Der Twitter-Nutzer @youdaz kommentierte Langers Ode an die USA mit: „Gott, wie lame ist das schon wieder zu gucken, was die Amis haben und wir ‚nachholen‘ müssen. Brauchen eigene Wege“.
Gott, wie lame ist das schon wieder zu gucken, was die Amis haben und wir "nachholen" müssen. Brauchen eigene Wege #digijour2015
— Andreas Grieß (@youdaz) November 6, 2015
Gutjahr hielt es daraufhin nicht länger aus. Als würde keiner den Kern des Problems erkennen, klärte er geradezu fanatisch auf: „In fünf Jahren werden wir Daten 20 Mal schneller empfangen, als das schnellste Glasfaserkabel es heute kann“, sagte er und beugte sich vor, als wolle er dem Publikum etwas zuflüstern. „Haben Sie eine Vorstellung davon“, er machte eine Pause und hob eine Hand, als hielte er darin eine Kostbarkeit, „was das für unsere Gesellschaft bedeuten wird?“ Keiner wolle auf eine Website warten, weil das Werbebanner noch geladen wird. „Wir haben uns auf unserem Journalismus ausgeruht, uns in Sicherheit gewähnt. Und jetzt übernehmen Technologie-Unternehmen aus den USA unsere eigenen Schlachtfelder, unseren Hauptdomänen, unsere Ur-Disziplin, weil wir uns so sicher waren: ,Fernsehen werden die Leute immer‘.“ Gutjahr bekommt Schluckauf. Vor Aufregung, wie er selbst feststellt. Spätestens jetzt wird deutlich, was der Tenor auf dem Podium ist: Der Journalismus ist so gut wie tot. Mindestens schwer krank.
Wurden die Themen der Diskussion nur angerissen? „So ist das nun mal auf einem Podium“, meinte Gutjahr hinterher auf Nachfrage. Er gab auch preis, worüber er gern sprechen möchte, wenn die Tagung wiederholt werden sollte: „Über intelligente Netzwerke, über Robo-Journalismus, über Plattformen und Berufsbilder. Und über die Ausbildung von Journalisten, die man auch tatsächlich braucht.“
Am Vortag der Podiumsdebatte hatte die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs in einer Rede in Essen auf Einladung von CORRECT!V gesagt, dass diejenigen dem Journalismus schaden, die in ihm nur Content sehen, ein Produkt das „effizienter, verwertbarer und natürlich vor allem billiger werden soll“. Sie, Friedrichs, liebe den Journalismus für das Privileg, das ihr der Beruf schenkt. „Wir dürfen im Prinzip jeden alles fragen. Wir dürfen das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Wir müssen nicht immer mitmachen. Wir dürfen widersprechen. Mindermeinungen vertreten. Am Rande stehen.“ Sie erhebt ihre Stimme für den Journalismus.
Was hätte Friedrichs wohl gesagt, wenn sie mit auf dem Hamburger Podium gesessen hätte? Sie hätte wohl widersprochen, als Gutjahr meinte, es gehe nur um Geschwindigkeit. Sie hätte wohl gesagt, dass digitaler Journalismus immer noch Journalismus ist. Und dass dafür zu kämpfen sich lohnt. Es lebe der Journalismus.
Der Beitrag dokumentiert einen Programmpunkt der Tagung „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“, die am 5. und 6. November 2015 unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg) in Hamburg stattfand.
10. Dezember 2015