#nr18 | Journalist:INNEN
“Es geht um die Expertise – nicht das Geschlecht”
‚Dicke-Eier-Themen’ sind Geschichten hinter verschlossenen Türen, mit komplexen Datenmengen oder in gefährliche Milieus. Die Recherchen ähneln der Arbeit von Detektiven und werden fast immer von Männern übernommen. Warum sind Frauen im Investigativjournalismus so selten? Zwei junge Kolleginnen berichten aus ihrem Arbeitsalltag in einer Männerdomäne.
von Wiebke Bolle und Tabea Schäffer
Pascale Müller (BuzzFeedNews) und Margherita Bettoni (Correctiv) sind zwei junge Frauen im männerdominierten Investigativjournalismus. Ihre Recherchen handeln von Politik, sexualisierter Gewalt oder der Mafia – sogenannte harte Themen, die oft von männlichen Kollegen beackert werden. Kein Wunder, dass die großen Journalistenpreise fast alle an Männer gehen. Was macht den investigativen Journalismus zur vermeintlich letzten Männerdomäne der Branche?
Erntehelferinnen in Spanien, Marokko und Italien werden an ihrem Arbeitsplatz sexuell missbraucht und misshandelt – die Tomaten & Erdbeeren, die sie ernten, werden in deutschen Supermärkten verkauft. Die Recherche von @stefania_prandi und mir: https://t.co/un6XAXHAZH
— Pascale Müller (@PascaleMller) 30. April 2018
Klischees als Hindernis
BuzzFeedNews-Reporterin Müller meint, es gebe ein Missverständnis darüber, was unter dem Begriff ‚investigativ‘ zu verstehen sei. Denn Themen könnten investigativ sein, ohne von Korruption oder der Mafia handeln zu müssen. Zum Beispiel könne man auch über soziale Ungerechtigkeit oder den Pflegebereich aufdeckend recherchieren. Dies tun aber noch immer vergleichsweise wenig Frauen. Doch warum eigentlich? Ein Grund könnte die klischeehafte Wahrnehmung bei der Rollenverteilung im Journalismus sein: Männer machen die gefährlichen, übergeordneten, schwierigen Themen und Frauen eben die seichteren aus dem Alltag. Das ärgert Müller, denn „es geht um die jeweilige Expertise einer Person, statt um ihr Geschlecht.”
Frauen trauen sich zu wenig zu
„In der Branche scheitern Frauen manchmal, weil sie sich Vieles selbst nicht zutrauen”, so Müller weiter, die für ihre Recherchen zu sexueller Gewalt an Erntehelferinnen mit dem Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet wurde. Frauen sind also oft nicht selbstbewusst genug. Das verbreitete Bild des ‚harten, aggressiven Journalisten’ lässt viele Frauen vom Investigativjournalismus zurückschrecken. Müller plädiert deshalb dafür, Verunsicherung und Selbstzweifel zu überwinden. „Sie sollten ein gesundes Selbstbewusstsein für sich und ihre Themen entwickeln – Eier zeigen!”
Die männliche Herangehensweise
Männer dagegen fühlen sich häufiger für bestimmte Themenbereiche zuständig, gehen selbstsicherer an Recherchen heran und sehen sich eher als Experten. „Ich habe mich lange nicht getraut, ‚Mafia-Expertin’ auf meine Visitenkarte zu schreiben, obwohl ich schon über vier Jahre in dem Milieu unterwegs bin”, sagt Bettoni von Correctiv. Ihre Kollegen hätten das schon nach zwei kurzen Recherchen behauptet. Die Italienerin schreibt einen eigenen Mafia-Blog für das investigative Recherchezentrum. Ihr Spezialgebiet: Drogen, Schwarzgeld, Morde und Ermittlungen.
Selbstvertrauen, Frauennetzwerke, Mut
Ein Rat, den Müller Kolleginnen mit auf den Weg geben möchte, ist, den Irrglauben zu überwinden, Investigativjournalismus beruhe auf angeborenem Talent. „Das ist kein Hexenwerk, sondern journalistisches Handwerk”, betont die Reporterin. Doch Selbstunterschätzung ist ein weitverbreitetes Phänomen unter Frauen und eine der größten Hürden in der Branche. Journalistinnen sollten mehr einfordern, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Bettoni ermutigt zudem zum Aufbau eines eigenen Netzwerks. „Unterstützt und vernetzt euch. Knüpft Kontakte in Redaktionen, tauscht euch untereinander aus und stellt Fragen”, schlägt sie vor. Als Investigativjournalistin braucht es also persönliches Engagement, Selbstvertrauen und Solidarität – aber vor allem Mut.
22. Oktober 2018