#nr22 | Medienkritik
„Es geht vor allem um Sensibilisierung“
Sollen, dürfen oder müssen Medien Bilder von Gewaltaten zeigen? Einschätzungen der Medienethikerin Claudia Paganini
Täglich erreichen schockierende Aufnahmen von teils extremer Gewalt die Redaktionen. Als Gatekeeper müssen Journalist*innen abwägen, welche Bilder noch dem Informationsinteresse oder nur dem abstoßendem Schrecken dienen. Entscheiden sie sich für eine Publikation, könnte ihnen Sensationsgier unterstellt werden. Zur journalistischen Arbeit gehört es jedoch, auch mittels Fotografien über Gewalt, Leid und Tod zu berichten.
Der Diskurs über Gewaltbilder bewegt sich zwischen zentralen Maximen der Bildethik. Auf der einen Seite die professionelle Augenzeugenschaft: Dahinter steht die Erwartung an die Bildberichterstattung, die Situation vor Ort so treffend wie möglich wiederzugeben. Auf der anderen Seite sollen die Persönlichkeitsrechte von Abgebildeten und Angehörigen geschützt werden. Beide Maximen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Wie also kann eine ethisch korrekte Bildberichterstattung in Kriegszeiten aussehen? Die Medienethikerin Claudia Paganini, Professorin an der Hochschule für Philosophie in München, beschreibt im Interview, welche ethischen Kriterien bei der journalistischen Bildauswahl entscheidend sein sollten.
Frau Paganini, wie definieren Sie aus medienethischer Perspektive ethisch korrekten Fotojournalismus?
Paganini: Das Wichtigste ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Publikationen noch ethisch vertretbar sind und welche nicht, und nicht in einen Automatismus zu verfallen. Wir dürfen es uns auf keinen Fall einfach machen und denken, dass nur weil man gegen den Krieg mobilisieren und aufklären möchte, man alles veröffentlichen darf.
Klar, aber wie trifft man die richtige Entscheidung?
In der Ethik ist es ganz oft so, dass wir gar nicht die Möglichkeit haben, die eine gute Lösung zu finden. Wir finden uns in Situationen wieder, die so komplex und schwierig sind, dass es eigentlich nur schlechte Lösungen gibt – gerade bei der Kriegsberichterstattung. Man sollte daher versuchen, möglichst alle Perspektiven der Beteiligten zu berücksichtigen, und sich fragen, wie sich das für eine betroffene Person anfühlt.
Worauf sollten Redaktionen achten, um eine ethisch korrekte Bildberichterstattung zu gewährleisten?
Also auf jeden Fall das Problembewusstsein, dass es verschiedene Spannungsfelder gibt, die ich berücksichtigen muss. Mitgefühl gegenüber den Objekten meiner Berichterstattung. Verantwortung gegenüber den Rezipient*innen. Eine realistische Einschätzung dessen, was mein Bild leisten kann und wie es wahrgenommen wird. Wobei es da wichtig ist, sich selbst und die Funktion des eigenen Bilds weder zu unter- noch zu überschätzen. Und ich würde auch noch sagen Kompetenz – fachliche Kompetenz. Dass ich das journalistische Handwerk beherrsche.
Was müssten die Redaktionen an ihrer Struktur ändern, damit Journalist*innen vermehrt auf Schockbilder verzichten?
Zunächst ist es elementar, den Druck von den Journalist*innen zu nehmen. Man muss sich bewusst sein, dass der ständige ökonomische Druck innerhalb der Redaktionen nicht ideal ist, um gegenüber anderen Empathie zu zeigen. Wenn der redaktionelle Druck reduziert wurde, geht es vor allem um Sensibilisierung. Man muss Journalist*innen zeigen, was für Auswirkungen ihre Berichterstattung haben kann, wie es den Betroffenen damit langfristig geht und dass sowohl Berichtsobjekte als auch die Adressat*innen retraumatisiert und getriggert werden können. Wir können Journalist*innen nicht dazu verpflichten, moralische Helden zu sein.
Aber was kann man in Aus- und Fortbildung tun?
Journalist*innen sollten vermittelt bekommen, wie Krisenkommunikation funktioniert, wie Menschen Krisen verarbeiten und in welcher Phase man welche Fragen eher vermeiden sollte. Es wäre sinnvoll, eine Art Supervision anzubieten. Denn nur, wenn ich meine eigenen Emotionen verstehe, verarbeite, kann ich mich wiederum für den anderen öffnen.
Sollte eine Professionsethik, also ein Grundkonsens über verbindende Werte und unverrückbare Maßstäbe für die Berichterstattung, im Fotojournalismus etabliert werden?
Ich denke, dass Professionsethiken sehr wichtig sind, weil sie Orientierung bieten und den Einzelnen auch ein Stück weit entlasten. Es muss jedoch immer einen Spielraum für die konkrete Situation geben. Der Umstand, dass jede*r Journalist*in Richtlinien für sich anders auslegt, ist grundsätzlich etwas Positives. Dadurch kommt in einer Demokratie eine unterschiedliche Berichterstattung zustande, die dem Publikum entspricht.
Haben Sie eine Idee, wie konstruktiver Fotojournalismus aussehen könnte?
Man könnte mit Bildern die Vielfalt der Möglichkeiten zeigen, sich zu engagieren. Beispielsweise zeigen, dass deutsche Familien geflüchtete Familien aufnehmen. Zeigen, wie Freiwillige Kleidungsspenden sortieren und ausgeben, aber auch wie Journalist*innen sich bemühen, seriöse Recherche zu betreiben. Es muss nicht immer humanitäres Engagement sein. Wir müssen nun wirklich keine Angst haben, dass die Menschen vergessen, dass Krieg schrecklich ist, weil sie zu wenig schreckliche Bilder sehen.
12. Oktober 2022