#nr19 | Pressefreiheit
„Es ist deine Pflicht, etwas zu sagen“
Barış İnce ist einer von Hunderten Journalisten, gegen die die türkische Justiz ermittelt. Zahlreiche seiner Kolleginnen und Kollegen sitzen bereits im Gefängnis, ihm drohen 21 Monate Haft wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten.
von Jana Marie Krest
Für einen Mann, der riskiert, für seine Überzeugung in Haft zu müssen, spricht Barış İnce erstaunlich leise. „Wenn es sein muss, dann gehe ich ins Gefängnis. Aber ich will es endlich wissen“, sagt der türkische Journalist. Seit Jahren wartet er auf eine Entscheidung der Justiz. Die Ungewissheit, die die Verzögerungen im Verfahren mit sich bringen, macht ihm besonders zu schaffen.
Nun soll er zur Ruhe kommen. Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte hat ihn für ein halbes Jahr nach Deutschland eingeladen. In dieser Zeit reist er durchs Land und trifft Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle. Auch der Austausch mit der deutsch-türkischen Gemeinschaft liege ihm am Herzen, denn er habe hierzulande zahlreiche Leser, erzählt İnce, dessen Texte unter anderem auf der deutsch-türkischen Medienplattform taz.gazete erschienen sind.
Präsidentenbeleidigung in Versform
Mehr als zehn Jahre arbeitete İnce für die linke türkische Tageszeitung BirGün, einer Art türkischer taz. Zuletzt war er dort Chefredakteur. Wegen eines Artikels über Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung wurde der heute 37-Jährige vor vier Jahren wegen Beleidigung des Staatspräsidenten zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch weil seine Verteidigung vor Gericht eine versteckte Botschaft enthielt, wurde prompt ein neues Verfahren eröffnet. Diesmal soll er anhand eines Akrostichons, einer Versform, in der die ersten Buchstaben der Zeilen einen neuen Sinn ergeben, den Präsidenten beleidigt haben. 2017 das Urteil: 21 Monate Haft. İnce legte Widerspruch ein, seitdem wartet er auf eine Entscheidung.
In Hamburg genießt er derweil die Offenheit und Gastfreundschaft der Menschen und die Begegnungen mit vielen gleichgesinnten Türken, die er im Schanzenviertel trifft. Und doch, sagt er, verfolge ihn ein unangenehmes Gefühl: „Ich bin hier, während meine Freunde und Kollegen der Cumhuriyet im Gefängnis sitzen.“ Die Cumhuriyet ist eine der ältesten und neben der BirGün eine der letzten regierungskritischen Zeitungen des Landes. Zahlreiche Mitarbeiter sitzen in Haft, gegen viele weitere wird unter anderem wegen angeblicher Terrorvorwürfe ermittelt.
In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rangiert die Türkei auf Platz 157 von 180 Staaten. Mehr als hundert Medienschaffende sind inhaftiert, mindestens 35 wegen ihrer journalistischen Tätigkeit. Zusätzlich stehen zahlreiche Journalisten wie İnce vor Gericht. Nach dem Putschversuch 2016 wurden mehr als hundert Medienorganisationen geschlossen. Die ehemals pluralistische Medienlandschaft der Türkei ist heute uniform. Fast alle Medien stehen unter Kontrolle der Regierung oder gehören regierungsnahen Geschäftsleuten. Die Folge: eine staatliche und Selbstzensur der Journalisten, die unter dem großen politischen Druck leiden.
Deshalb rät İnce allen angehenden Journalisten in seinem Land, für unabhängige alternative Medien zu arbeiten – trotz niedrigerer Löhne. „Journalismus ist wichtig, aber man muss sich treu bleiben“, sagt İnce.
Gestiegene Nachfrage
Seit Jahren ist BirGün wegen ihrer kritischen Berichterstattung im Visier der Regierung. Nach den Gezi-Protesten 2013 schnellte die Auflage in die Höhe, von etwa 5.000 auf 25.000. Dennoch leidet die Zeitung laut İnce stark unter der politischen Situation und kämpfe mit finanziellen Schwierigkeiten wie dem Verlust von Werbekunden und teurem Papierimport aus dem Ausland. Auch die ständigen Gerichtsverfahren gegen Mitarbeiter der Zeitung machten das Überleben schwierig.
Erst im vergangenen Jahr ließ İnce seinen Posten als Chefredakteur bei BirGün hinter sich und kehrte zurück in seine Heimatstadt Izmir, von wo er weiterhin Kolumnen und Artikel für die Zeitung schreibt und die Redaktion berät. „BirGün ist Familie“, sagt İnce.
Sein Heimatland dauerhaft zu verlassen kommt für İnce, dessen Frau und Sohn in der Türkei geblieben sind, trotz der widrigen Umstände nicht in Frage: „Wir müssen für die Freiheit kämpfen und wir können erfolgreich sein.“ Seine Motivation, nicht aufzugeben, zieht er aus seiner politischen Überzeugung und dem Ansporn, seinen Lesern ein Vorbild zu sein. İnce ist überzeugt, dass Intellektuelle und Journalisten in kritischen Zeiten ihre Stimme erheben sollten. Die Menschen würden nur darauf warten. „Es ist deine Pflicht, etwas zu sagen“, sagt Barış İnce und lächelt.
15. August 2019