#nr19 | Interview | Medienkritik
„Hysterisch, unsensibel, sensationsgeil“

Journalistik-Professor Tanjev Schultz über Terrorberichterstattung

 

Terrorristen instrumentalisieren die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien für ihre Zwecke. Wie gehen deutsche Redaktionen mit dieser perfiden Strategie um?

Tanjev Schultz ist Professor für Journalistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Als Redakteur der Süddeutschen Zeitung berichtete er früher unter anderem über den Terror des NSU. Dafür wurde er kürzlich zusammen mit anderen mit dem Nannen Preis ausgezeichnet.

Schultz: Nach meinem Eindruck wird der Umgang professioneller. Viele Redaktionen haben ihre Abläufe nach den Vorfällen der vergangenen Jahre überprüft und sind sich zum Beispiel der Gefahren bewusst, die von Gerüchten ausgehen, die auf Social-Media-Plattformen verbreitet werden. Die Grundprobleme sind allerdings seit Jahren gleich: dass zu reflexartig berichtet wird, zu hysterisch, zu unsensibel, zu sensationsgeil. Dass Informationen zu wenig hinterfragt werden. Dass ein Rudel von Medienleuten an den Tatorten herumläuft und schon durch ihr massives Auftreten Opfer und Augenzeugen einschüchtert, instrumentalisiert, eventuell sogar weiter traumatisiert.

Dass bild.de Ausschnitte aus dem Video des Attentäters von Christchurch zeigte, führte zu einer Rüge des Presserats. Warum treffen Redaktionen nach all den Erfahrungen mit Anschlägen immer noch solch fatale Entscheidungen?
Auch wenn es Lernprozesse in den Redaktionen gibt: In extremen Lagen lassen sich Journalisten schnell mitreißen – der Konkurrenzdruck ist dann besonders hoch. Es herrscht eine aufgewühlte, aufgekratzte Grundstimmung, das kann zu falschen Entscheidungen verleiten. Dazu kommt: Anschläge finden großes Interesse beim Publikum, und vor allem die Boulevardmedien machen gerne das, was sie am besten können – oder glauben, am besten zu können: Sie bedienen das Interesse, indem sie die hochschießenden Emotionen noch anheizen und verstärken.

Oft liegt der Fokus der Berichterstattung auf dem Täter. Ist das ein Problem?
Es hat nach dem Anschlag in Christchurch, aber auch zuvor schon eine Reflexion darüber stattgefunden, wie viel Raum Medien den Tätern geben sollen. Je größer und gleichsam heroischer einzelne Täter in den Medien erscheinen, desto eher könnte das Nachahmer anstacheln – das erscheint mir ein plausibler Zusammenhang, auch wenn es hier keine einfachen und monokausalen Erklärungen geben kann. Ich halte allerdings nichts davon, den Namen eines Massenmörders in der Öffentlichkeit zu verschweigen. Das geht nach hinten los. Diese Täter werden dann erst recht zu einer mythischen Figur. Wer die Hintergründe einer Tat verstehen will, kommt nicht daran vorbei, auch die Hintergründe des Täters zu ergründen.

Das Interview führte Samira Debbeler

15. August 2019