Interview
„In Krisenzeiten eigentlich immer am besten“

Seit mehr als einem halben Jahr beherrscht Corona die mediale Agenda. Aber auch die Produktion von Medien hat sich infolge der Krise radikal verändert. Ohne Abstriche an Aktualität und Vollständigkeit machen zu wollen, mussten Journalisten zum eigenen Schutz ins Homeoffice mit all seinen Einschränkungen ausweichen. Wie diese Herausforderung beim Tagesspiegel in Berlin gemanagt wurde, darüber sprach Message-Herausgeber Volker Lilienthal mit Christian Tretbar, Mitglied der Chefredaktion.

 

Message: Auf Twitter fiel mir Ende April ein Tweet des Kollegen Felix Hackenbruch auf: Zu sehen war das Bild der verwaisten Tagesspiegel Redaktion mit einer Taube, die es sich am Fenster bequem gemacht hat. Er schrieb dazu: „Corona Virus, Tag 46: Tiere erobern die verwaiste Redaktion.“ Ist das bis heute so, dass die Zeitungsproduktion im Verlagshaus am Askanischen Platz nicht mehr stattfinden kann?

Tretbar: Im Grundsatz ist das noch so. Wenngleich heute wieder etwas mehr Leute vor Ort in der Redaktion sind als noch zu Beginn der Pandemie. Ich würde sagen, dass in der Redaktion etwa 30 Prozent vor Ort arbeiten und der Rest aus dem Homeoffice. In der Redaktion und im Verlag insgesamt haben wir strenge Vorgaben, etwa wo man sitzen darf. Es besteht Maskenpflicht auf den Fluren. Aber dennoch findet nach wie vor ein großer Teil der Print-, Online- und Newsletter-Produktion außerhalb des Verlagsgebäudes statt.

Es war der 11. März, als eure Geschäftsführung um 6.24 Uhr per Mail eine dringende Mitarbeiterinformation verschickte: Ihr hattet einen ersten COVID 19-Fall in der Redaktion und viele Kolleginnen und Kollegen mussten dann sofort ins Homeoffice auswandern. Wie müssen wir uns die ersten Tage dieser bis heute anhaltenden Ausnahmesituation vorstellen?

tretbar

Christian Tretbar (41) studierte Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Seit 2004 ist er beim Tagesspiegel, inzwischen als Mitglied der Chefredaktion. Er begann als freier Reporter für den Sport, absolvierte dann ein Volontariat. Anschließend berichtete er aus dem Parlamentsbüro über innenpolitische Themen. Seit vielen Jahren kümmert er sich um die Digitalisierung des Tagesspiegels und dessen Website. Seit Juli 2020 ist er auch Mitglied der neuen Geschäftsleiterebene im Verlag Der Tagesspiegel.

Wir hatten zunächst einen Fall im Verlag und dann kurze Zeit später in der Redaktion. Und diese Zeit war geprägt von einer großen Unsicherheit. Zum einen, wie es unserem Kollegen Joachim Huber geht, denn anders als der Fall im Verlag, hatten wir hier einen sehr schweren Verlauf. Mittlerweile geht es ihm zum Glück besser, auch wenn er noch nicht wieder voll genesen ist. Zum anderen wie es nun in der Redaktion weitergeht. Wir haben nach Bekanntwerden des ersten Falls in der Redaktion sofort zahlreiche Tests durchführen lassen, um sicherzustellen, dass niemand angesteckt wurde. Zum Glück hatten wir frühzeitig begonnen zu planen. Wir hatten VPN-Zugänge ins Redaktionssystem organisiert. Die bessere Laptop-Ausstattung hatten wir zum Glück schon vor einem halben Jahr angestoßen. Spürbar war aber auch eine große Konzentration. Ein Teil des Teams musste arbeiten, damit wir überhaupt erscheinen. Ein anderer Teil musste Laptops, Zugänge und Abläufe organisieren. Wir haben es geschafft, die gesamte Redaktion innerhalb von zwei, drei Tagen “homeoffice-fähig” zu machen.

Am 20. April 2020 sagte Eure Verlagsgeschäftsführerin Ulrike Teschke in einem Interview mit Deutschlandfunk, dass von Kurzarbeit – Stand 20. April – vor allem Mitarbeiter der Kulturredaktion betroffen seien. Blieb es bei Kurzarbeit nur für die Kulturredaktion?

Nein, in der Redaktion war das Ressort Kultur in Kurzarbeit, aber auch der Sport, ein Teil der Sekretariate und des Archivs. Auf Verlagsseite außerdem die Bereiche Events, Vermarktung und Verwaltung. Wir haben aber aufgestockt, sodass die sozialen Folgen abgefedert wurden. Mittlerweile sind in der Redaktion alle wieder raus aus der Kurzarbeit. Man muss sagen, dass solche Situationen manchmal auch einen positiven Effekt haben: Man muss sich noch mehr konzentrieren, noch mehr schauen, wie die Strukturen und Abläufe aussehen.

Aus der Redaktion der Süddeutschen Zeitung war zu hören, dass dort scharfe Debatten über die Kurzarbeit in der Redaktion geführt wurden. Die Journalisten argumentierten, dass man gerade jetzt, wo man noch stärker gebraucht werde, nicht an der Arbeitszeit sparen dürfe. Jetzt müsse man die volle journalistische Leistung bringen. Wurden solche Diskussionen auch bei euch geführt?

Diese Gespräche wurden geführt und wir haben Verständnis dafür. In der Chefredaktion haben wir aber auch den Blick dafür, dass, um unseren journalistischen Auftrag zu erfüllen, wir in erste Linie überleben müssen. Das ist mal das allererste. Die Corona-Krise ist eine extrem kritische Situation, für uns und für alle andere Verlage auch. Es ist nicht so, dass wir unseren Auftrag nicht erfüllen können, weil die Kulturredaktion weniger arbeitet. Natürlich haben wir nicht in Kernbereichen Kurzarbeit eingeführt, die für Informationen über die Krise notwendig sind: Wissenschaftsredaktion, Politik, Berlin. Uns war klar, dass wir als Marke überleben wollen. Es geht um Meinungsvielfalt und um die Frage, ob so eine große journalistische Marke in Berlin diese Krise überlebt oder nicht. Daran haben wir alle Interesse. Und, Spoiler: es sieht, glaube ich, auch ganz gut aus.

Das freut uns. Du hast eben gesagt, dass einiges organisiert werden musste, die Medienproduktion dann aber im Homeoffice weiterlief. Diskutieren wir das nochmal am Beispiel der Website, die du maßgeblich verantwortest. Wie dürfen wir uns die Informationsbeschaffung im Homeoffice vorstellen? Was hat sich da notgedrungen verändern müssen?

Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen haben sicher einen Digitalisierungsschub mitgemacht. Vielleicht nochmal kurz zur Erklärung, wie wir online arbeiten: Wir haben keine Online-Redaktion im klassischen Sinne, sondern wir haben eine sehr integrierte Redaktion. Wir haben einen vollständig digitalisierten Newsroom, aber alle klassischen Ressorts sind für die Inhalte der Website verantwortlich. Wir hatten enorme Zugriffszahlen und haben gemerkt, wie hoch das Interesse ist. Eigene Geschichten und Informationen zu bringen war uns besonders wichtig. Was wir letztes Jahr eingeführt haben und was sich bewährt hat, ist der Messaging-Dienst Slack. Wir haben die komplette Kommunikation nur über Slack gesteuert. Unsere Reporter waren weiter aktiv, auch recherchieren und schreiben konnten wir von zuhause. Diese Krise bestand halt auch “nur” aus der Krise. Es fand parallel wenig statt, was man noch hätte organisieren müssen. Alles war Corona, alles. Alles fokussierte sich auf dieses eine Thema und dadurch war das Ganze, über das man zu berichten hatte, ein wenig leichter zu strukturieren.

Das Management einer Homepage stelle ich mir auch schwierig vor, da brauche ich größere Bildschirme, um das CMS zu steuern.

Ja, in der Tat. Im Newsroom hat jeder zwei Bildschirme, die Homepage hätte sogar gerne drei. Denn was muss man nicht alles beständig im Blkick behalten: das CMS, andere Websites, Newsfeeds, Agenturen und Analytics. Zusätzlich gibt es im Newsroom große Videowürfel, dort werden die relevanten Sachen rotierend angezeigt. Für die Kollegen im Homeoffice und für mich waren die fehlenden Bildschirme das größte Problem. Aber: jeder in der Redaktion konnte sich einen Bildschirm mit nach Hause nehmen. Das zweite große Problem war natürlich die Frage der Laptop-Ausstattung. Wir haben einen Großteil der Redaktion mit Firmenlaptops ausstatten können. Schwierig war es, an neues Equipment ranzukommen, denn das brauchte zu diesem Zeitpunkt die ganze Welt. Das haben wir aber einigermaßen hinbekommen. Jetzt sind wir in Phase drei, die aktuelle Situation ist jetzt Dauerzustand. Zu Beginn mussten wir immer den aktuellen und den nächsten Tag über die Bühne bringen, dann es war klar, dass wir die nächsten zwei Monate überstehen müssen. Inzwischen wissen wir, dass wir ein Jahr, vielleicht auch länger auf diese Weise arbeiten müssen. Das ist jetzt unsere aktuelle Herausforderung.

Kommen wir zu einer inhaltlichen Frage: Die Corona-Krise hat das Informationsbedürfnis der Menschen enorm ansteigen lassen. Wir wollen wissen, was los ist, wie gefährlich das Virus ist, wie wir uns schützen können, welche Rechte man als Arbeitnehmer hat, wie es um die Kitas und die Schulen steht. Über all das berichtet der Tagesspiegel, online ebenso wie auf Papier. Viele Medien sehen damit abermals den Beweis erbracht, dass sie wirklich systemrelevant sind, unentbehrlich für das Funktionieren einer freien Gesellschaft. Spürt ihr das auch beim Tagesspiegel? Eine Ermutigung seitens des Publikums mitten in der Krise?

Total. Wir hatten ja vorher sehr viel zu kämpfen mit Anfeindungen, mit der Infragestellung dessen, was wir tun. Das war diesmal anders. Wir haben sehr viele Zuschriften bekommen, über alle Kanäle: Twitter, Facebook, Leserbriefe, Anrufe. Die Leute haben sich dafür bedankt, dass wir sie mit Informationen versorgen, dass wir einen einigermaßen unaufgeregten Stil an den Tag gelegt haben. Das war uns auch wichtig. Wahnsinnig viele Leute haben sich bedankt. Das war eher ein candy storm. Wir haben mitbekommen, wie wichtig wir für die Menschen sind, welche Rolle wir haben, welche Verantwortung. Das merkt man auch an den Seitenzugriffen und neuen ePaper- und Zeitungs-Abos. Die Leute sind eher bereit, Geld dafür auszugeben. Unsere Reichweite konnten wir mindestens verdoppeln.

Es gab aber auch den Vorwurf, die Medien seien zu autoritätsgläubig. Sie würden alles unkritisch nachbeten, was die Regierung für den Lockdown empfiehlt. Die unbestreitbaren Freiheitsverluste seien schöngeredet worden. Das verband sich schnell mit dem „Lügenpresse-“ und „Mainstream-Medien”-Vorwurf bestimmter Milieus. Es gibt dazu eine neuere Untersuchung der Universität Münster von Thorsten Quandt und anderen. Demnach aber haben die Medien, gemessen an deren Newsfeeds auf Facebook, durchaus ausgewogen berichtet. Was sagst du dazu?

Wir beim Tagesspiegel haben am Anfang eher darüber debattiert: Warum dauert das so lange, bis Maßnahmen ergriffen werden? Nein, wir haben sehr kritisch über Berlin berichtet, über das Hickhack bis zu den Schul- und Kita-Schließungen. Es gab bei uns sehr viel Kritik an der Geschwindigkeit der staatlichen Reaktionen und dass am Anfang zu wenig passiert ist. Wir haben aber eben auch auf die Folgen der Maßnahmen hingewiesen und aufgezeigt, dass wir alle einen Preis dafür zahlen werden: einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen. Insofern kann ich den Vorwurf, man hätte zu regierungstreu berichtet, nicht nachvollziehen. Aber klar, den gibt es natürlich immer wieder. Und gerade rund um die Querdenken-Demo in Berlin haben wir auch darüber sehr viel diskutiert.

Die Krise hat einen Digitalisierungsschub gebracht, hast du gesagt. Vieles wurde plötzlich möglich, was vorher als schwierig erschien. Aber: die Arbeit von Journalisten war eh schon anspruchsvoll und teilweise auch sehr belastend. Das ist jetzt durch noch mehr Arbeit im Homeoffice nicht besser geworden. Wie ist die momentane Stimmung der Mitarbeiter? Gibt es Anzeichen einer drohenden Überlastung?

Wir haben von Beginn an versucht, stark darauf zu achten, und haben unsere Ressortleiter in virtuellen Meetings immer wieder aufgefordert, darauf zu achten, ob Leute sich nicht mehr melden oder ob jemand überlastet ist. Trotz vermehrter Nachfrage nach unseren Produkten haben wir dazu aufgefordert, Dinge effektiv wegzulassen, Seitenzahlen zu reduzieren, auf bestimmte Themen zu verzichten, um so Leute freier zu machen und zu unterstützen. Was definitiv fehlt, sind die Begegnungen im Flur. Auch um zu spüren, wie der derzeitige Stand und das Wohlbefinden der Kollegen ist. Das ist von Homeoffice zu Homeoffice viel schwerer zu beurteilen. Man sieht auf dem Bildschirm immer nur einen kleinen Ausschnitt, kann nicht mehr erkennen, ob ein Kollege, eine Kollegin blass ist und es ihr möglicherweise nicht so gut geht. Und welcher Arbeitnehmer würde schon zum Chefredakteur gehen und sagen: „Mir geht es schlecht”? Das machen die wenigsten. Ich fänd’s besser, das würden mehr tun. Letztlich kommt es auf unser Gespür an, um zu merken, dass etwas nicht stimmt.

Der große NDR hat für 2021 einen kompletten Volontärs-Jahrgang wegen Corona abgesagt. Bleibt der mittelgroße Tagesspiegel in der Ausbildung engagiert?

Ja! Im Juni haben vier neue Volos angefangen. Und wir haben eine Kooperation mit der Henri Nannen Schule gestartet. Aber natürlich gibt es auch bei uns das Problem, dass wegen Corona über einen längeren Zeitraum keine Präsenzseminare angeboten werden konnten. Das hatte gelitten. Und natürlich ist es schwerer geworden, Volontäre aus dem Homeoffice heraus auszubilden. Wir versuchen das, so gut es geht.

Sprechen wir zum Schluss noch kurz über das, was möglicherweise von Corona als produktive Folge bleiben wird. Wird es so sein, dass der aus TV- und Videowelt bekannte Begriff „Mobile Journalism“ künftig auch für Website- und Zeitungsproduktion gilt?

Ja, der Begriff hat jetzt bei vielen Kolleginnen und Kollegen eine völlig neue Bedeutung bekommen und ich glaube, dieser Ansatz wird sich verfestigen. Man kann sagen: Ein Stück weit passt diese Art der Krise zum Tagesspiegel, weil wir in Krisenzeiten eigentlich immer am besten sind. Homeoffice und das mobile Arbeiten strukturiert in Normalzeiten einführen zu müssen, das wäre viel schwieriger geworden.

Verlage waren bisher nicht dafür bekannt, großzügig Heimarbeit zu erlauben. Wird sich das zum Guten ändern: dass die Verlage mehr Telearbeitsplätze einrichten, weil sie ja in der Krise erlebt haben, dass die Zeitungsausgaben dennoch fertig wurden und guter Journalismus enstand?

Ja, ganz bestimmt. Mit dem Betriebsrat, der bei uns jetzt auch bei der Bewältigung der Krise eine sehr gute Rolle gespielt hat, hatten wir schon Ende vergangenen Jahres eine neue Betriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten aufgesetzt. Die werden wir jetzt noch mal anpassen, um zu einem sehr flexiblen Modell zu kommen. Da wird es zu einem großen Umdenken kommen, aber auf beiden Seiten. Wir haben auch Kollegen, die schon immer Homeoffice-Verfechter waren und nun leicht ernüchtert sind. Andere konnte es sich weniger vorstellen, und nun wird man zu einem gesunden Mittelmaß kommen.

Wagst du eine Prognose, wann alle wieder in der Redaktion am Platz arbeiten können?

Dieses Jahr nicht mehr. Wahrscheinlich erst im nächsten Frühling. Und auch dann sicher noch nicht mit voller Präsenz im Haus.

 

Redaktion: Susan Jörges, Ekaterina Ragozina, Jasmin Hilpert

Der im Interview erwähnte Ressortleiter Medien beim Tagesspiegel, Joachim Huber,  hat bei radio eins über seine Erkrankung gesprochen.

28. September 2020