#nr21 | Journalismus macht Schule
Journalismus auf dem Stundenplan
Viele Schüler:innen konsumieren Medieninhalte unreflektiert. Um die Medienkompetenz der Jugendlichen zu stärken, bieten immer mehr Journalist:innen Werkstattgespräche in Schulen an – ehrlich, authentisch und ehrenamtlich. Ein digitaler Schulbesuch.
von Anna Kustermann
„Habt ihr den Eindruck, es gibt Medien, denen man mehr, und Medien, denen man weniger vertrauen kann?“, fragt NDR-Journalistin Anja Reschke die Schülerinnen einer Mädchenrealschule im bayerischen Schrobenhausen. Es ist der 3. Mai 2021, Tag der Pressefreiheit, 8:00 Uhr morgens – und heute steht eine Doppelstunde Journalismus auf dem Stundenplan. „Ich glaube der Zeitung eher als dem Internet, weil ins Internet kann halt jeder was reinstellen“, antwortet eine Schülerin. Eine andere findet, was mehr verkauft werde, sei glaubwürdiger.
Dass Panorama-Moderatorin Reschke heute via Zoom am Unterricht teilnimmt, um mit den Schülerinnen über Probleme wie Fake News und Filterblasen, die Aufgabe von Journalist:innen und über den Wert von Journalismus für die Gesellschaft zu diskutieren, geht auf die Initiative „Journalismus macht Schule“ (JmS)* zurück. Bundesweit schickt das Bündnis Journalist:innen an Schulen, um Lehrer:innen bei der Vermittlung von Medienkompetenz zu unterstützen und Schüler:innen „zu kritischen und selbstbewussten Akteur:innen der Mediengesellschaft zu machen“, erklärt JmS-Projektkoordinator Jörg Sadrozinski.
Frau Merkel kann mir nicht vorschreiben, was ich berichte. Ich kann tun und lassen, was ich will
Um die Förderung der Medienkompetenz nachhaltig zu gestalten, wird JmS wissenschaftlich begleitet: Ein Projekt unter der Leitung des Hamburger Journalistik-Professors Volker Lilienthal, der auch die Nestbeschmutzer- Produktion leitet, wird für Hamburg und Schleswig-Holstein erheben, ob der Dialog erfolgreich war und was gegebenenfalls verbessert werden kann.
Saat der Demokratie
Wie wichtig es ist, der schulischen Medienbildung mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, zeigt der beunruhigende Befund einer Pisa-Sonderauswertung: Mehr als die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland können Fakten nicht von Meinungen unterscheiden – obwohl dies für einen fundierten demokratischen Diskurs elementar ist. Zudem hält es nur die Hälfte der Jugendlichen für wichtig, sich über aktuelle Ereignisse zu informieren, belegt die UseTheNews-Studie des Leibniz- Instituts für Medienforschung.
Auch das Wissen über Funktion und Arbeitsweisen des Journalismus ist begrenzt. Die Schüler:innen sollen also verstehen lernen, dass Journalist:innen nach klaren ethischen und juristischen Regeln arbeiten – was sie von bloßen Meinungsmachern unterscheidet. Die Initiative biete daher nicht nur eine gute Möglichkeit, um über den Journalistenberuf zu informieren und Interesse für ihn zu wecken, sondern nebenbei auch eine Saat der Demokratie zu säen, sagt Jens Meyer-Odewald, Chefreporter des Hamburger Abendblatts.
„Das ist echt irre“
Ziel der Schulbesuche ist ein Gespräch auf Augenhöhe, eine lebhafte Diskussion mit den Schüler:innen, in der auch persönliche Erfahrungen der Medienschaffenden eine Rolle spielen. Im Jahr 2015 musste Reschke nach einem Kommentar zur Flüchtlingshetze viel Kritik und Hass im Netz einstecken – ein Thema, das die Schülerinnen der Mädchenrealschule Schrobenhausen brennend interessiert. Offen und ehrlich berichtet Reschke über ihre Gefühle und den Umgang mit den teils radikalen Reaktionen und macht gleichzeitig auf ein weiteres, wichtiges Thema aufmerksam: das Privileg der Meinungs- und Pressefreiheit. „Man muss zwar mit Kritik und Gegenwind klarkommen, aber man darf alles sagen“, erklärt sie den Jugendlichen. Auf die Frage einer Schülerin, von wem sie beim Schreiben des Kommentars zensiert wurde, verleiht Reschke ihrer Stimme Nachdruck: „Gott sei Dank werde ich gar nicht zensiert. Frau Merkel kann mir nicht vorschreiben, was ich berichte. Ich kann tun und lassen, was ich will. Und das ist echt irre!“
Um Schüler:innen journalistische Arbeitsweisen und Probleme aus dem Arbeitsalltag näherzubringen, greifen einige Journalist:innen auf praktische Übungen und Beispiele zurück, die man auch auf der Website von JmS findet. Meyer-Odewalds Klasse stimmte zu Beginn der Schulstunde ab, welche der zehn gezeigten Nachrichtenmeldungen wahr und welche erfunden sind. Stephan Fritzsche, Kulturchef von NDR Info, spielte den Schüler:innen ein Video aus dem Jahr 2017 vor, in dem Donald Trumps damalige Beraterin Kellyanne Conway von „alternativen Fakten“ statt Lügen sprach – und kam so auf die Problematik von und den Umgang mit Fake News zu sprechen. Bei Jonny Thumb, Autor der N-JOY Morningshow, ergab sich ein spontanes Rollenspiel aus der Dynamik des Gesprächs. Ein engagierter Schüler mimte „Mr. TikTok“ und diskutierte mit seinen Mitschüler:innen über Inhalte und Richtlinien der Video- Plattform. Thumb moderierte.
„Mach dich locker. Die Schüler:innen werden dich eh in die Richtung lenken, die sie interessant finden“, hatte ihm die Lehrerin der Klasse bei einem vorherigen Telefonat geraten. „Und sie hatte Recht“, erzählt der Radiomacher begeistert.
Das Interesse an den Werkstattgesprächen ist groß: Mehr als 3.000 Schulen in Deutschland nahmen rund um den Internationalen Tag der Pressefreiheit an der Initiative teil. Allerdings sollten solche Veranstaltungen bereits in Grundschulen angeboten werden, findet NDR-Kulturchef Fritzsche, denn „wenn du keine Ahnung hast, was auf dich in der digitalen Medienwelt einprasselt, dann bist du verloren“.
Doch nicht nur die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen muss gefördert werden. Auch manche Lehrer:innen weisen große Defizite im Bereich der Medienbildung auf. Das liege unter anderem daran, dass Medienkunde noch kein Bestandteil der Lehrkräfteausbildung ist, bemängelt Kerstin Schröter, ehemalige Journalistin und heutige Lehrerin, die auch bei JmS aktiv ist. Demnach müssen auch Lehrkräfte verstärkt geschult werden, um die Schüler:innen in einem kritischen und kompetenten Umgang mit den Medien unterstützen zu können.
*Message-Mitherausgeber Volker Lilienthal leitet ein Teilprojekt von Journalismus macht Schule in Hamburg und Schlesweig-Holstein.
1. Juli 2021