#digijour2015 | Dokumentation
Really digital or more of the same?
Sechs Thesen zum Status quo des Digitalen Journalismus
von Christian Jakubetz
Erstens: Wir sind besser als wir glauben.
Journalisten sind nicht gerade dafür bekannt, Dinge durch die rosarote Brille zu betrachten. Im Gegenteil: Aufmerksamkeit bekommt man unter Medienmachern naturgemäß eher für eine steile These als für ein ausgewogenes „So schlecht ist die Lage doch gar nicht“. Und lernen wir nicht schon als junge Journalistenschüler, dass ein guter Kommentar eine ordentliche Punchline braucht, weil es kaum etwas Langweiligeres als ein „einerseits-andererseits“ gibt?
Trotzdem: Ich erlaube mir gleich bei meiner Eingangsthese, gegen alle Kommentar-Konventionen zu verstoßen. Ich habe keine steile These, nicht mal eine vernünftige Punchline im Gepäck. Ich bin nicht mal sicher, ob Sie an dieser Stelle nicht einfach aufhören zuzuhören, wenn ich meine unfassbar langweilige erste These hier aufstelle:Es geht uns gar nicht mal so schlecht im digitalen Journalismus, der Untergang ist einstweilen abgesagt.
Der @cjakubetz präsentiert zur Eröffnung eine „unfassbar langweilige“ These zum Digitalen Journalismus. Fängt ja gut an. #digijour2015
— Flo (@hohse) 5. November 2015
Das ist eher unspektakulär, weil ein ordentlicher Untergang viel mehr Gänsehaut auslöst. Das ist ein bisschen wie beim Titanic-Film, bei dem die vorangegangene Lovestory gepflegte Langeweile erzeugt, die man nur deshalb aushält, weil man weiß, dass dieses riesige Schiff auf einen riesigen Eisberg zusteuert und dann untergehen wird. Dieser Eisberg ist für den Journalismus in Deutschland nicht in Sicht, tut mir leid. Selbst unter Berücksichtigung dessen, dass Texte nicht langweilen sollen: Da ist so ein bisschen schwere See und eventuell bleibt es bis auf weiteres auch eher ungemütlich. Aber gleich ein Untergang? Zugegeben: Solche Einschätzungen sind immer eine Frage des Maßstabs. Natürlich wäre es kein Problem, mal eben das Beste aus der New York Times, dem Guardian oder den anderen üblichen Verdächtigen rauszukramen – um dann zu sagen: seht ihr, wie die das können? Und jetzt schaut euch selbst mal an! Das ginge mühelos – und es wäre dennoch unfair, weil es natürlich auch in den USA und in Großbritannien eher mäßige Beispiele für guten digitalen Journalismus gibt. Unbestritten: Die ganzen Berufskritiker und Medienblogger finden regelmäßig genug Stoff, um ihre Kritik aufrechtzuerhalten. Man muss sich nicht mal auf Focus Online konzentrieren, wenn man ordentliche Medienkritik üben will.
„Man muss sich nicht nur auf Focus Online konzentrieren, wenn man Medienkritik üben will.# #digijour2015 @cjakubetz — Simone Deckner (@senatorsim) 5. November 2015
Und wie ist das nochmal mit den Innovationen, von denen man in stürmischen Zeiten eigentlich täglich gleich einige erwarten könnte? Nein, es gibt nicht jeden Tag atemberaubend Neues zu sehen und selbst geschätzte Kollegen wie Stefan Plöchinger und Jochen Wegner betreiben aktuell eher Evolution als Revolution. Das ist natürlich in Ordnung, weil man auch Phasen der Konsolidierung und der Stabilisierung braucht.
Zumal zumindest die Älteren unter uns ja auch die „New Economy“ erlebt haben, in der es jeden Tag irgendwas atemberaubend Neues gab. Am Ende hatte man leider meistens vergessen, diese ganzen atemberaubenden Neuigkeiten auch auf Alltagstauglichkeit zu prüfen.
Es ist also in unserer Branche nicht viel anders als in anderen: Es gibt eine kleine und wechselnde Avantgarde, es gibt die SZ, die Zeit, den Spiegel, die FAZ, die ihren Mitbewerbern wie im analogen Leben auch immer eine qualitative Nasenlänge voraus sind – und es gibt die breite Masse, die ihren Job manchmal gut und manchmal nicht so gut erledigt.
Und vielleicht muss man das in Zeiten der „Lügenpresse“-Schreihälse auch mal sagen: So umfangreich, so hochwertig, so vielfältig wie in Deutschland ist selten eine Medienlandschaft. Und ja, auch das: so frei und unabhängig. In der Türkei hat gerade erst kurz vor den Wahlen die Regierung in Istanbul einen Medienkonzern stürmen lassen, der ihr nicht ganz genehm war.
Wir klagen also auf hohem Niveau. Das ändert nichts daran, dass auch solche Klagen ihre Berechtigung haben und dass man ja auch gute Dinge immer noch ein bisschen besser machen kann.
Und damit diese These vom „Klagen auf hohem Niveau“ nicht einfach nur eine These bleibt, ein paar Beispiele dafür, wie digitaler Journalismus in Deutschland funktionieren kann. Beispiele aus der täglichen Praxis, ganz bewusst keine „Leuchttürme“. Weil Leuchttürme fast jeder kann – und es letztendlich darauf ankommt, ein gewisses Maß an Qualität zum dauerhaften Standard zu machen.
Drei Dinge sind es, die den originären und guten digitalen Journalismus von seinem analogen Vorgänger wesentlich unterscheiden:
• Multimedialität
• Neue Storytelling-Formate
• Interaktion und Kommunikation
Diese drei Dinge sind es auch, die wir als Maßstab anlegen können, wenn es um die Frage nach dem Status Quo des digitalen Journalismus geht.
Und deshalb – drei Beispiele:
Die „Süddeutsche Zeitung“ beispielsweise hat schon im Jahr 2014 einen Schwerpunkt zum Thema Flüchtlinge eingerichtet – als die meisten anderen das Thema noch gar nicht auf der Agenda hatten. Was die SZ dort macht, vereint die Grundzüge des klassischen Journalismus mit den Möglichkeiten des digitalen Journalismus. Was mir besonders gefällt: Die SZ zeigt bei diesem Schwerpunkt, dass Multimedialität eben kein Selbstzweck ist. Diese dumpfe Gefühl, Kunst um der Kunst willen zu machen, beschleicht mich gelegentlich, wenn ich multimediale Gehversuche von Redaktionen sehe. Hier hingegen wird die möglicherweise wichtigste Kernkompetenz des digitalen Journalisten deutlich: zu entscheiden, für welches Thema welche Darstellungsform auf welchem Kanal die richtige ist.
Wie würde man den Tag des Mauerfalls in heutigen Darstellungsformen abbilden? Diese Frage hat „tagesschau.de“ beantwortet. Und nicht nur, dass man dort den 9. November 2014 in Form von Tweets rekonstruiert hat, zudem ist die gesamte Thematik in ein multimediales Dossier gegossen worden. Apropos multimediales Dossier: Diese Darstellungsform wird von der „Tagesschau“ in allen Ressorts regelmäßig gepflegt. Sie sind im Regelfall ein Beleg dafür, wie man aus analogen Zeiten bekannte Darstellungen in eine adäquate digitale Form übersetzen kann.
Trotzdem: Die „Tagesschau“, das blattablesegewordene Hochamt der verlesenen Nachrichten, erzählen einen historischen Tag in fiktiven Tweets nach. Kann man den Wandel zum digitalen Journalismus schöner und symbolträchtiger beschreiben?
Natürlich ist es ein Trugschluss zu glauben, die Qualitäten und Anforderungen des digitalen Journalismus würden in erster Linie durch möglichst aufwändige multimediale Produktionen definiert.
Dabei hat digitaler Journalismus auch sehr viel mit Kommunikation und mit Interaktion zu tun. Mit der Begegnung mit Usern auf Augenhöhe. Und mit der dauerhaften Präsenz in Kanälen, von denen wir bis vor ein paar Jahren nicht mal geahnt hätten, dass wir sie jemals als Plattformen für Journalismus bezeichnen würden.
Nicht wenige Kritiker werfen dem Journalismus – oder zumindest seinen konventionelleren Vertretern – gerne vor, genau das nicht begriffe zu haben. Und trotzdem ist es Standard, nicht nur bei den Kollegen von „Spiegel Online“: Wer wirklich kommunizieren und interagieren will, der bekommt inzwischen von vielen Redaktionen mehr Möglichkeiten geboten als je zuvor.
Man erreicht uns inzwischen natürlich auf Facebook, bei Twitter, selbstverständlich bei „WhatsApp“, neuerdings gerne auch mal bei Snapchat und demnächst noch auf vielen anderen Kanälen, von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass es sie mal geben wird.
Ich weiß, aus empirischer Sicht sind drei Beispiele ein bisschen wenig, um daraus tatsächlich ein wissenschaftliches Ergebnis ableiten zu können. Aber das hier ist eine Keynote, keine Studie.
Trotzdem: Gerade in Zeiten, in denen gerne auf Journalismus und seine vermeintlich schlafmützigen Protagonisten geschimpft wird, darf man ja auch etwas Gutes sagen. Kritik kommt dann wieder von ganz alleine. Beispielsweise im nächsten Teil dieser Keynote.
Zweitens: Das Angebot übersteigt die Nachfrage. Gut für den Konsumenten, weniger gut für uns.
Die kritischen Geister unter Ihnen werden sich möglicherweise gedacht haben: Wie kann man von einem alles in allem zufriedenstellenden Zustand des digitalen Journalismus sprechen, wenn nach wie vor Stellen abgebaut und funktionierende Geschäftsmodelle gesucht werden? Nicht mal der größte Digital-Optimist bestreitet, dass wir die Verluste, die es im analogen Kerngeschäft gibt, in den neuen digitalen Welten nicht vollständig kompensieren werden können.
Wir haben also kein drängendes Journalismus-, sondern ein Finanzierungsproblem. Ein handfestes sogar. Was sich letztendlich auch auf die journalistische Qualität auswirken kann. Bei allem Idealismus, ohne ausreichende finanzielle Grundlage geht es nicht.
Nüchtern betrachtet haben wir ein marktwirtschaftlich einfach zu begründendes Problem. Mittlerweile ist das publizistische Angebot deutlich größer als es die Nachfrage jemals sein kann. Niemand kann das Internet leer lesen. Was passiert, wenn das Angebot die Nachfrage übersteigt, kann uns jeder WiWi-Student im zweiten Semester erklären. Für den Konsumenten besteht angesichts dessen kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil: Die Auswahl an hochwertigen und kostenlosen Angeboten war noch nie so groß.
„Das journalistische Angebot übersteigt die Nachfrage.“ @cjakubetz auf dem #digijour2015
— Roxana Wellbrock (@roxwellbrock) 5. November 2015
Ich kann mich an eine Eigenanzeige einer niederbayerischen Lokalzeitung erinnern: „Wer glaubt, die Bezugsgebühren für die Heimatzeitung sparen zu können, spart am falschen Platz.“ Schließlich, so hieß es weiter, wisse man ohne die Zeitung weder, was in der weiten Welt vorgehe, noch sei man über das lokale Geschehen informiert. Weswegen, so die Schlussfolgerung der Anzeige, folgendes gelte: „Es stimmt schon: Die Heimatzeitung muss man lesen!“ Das ist überaus drollig formuliert, im Jahr 2015 aber leider auch dramatisch falsch: Niemand kann heute mehr für sich in Anspruch nehmen, unverzichtbar zu sein. Bis auf weiteres werden wir also auf der Suche bleiben. Nach Geschäftsmodellen, die den Journalismus durch die Digitalisierung tragen. Das werden nicht für alle die gleichen sein und es wäre zudem naiv zu glauben, dass es nicht auch Versuche geben wird, die scheitern. Das Finanzierungsproblem bleibt vorerst ungelöst. Sicher aber ist zumindest eines: Mehr denn je entscheiden Qualität und Originalität der Angebote über den Erfolg. Angesichts des großen Angebots sind Nutzer heute womöglich aufgeschlosssener, aber auch kritischer als je zuvor: Als die „Krautreporter“ an den Start gingen, waren 18.000 Unterstützer dabei. Übrig geblieben davon ist, gerade mal ein Jahr später, ein knappes Drittel. Soll also bitte niemand behaupten, die User wollten alles immer nur kostenlos. Die Bereitschaft, für gute Dinge zu bezahlen und ihnen eine Existenzgrundlage zu geben, ist schon da. Nur müssen wir sie danach auch wirklich überzeugen. Und das kann, wie man an den Krautreportern sieht, der deutlich schwierigere Job sein.
Drittens: Wir verlieren den Kampf um die besten Köpfe.
Seit einigen Jahren unterrichte ich an der Universität Passau, darunter auch Erstsemester. Jedes Jahr zum Semesterstart frage ich nach, wer in den Journalismus gehen und wer eher etwas anderes machen möchte. Die Tendenz geht weg vom Journalismus, zum Semesterstart 2015/16 waren sich vier Fünftel sicher: Journalismus kommt für sie nicht in Frage – die Zukunftsaussichten seien dann doch zu trübe. Das ist kein Passauer Phänomen und auch kein kurzfristiger Trend. Die Zahl der Journalisten in Deutschland sinkt langsam aber stetig. Die Bewerberzahlen an den Journalistenschulen gehen ebenfalls zurück, sogar an solchen, bei denen früher die Bewilligung eines Studienplatzes in etwa einem Lottogewinn gleichkam. Nüchtern betrachtet ist das ja auch nicht so sehr verwunderlich: Spitzenverdiener waren Journalisten im Schnitt noch nie. In den letzten Jahren allerdings gab es zu viele Entwicklungen, die den Beruf zunehmend unattraktiv gemacht haben. Neben einer nur so mittelguten Bezahlung sind es vor allem die Zukunftsperspektiven, die den Nachwuchs abschrecken. Weil wir hier nicht auf einem Gewerkschaftstag sind, verzichte ich darauf, Details aufzuzählen. Nur so viel: Unter den vier Fünfteln meiner Studenten, die nicht in den Journalismus gehen wollen, sind viele so talentiert, dass ich es bedauerlich finde, wenn ich mir vorstelle, wie sie in die PR abwandern. Aber so ist das nun mal – in jeder Branche übrigens: Wenn das Geld und die Perspektiven fehlen, fehlen auch die Talente. Brain Drain.: Die Köpfe gehen und unseren journalistischen Ambitionen tut das ganz bestimmt nicht gut. Zumal, siehe These 1, viele ja nicht deshalb fernbleiben, weil sie Journalismus und seine Angebote nicht interessant fänden. Wir müssen also unseren Beruf wieder attraktiv machen, gerade im digitalen Journalismus. „Online-Journalismus“, das verbinden viele immer noch mit schlechter Bezahlung, mittelgutem Ansehen, Arbeiten als Pixelschubser und Klickmaschine. Leider stimmt das in etlichen Fällen sogar.
Viertens: Etwas Neues zu tun, ist noch kein Wert an sich.
Im Titel der heutigen Keynote taucht der Begriff „More of the same“ auf. Ich vermute, das ist nicht sehr freundlich gemeint, weil es in diesem Kontext suggerieren soll, dass es besser wäre, würde man etwas Neues, etwas Innovatives tun. Was ich insbesondere in den vergangenen beiden Jahren gelernt habe: Etwas Neues zu tun, ist noch kein Wert an sich. Es ist ja nicht so, dass es nicht einige Versuche gegeben hätte, im Gegenteil. Vermutlich ist im deutschsprachigen Raum selten so viel Neues versucht worden wie in den zurückliegenden beiden Jahren. Und, noch besser: keineswegs „more of the same“, keineswegs nur Weiterentwicklungen des bereits Bestehenden. Angebote wie beispielsweise „Buzzfeed“ versuchen sich in völlig neuen Varianten des Storytellings. Die bereits erwähnten „Krautreporter“ bestreiten zwar mittlerweile, mit dem Anspruch der Rettung des Online-Journalismus angetreten zu sein, haben sich aber dennoch eine Zeitlang zumindest so benommen. Herausgekommen ist dabei wenig. Von den neuen Playern am Markt hat keiner wirkliche Innovation gebracht. Natürlich kann man mehr oder weniger lustige Listicles machen und man kann auch Geschichten schreiben, die deutlich ausführlicher sind als das, was man sonst im Journalismus so kennt. Man kann inzwischen sogar seine Leser in Überschriften IN GROSSBUCHSTABEN ANBRÜLLEN! Nur: Stilistische Neuerungen sorgen noch nicht für Relevanz. Welche Geschichte von HuffPo und Buzzfeed ist wirklich in Erinnerung geblieben? Was zählt, ist auch im digitalen Zeitalter immer noch die journalistische Relevanz. Ob in Listicles, in langen oder kurzen Texten, in fluffiger, seriöser oder sterbenslangweiliger Aufmachung ist zweitrangig. Ohne Relevanz ist alles Mist, wie Franz Müntefering vermutlich gesagt hätte.
„Stilistische Neuerungen bedeuten nicht journalistische Relevanz“ @cjakubetz #digijour2015 — Katharina Zingerle (@KathZing) 5. November 2015
Man lernt aber auch anderes daraus: nämlich, dass die alten Tanker, über die wir uns in der digitalen Blase gerne mal etwas lustig machen, vermutlich doch gar keinen so schlechten Job machen. Beunruhigt müsste man nur sein, wäre es anders.
Fünftens: Der Innovationsdruck wird trotzdem nicht weniger.
Alles prima also, weiter so mit more of the same? Ganz so leicht ist es natürlich nicht. Aber vielleicht ist genau das ja auch der Grund dafür, warum wir vergleichsweise entspannt auf die Lage im digitalen Journalismus schauen können: Digitalisierung bedeutet permanenten Innovationsdruck. Wer nicht dabei ist, verschwindet von selbst. Der Markt regelt, wenn man so will, die Sache fast alleine.
Die Digitalisierung verschwindet nicht wieder wie ein lästiger Schnupfen. Ich möchte Sie ja nicht mit dem Begriff der kreativen Zerstörung langweilen, trotzdem darauf verweisen, dass wir gerade mittendrin stecken in diesem Prozess. Der Begriff beinhaltet aber zwei Wörter – einer davon ist „kreativ“. Wenn Sie also anderer Meinung als ich sind und glauben, dass der digitale Journalismus in einer eher unerfreulichen Lage steckt, beruhigt Sie vielleicht die Aussicht, dass der permanente Innovationsdruck ein gemütliches Zurücklehnen ohnehin nicht zulässt.
Sechstens: Vergesst den Klick. Baut Communitys.
Wenn wir schon bei den Innovationen und Veränderungen sind – zwei Dinge sind es, die mir noch am Herzen liegen. Zwei Dinge eher grundsätzlicher Natur. Von denen ich allerdings glaube, dass sie deutlich wichtiger sind als alle Debatten über Listicles oder Krautreporter.
Das eine: Digitaler Journalismus braucht dringend einen Paradigmenwechsel. Wir sollten aufhören, wie in den letzten zwei Jahrzehnten blind irgendwelchen Klicks und Pageviews hinterherzuhecheln. Das meine ich keineswegs moralisierend und auch die Qualitätsjournalismus-Keule werde ich jetzt nicht hervorholen. Es ist nur so: Aus flüchtigen Gelegenheitsklickern entsteht weder ein Geschäftsmodell noch ein Publikum, das wirklich bleibt. Daniel Steil, Chefredakteur von Focus Online, hat unlängst erzählt, warum er auf Schnelligkeit setzt, Exklusivität nutzlos ist und vermutlich alle anderen journalistischen Tugenden ebenfalls nachrangig sind: „Dem Nutzer ist es total egal, wo er eine Nachricht liest.“
Selten hat ein Journalist mehr geirrt. Und noch nie hat ein Chefredakteur eine derartige Kapitulationserklärung öffentlich unterschrieben.
Das ist eine fatale Haltung. Weil sie Journalismus zu einer Beliebigkeitsveranstaltung degradiert und Journalisten zu Textrobotern, gefangen in SEO-Käfigen macht. Weil sie Journalismus in der Konsequenz beerdigt und zudem das potentielle Publikum als eine Art willenlose Dumpfbacken-Ansammlung betrachtet, dem man nur schnell genug irgendwas in den Rachen werfen muss, um zufrieden zu sein.
Wenn man nicht gerade bei „Focus Online“ arbeitet, dann hat man in den vergangenen Jahren gesehen, dass der schnelle Klick nicht zum Erfolg führt; zumindest dann nicht, wenn man es halbwegs ernst meint mit dem Journalismus. Wenn man es also wirklich ernst meint, dann muss man aufhören, das Publikum zu dämlichen Klickvieh zu machen. Das Geschäftsmodell des digitalen Journalismus ist mehr denn je: Aus weltweit netzverstreuten Gelegenheitsklickern eine loyale Community zu machen, die für Inhalte oder die Zugehörigkeit zu einer Community Geld bezahlt.
„Aufhören, den User zum dämlichen Klickvieh zu machen.“ @cjakubetz auf dem #digijour2015
— Roxana Wellbrock (@roxwellbrock) 5. November 2015
Und damit zusammenhängend und abschließend: Tragen wir bitte den Kopf (nicht die Nase!) alle wieder etwas höher. Wir sind nicht Content-Lieferant für irgendjemanden, keine gesichtslose Newsfabrik und schon gar nicht der Steigbügelhalter für die Allmachtsträume amerikanischer Netzwerke.
Der Beitrag dokumentiert einen Programmpunkt der Tagung „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“, die am 5. und 6. November 2015 unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg) in Hamburg stattfand.
17. November 2015