Es liegt in unserer Hand

Wie ein Rechtsanwalt den NSA-Skandal und die nachfolgende Berichterstattung wahrgenommen hat und schließlich zum aktiven Kämpfer gegen die Internet-Totalüberwachung geworden ist.

von Oliver Pragal

Wer den Film »Die Bourne Verschwörung« für ein paranoides, effekthaschendes Hollywood-Werk hielt, wurde im Sommer 2013 eines Besseren belehrt. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde Edward Snowden, ein Mitarbeiter der National Securance Agency (NSA) zum »Whistleblower« der weltweiten Totalüberwachung, gab sein gesamtes Leben auf und wurde vom mächtigsten Geheimdienst der Erde wie »Freiwild« über den gesamten Globus gejagt.

Ich gebe zu, dass ich die ersten Tage des Skandals »verschlafen« habe. Ich hatte mich seinerzeit am Rande mit den »Wikileaks-Depeschen« befasst und war – abseits des schockierenden und zu Recht veröffentlichten Videos »collateral murder« – von diesen eher gelangweilt. Als ich dann den Film von Laura Poitras über Edward Snowden sah, lief mir jedoch ein kalter Schauer über den Rücken angesichts der Tragweite dessen, wovon der damals erst 29-jährige »Whistleblower« mit bewundernswerter Klarheit, Ruhe und Überzeugungskraft in druckreifen Sätzen berichtete.

Sein Mut und seine abgeklärte und beinahe »staatsmännische« Klugheit haben mich zutiefst beeindruckt. Ich teile – selbstverständlich – seine Ansicht, dass Totalüberwachung mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat unvereinbar ist. Jedenfalls aber müssen die Bürger, und nicht kafkaeske Geheimgerichte hierüber entscheiden.Was dann an weiteren Enthüllungen folgte, war eine atemberaubende Vielzahl an Details der Totalüberwachung, die ich insbesondere im SPIEGEL und im Guardian verfolgte. In der Süddeutschen Zeitung war treffend von einem »Cyberwar der Regierungen gegen die Bürger« die Rede.

Zu einem genauso empörenden »Sekundärskandal« entwickelte sich allerdings dann die komplizenhafte, unwürdige und vor allem verräterische Vertuschungskampagne der Bundesregierung. Die Erfahrung, von der eigenen Regierung bei dem historisch größten Grundrechtsangriff im Stich gelassen, belogen und für dumm verkauft zu werden, hat mich fassungslos und ohnmächtig, aber vor allem wütend gemacht.

»Ich konnte nicht tatenlos bleiben«

Insbesondere hat dies zu einer vollständigen Abkehr von meiner bisherigen Haltung der kritischen, distanzierten Passivität geführt. Ich konnte einfach nicht mehr länger tatenlos bleiben. Den letzten Ausschlag hat die Nachricht bewirkt, dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich eine Delegation von »Unterabteilungsleitern« (sic!) in die USA entsendete. Diese sollten »zur Aufklärung« Gespräche mit denjenigen Verantwortlichen führen, die zuvor massenhaft den vierten Verfassungszusatz verletzt und den US-Kongress nachweislich belogen hatten. Mir ist angesichts der Dreistigkeit dieser Vertuschungskampagne sprichwörtlich der Kragen geplatzt. Ich habe daraufhin spontan eine bereits sechs Tage später stattfindende Demonstration unter dem Motto »Stop PRISM now!« vor dem Hamburger US-Konsulat angemeldet. Ich gab in meiner E-Mail an die Polizei an, mit 100 Teilnehmern zu rechnen. Darüber, wo diese Menschen herkommen sollten, hatte ich mir keine Gedanken gemacht.

Das war ohne jede Erfahrung, Vorplanung und Verbündete eigentlich eine »Schnapsidee«. Außerdem hatte ich es mir bis jetzt nicht vorstellen können, mit einem Megafon vor unbekannten Menschen auf der Straße eine Ansprache zu halten. Entscheidend für mich war aber, dass es besser wäre, mit nur 20 Menschen vor dem US-Konsulat ein Zeichen zu setzen, als untätig auf dem Sofa zu sitzen.

In den Folgetagen kamen mir Zweifel: Ich fragte mich, ob mein iTunes-Update länger als sonst dauerte. Wussten »sie« bereits Bescheid? Würde ich nun auf eine »no-fly-Liste« kommen? Mir kam in den Sinn, dass ich noch niemals in New York gewesen war. Doch solche Gedanken sind unwürdig für freie Bürger in einem freien Land. Ich erinnerte mich an einen lateinischen Rechtsspruch, den ich im Studium gelernt hatte: »Qui tacit consentire videtur« (Wer schweigt, scheint zuzustimmen). Ich kam zu dem Schluss, dass die Demonstration jetzt erst recht stattfinden müsse.

Glücklicherweise wurde auf Grund meiner Pressemitteilung bereits im Vorfeld über die geplante Demonstration berichtet, so dass schließlich über 300 Menschen teilnahmen. Auch die Medien fanden es offenbar sehr interessant, dass der Protest nun aus der Mitte der Gesellschaft kam. Rechtsanwälte demonstrieren ja sonst nicht.

Sieben Gründe gegen Totalüberwachung

Um es vorab zu sagen: Ich sehe Amerikas Rolle in der Welt insbesondere nach »9/11« sehr kritisch. Die schamlose Wiedereinführung der Folter, die Führung von Angriffskriegen unter verlogenen Begründungen und die Tötung von verdächtigen Terroristen mittels Drohnen auf fremdem Hoheitsgebiet ohne Strafurteil oder Gewährung rechtlichen Gehörs haben hierfür genügenden Anlass geboten.

Ich bin aber kein »Anti-Amerikanist«. Es geht mir um die Kritik an Regierungen, nicht um die Schmähung ganzer Länder. Es spricht Bände über das deutsch-amerikanische Verhältnis, dass man dies erwähnen muss.

Den ersten Grund, um gegen Totalüberwachung zu protestieren, hat Edward Snowden selbst sehr eindrucksvoll genannt, indem er gesagt hat: »Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles was ich mache, der Name jedes Gesprächspartners, jeder Ausdruck von Kreativität, Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird.« In einer solchen Welt möchte auch ich nicht leben!

Der zweite Grund lautet, dass ich Bürger und nicht Untertan sein möchte. Man stelle sich vor, dass jeden Morgen die Briefe aufgerissen im Briefkasten lägen, man abends die Wohnung durchwühlt vorfände, die Festplatte und alle Briefe entwendet oder kopiert wären. Jeder Mensch, der bei Trost ist, würde sofort die Polizei verständigen. Doch genau das passiert täglich in der digitalen Welt – das ist entwürdigend!

Jakob Augstein hat sehr treffend zu diesem Thema angemerkt: »Wann ist Kontrolle totale Kontrolle? Wenn man sich ihr freiwillig unterwirft – und sie dann nicht einmal mehr spürt. In Deutschland sind die USA diesem Ziel schon sehr nahe gekommen. Das zeigt der Umgang weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit mit dem Überwachungs-skandal. Und das zeigt auch die Reaktion der deutschen Regierung. Herunterspielen und verharmlosen (…) Wenn die Deutschen sich das gefallen lassen, haben sie aus zwei Diktaturen nichts gelernt.«
Drittens sind solche Systeme mit einem Rechtsstaat unvereinbar und einer Demokratie unwürdig. Von Benjamin Franklin, einem der Gründerväter der USA, stammt das kluge Zitat: »Wer die Freiheit opfert, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.«

Die NSA soll täglich allein in Deutschland die Metadaten von 15 Millionen Telefonaten sowie von 10 Millionen Internetverbindungen erfassen. Das britische System »TEMPORA« ist sogar ein sogenanntes «full-take-System«, das über längere Zeit verdachtsunabhängig sämtliche Kommunikationsinhalte speichert. Bei der NSA soll es einen internen Witz geben: »Wir vertrauen Gott – alle anderen belauschen wir.«

Dennoch hat auch die NSA das Attentat von Boston nicht verhindern können. Präsident Obama hat zur Rechtfertigung der Totalüberwachung allerdings behauptet, dass zuvor »mindestens 50 Anschläge« verhindert werden konnten. Er hat jedoch niemals genauere Einzelheiten mitgeteilt. Ich frage mich, warum nicht. Man hätte doch die Verdächtigen zwingend vor zivile und damit öffentliche Strafgerichte stellen müssen. Obama hätte dies der Öffentlichkeit zudem als Fahndungserfolg verkaufen können.

Doch unabhängig von allen denkbaren Fortschritten bei der Verbrechensbekämpfung muss die verdachtslose Totalüberwachung jedes Schrittes und Gedankens jedes einzelnen Menschen in der digitalen Welt für alle freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten illegal sein und bleiben. Denn hierdurch wird nicht nur die Privatsphäre aller unverdächtigen Menschen massiv verletzt. Denn insbeondere die Totalüberwachung ist immer unverhältnismäßig und mit einem demokratischen Rechtsstaat unvereinbar: Sie degradiert den Bürger zum bloßen Objekt staatlicher Überwachung und schüchtert jede kritische Initiative ein. Die Ablehnung einer solchen Vorgehensweise sollte erst recht für eine der ältesten Demokratien der Welt selbstverständlich sein!

Der vierte Grund, gegen Totalüberwachung zu kämpfen, besteht darin, dass jeder Mensch erpressbar ist, da wir alle keine »Heiligen« sind, sondern »wunde Punkte« haben. Edward Snowden hat gesagt: »Jeder kann zum Ziel werden – sie nutzen dann die Daten, um Menschen anzugreifen.« Im Fall von Edgar J. Hoover, dem ehemaligen Chef des FBI, ist dies sogar historisch belegt: Er schreckte auch nicht davor zurück, US-Poltiker zu erpressen.

Trotz der Rechtsbrüche und Lügen sind Rücktritte an der Spitze der verantwortlichen Geheimdienste bisher ausgeblieben. Deshalb stellt sich auch die naheliegende Frage, wer im Staate tatsächlich die Macht innehat.

Dass die Totalüberwachung auch der gezielten Ausspionierung und damit Schwächung unserer Politik und Wirtschaft dient, ist schließlich der fünfte Punkt, sich dagegen zu wehren. Das haben die Wanzenfunde im EU-Parlament, in der EU-Botschaft in Washington sowie im Gebäude der UNO zweifellos bewiesen. Spionage betrifft aber auch den wirtschaftlichen Wettbewerb. Ich bin nicht naiv, Wirtschaftsspionage gab es immer. Aber weshalb fördert die Bundesregierung dies, indem sie NSA-Standorte in Deutschland duldet und sogar den Neubau von weiteren Spionage-Zentren genehmigt? Ist Deutschland etwa noch immer ein tributpflichtiger Vasallenstaat?

Der Präsident des Deutschen Anwaltsvereines, Professor Wolfgang Ewer, hat hierzu mit großer Deutlichkeit bemerkt, dass die Bundesregierung Schutzpflichten für die deutschen Bürger habe. Und falls die Regierung bereits vor den Enthüllungen von den Methoden der Geheimdienste gewusst habe, so habe sie diese Schutzpflichten »krass verletzt«.

Der sechste Grund lautet, dass Totalüberwachung das Vertrauen der Bürger in Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Psychotherapeuten, Anwälte, Seelsorger und Journalisten zerstört. Für diese wird es folglich unmöglich, die ihnen anvertrauten Geheimnisse zu bewahren. Es bedarf keiner Erläuterung, dass es sich bei diesen Berufen um zentrale Institutionen jeder Zivilgesellschaft handelt.

Der siebte, jedoch gewiss nicht letzte Grund, auf die Straße zu gehen, ist die komplizenhafte, feige und verräterische Untätigkeit der Bundesregierung. Edward Snowden hat zur Rolle der deutschen Geheimdienste gesagt, dass die Deutschen mit der NSA »unter einer Decke« steckten. Die Daten würden ohne Erläuterung der Quelle weitergegeben, so dass die Dienste die Regierungen vor öffentlicher Empörung (»backlash«) schützen können, sollte es doch einmal herauskommen. Ein deutscher Geheimdienstler hat kürzlich gegenüber der ZEIT eingestanden: »Wir sind erpressbar: Dreht die NSA den Hahn zu, sind wir blind«.

Diese komplizenhafte Untätigkeit der Bundesregierung stimmt mich ebenso fassungslos und wütend wie das würdelose Schauspiel der Minister Ronald Pofalla und Friedrich. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass die Bundeskanzlerin die Stasi noch selbst erlebt hat.

»Ich hoffe auf ein sicheres Asyl für Snowden«

Jede Demokratie ist auf Bedingungen angewiesen, die sie selbst nicht garantieren kann. Hierzu zählt insbesondere das Vertrauen der Bürger in den Staat sowie in die Unverbrüchlichkeit der Gesetze und Grundrechte. Deshalb ist in Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes auch ein Widerstandsrecht für die Bürger festgeschrieben. Es zielt gegen alle, die versuchen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen. Zu dieser Ordnung gehören gewiss auch elementare Freiheitsrechte wie die Privatsphäre. Durch die komplizenhafte Untätigkeit der Bundesregierung ist dieses Vertrauen schon jetzt schwer beschädigt worden.

Meine Hoffnung ist zunächst, dass Edward Snowden ein sicheres Asyl findet, damit er für seine bewundernswerte Zivilcourage nicht noch weiter bestraft wird. Es wäre ihm zu wünschen, dass der Nachfolger von Präsident Obama ihn begnadigen wird, sofern seine Offenbarungen nicht ohnehin als Notstandshandlung gerechtfertigt waren, wofür einiges spricht.
Viel wichtiger aber ist, dass der hohe Preis, den Edward Snowden bereits jetzt gezahlt hat, nicht umsonst gewesen sein darf. Die Menschen müssen die möglicherweise historisch einmalige Chance ergreifen, die verantwortlichen Regierungen und ihre offensichtlich außer Kontrolle geratenen Geheimdienste in die Schranken zu weisen. Diese Verantwortung liegt zunächst bei jedem Einzelnen, der Bürger statt Untertan sein und bleiben möchte.

Journalisten tragen indessen – ähnlich wie wir Rechtsanwälte – auf Grund ihrer unmittelbaren Betroffenheit, aber insbesondere wegen ihrer Einflussmöglichkeiten als vierte Gewalt eine besondere Verantwortung dafür, dass dieser Skandal nicht zu den Akten gelegt wird, sondern Konsequenzen folgen. Dies gilt noch verstärkt, nachdem Festplatten in den Redaktionsräumen des Guardian zerstört wurden, die britische Regierung »Maulkorberlasse« (»defence advisory notices«) an die Medien versandt hat und der Lebenspartner von Glenn Greenwald am Flughafen Heathrow festgenommen wurde. Somit ist klar geworden, dass die verantwortlichen Kräfte auch vor gezielten, rechtswidrigen Angriffen auf die Pressefreiheit nicht zurückschrecken.

Vergegenwärtigt man sich den damaligen, berechtigten »Aufschrei« im Zuge der »SPIEGEL-Affäre«, so wirkt die Reaktion vieler Journalisten auf mich bisher vergleichsweise desinteressiert. Initiativen von Journalisten oder ihrer Verbände zur Verteidigung der Pressefreiheit in eigener Sache wie in Form offener Briefe, Podiumsdiskussionen oder Demonstrationen sind mir nicht bekannt. Es wäre schön, wenn sich dies ändern würde. Die Lage ist kritisch wie noch nie – es geht um unsere Freiheit und Demokratie als Ganzes.

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Kommentare

  1. Udo Fröhlich sagt:

    Besten Dank für die klare Sprache und die unzweideutige Bewertung. Ernüchternd ist das (bisherige) Versagen der Medien. Ich erinnere den Satz von Kurt Tucholsky: „Ein Skandal, dass der Skandal kein Skandal ist.“