#nr20 | Lokaljournalismus
Neues Selbstbewusstsein: „Unser Journalismus war nie besser“
Hohe Zugriffszahlen, mehr Digitalabonnent*innen und sogar steigende Print-Auflagen: Schon lange nicht mehr waren Inhalte von Lokalmedien so gefragt wie in der Corona-Pandemie. Vorher steckte der Lokaljournalismus vielerorts in einer Krise. Wendet sich jetzt das Blatt?
von Friederike Deichsler
„Wir haben vor allem im März und April einen wahnsinnigen Push erlebt“, sagt Steffi Dobmeier, bei der Schwäbischen Zeitung stellvertretende Chefredakteurin sowie Leiterin Digitale Inhalte und Strategie. „Wir hatten zum Teil in einer Woche so viele digitale Abo-Abschlüsse wie sonst in einem Monat.“ Auch das Mindener Tageblatt in Ostwestfalen verzeichnete in der Hochphase der Pandemie online „die historisch höchsten Zugriffszahlen, die wir jemals gemessen haben“, sagt Chefredakteur Benjamin Piel.
Regionale Informationen sind gefragt – und die Redaktionen liefern. „Der Lokaljournalismus ist in Höchstform“, sagt Stefan Wirner, Redaktionsleiter der Medienzeitschrift drehscheibe von der Bundeszentrale für politische Bildung. Besonders positiv sieht er, dass Redaktionen regionale Gerüchte und Falschmeldungen überprüfen. Lokaljournalismus könne jetzt zeigen, dass er auch solchen Aufgaben gewachsen sei, stimmt die Chefredakteurin der Potsdamer Neuesten Nachrichten, Sabine Schicketanz, zu. „Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, unter dem man sehen kann, was die Rolle des Journalismus ist“, sagt sie.
Mehr Freiheiten und neue Formate
Zeigen, was man kann – das gilt auch für die Darstellung: Von Newsblog über Infografiken bis hin zu Faktenchecks bespielen die Lokalzeitungen alle erdenklichen Formate. „Podcasts und Datenjournalismus erleben im Lokalen gerade ihren Durchbruch“, beobachtet Wirner. Beliebt scheinen auch individuelle Einschätzungen und Alltagsgeschichten. So gibt es in Minden die Essay-Serie „Gedanken zur Krise“, bei den Potsdamer Neuesten Nachrichten das „Krisentagebuch“, in dem Menschen aus der Region porträtiert werden.
Angesichts der neuen Formatvielfalt fällt kaum auf, dass etwas anderes vermeintlich fehlt: Berichte über Vereinsveranstaltungen, Stadtratssitzungen und andere Termine, die den Lokaljournalismus normalerweise strukturieren, durch Corona aber wegfallen. „Eigentlich ist das total gut für den Lokaljournalismus“, sagt Steffi Dobmeier. „Ich glaube, unser Journalismus war nie besser.“ Auch Joachim Dreykluft, Online-Chefredakteur beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag, findet: „Wir machen gerade den Journalismus, den wir immer machen wollten.“ Die Chefredakteur*innen sprechen einstimmig von neuer Freiheit oder gar einer Befreiung – von Terminen und Ritualen, aufwendiger Vereinsberichterstattung für kleine Zielgruppen.
Die Reaktion auf die neuen Formate sei durchweg positiv, so die Redaktionen. „Wir haben selten so viel Zuspruch und Dank erfahren: Dass wir es gut machen, uns mit den richtigen Themen beschäftigen“, berichtet Schicketanz aus Brandenburg. Die Krise sei eine Möglichkeit, Vertrauen zurückzugewinnen, nachdem Journalist*innen zuletzt immer wieder mit Lügenpresse-Vorwürfe konfrontiert waren. „Wir erleben eine neue Wertigkeit für regionalen Journalismus“, sagt auch ihre Kollegin Dobmeier aus Süddeutschland.
Die Frage nach digitalen Bezahlmodellen
Sie sieht jedoch nicht nur Vorteile. „Zu sagen, alles ist super und am Ende ist dafür der Journalismus besser, wäre zu kurz gegriffen. Natürlich liegen die größten Herausforderungen auf der monetären Ebene, die Verlage kämpfen an allen Ecken.“ In dieser Situation sind die Lokalredaktionen nicht erst seit Corona. Doch die Krise hat die Abwärtsspirale aus sinkender Auflage und wegbrechenden Anzeigenerlösen verstärkt. Viele Zeitungen – nicht nur im Lokalen – haben Kurzarbeit angemeldet. Chefredakteur Piel aus Minden sieht das kritisch: „Ich finde es schwierig, pauschal Kurzarbeit über die ganze Redaktion zu legen. In der Lokalredaktion können wir auf gar keinen Fall Kurzarbeit anmelden, weil es da gerade unheimlich viele Themen gibt.“ Anders beispielsweise im Sportteil, wo gerade weniger Seiten gefüllt werden.
Der Journalismus brauche seine Leser*innen jetzt besonders dringend, findet Sabine Schicketanz aus Potsdam. „Wir sind im Grunde nichts anderes als ein Restaurant, dem die Gäste fehlen“, sagt sie. „So wie man sich Essen von seinem Lieblingsrestaurant liefern lassen kann, kann man sich bewusst entscheiden, eine Form von Abo für sein lokales Medium abzuschließen.“
Auf dem Weg in Richtung digitale Bezahlmodelle sind die Lokalredaktionen jedoch unterschiedlich weit. Die Potsdamer Neuesten Nachrichten bieten als Digital-Abo nur ein E-Paper, der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag hat dagegen fast alle Online-Inhalte hinter einer Paywall. In jedem Fall sei klar, dass die schlagartig gestiegenen Abo- und Zugriffszahlen den Verlagen nicht helfen, wenn es bei einem kurzfristigen Effekt bleibe, so Dobmeier von der Schwäbischen Zeitung. Alle Redaktionen treibt deshalb die Frage um, wie sie die neu gewonnenen Leser*innen langfristig binden können. Die Antwort scheint einfach: Qualität, Transparenz, Abwendung vom Terminjournalismus.
Diese Ideen sind keineswegs neu, auch da sind sich die Journalist*innen einig. Es sei in den vergangenen Jahren schon viel in diese Richtung passiert, meint Benjamin Piel, auch Steffi Dobmeier spricht davon. Dennoch hat es wohl manchmal die Pandemie als nötigen Anstoß gebraucht. „Es gibt in Lokalredaktionen noch Rituale nach dem Motto ‚Darüber haben wir doch immer berichtet‘“, sagt Joachim Dreykluft aus Schleswig-Holstein. Jetzt sei eine Gelegenheit, diese kritisch zu hinterfragen.
10. August 2020