#nr20 | Publikum
Qualitätssprung – Hinhören verbessert den Journalismus
Ein gesteigertes Interesse am Austausch mit dem Publikum gab es auch vor Corona schon. In der Krise zeigt sich nun das Potenzial dieses Dialogs. Eine Herausforderung bleiben die knappen redaktionellen Ressourcen
von Lena Bender
„Wir wollten ein Angebot des sozialen Austauschs schaffen, der in dieser Zeit so massiv weggebrochen ist.“ So erklärt Sabrina Ebitsch aus der Entwicklungsredaktion der Süddeutschen Zeitung das „Kollektive Tagebuch“. Die Plattform gibt Einblicke in das Leben anderer und zeigt, wie die Menschen in Deutschland durch die Corona-Krise kommen. In Kategorien wie „Leben & Veränderung“ oder „Kummer & Sorgen“ beschreiben Menschen, wie es ihnen geht, was sie vermissen und worauf sie sich am meisten freuen, wenn alles wieder normal ist. Das Stimmungsbarometer verzeichnet fast eine Million Teilnahmen seit Beginn des Projekts.
Persönliche Geschichten
Auch in der Redaktion von extra3, dem Satiremagazin des NDR, ist das Publikum nun deutlich präsenter. In der Rubrik „Ihr persönlicher Corona-Irrsinn“ werden von Zuschauer*innen aufgenommene Videos gezeigt. Es geht um skurrile Erlebnisse mit Corona-Maßnahmen und -Vorgaben während der Quarantäne. Andreas Lange, Redaktionsleiter der NDR-Sendung, ist klar geworden: „Wir haben die Form der persönlichen Geschichten der Menschen neu entdeckt. Vorher gingen die Geschichten vom Thema aus, jetzt von den Leuten, die etwas zu erzählen haben.“
Und obwohl mit den Lockerungen der Kontaktsperren schon ein Rückgang der Beteiligung zu verzeichnen ist, soll die engere Beziehung zum Publikum auch in Zukunft aufrechterhalten werden. „Wir überlegen, diese persönlichen Einblicke auch nach Corona beizubehalten und für kleinere Stories öfter Material der Zuschauer zu verwenden“, so Lange. Auch Ebitsch von der SZ sieht den Nutzen von dialogischen Formaten: „Das bringt nicht nur unseren Lesern etwas, sondern auch uns als Redaktion werden neue Facetten und Anregungen geliefert.“
Themen- und Quellenhinweise
Es gibt Redaktionen, die den Dialog mit den Nutzer*innen bereits zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit gemacht haben. Beim Freitag wird die Community durch ein eigenes Ressort repräsentiert. Das hat für Jan Jasper Kosok, Leiter der Community des Freitags, viele Vorteile – auch abseits von Krisenzeiten: „Neben der gewonnenen Reichweite, die bei uns 25 Prozent des Traffics ausmacht, erhalten wir durch unsere Community nutzergenerierten Content, Anregungen für neue Themen und Hinweise zu möglichen Quellen.“ Auch die Republik aus der Schweiz setzt auf eine starke Einbindung der Leserschaft. Richard Höchner, Mitgründer der Republik und Leiter der Netzwerkredaktion, erklärt, dass mit jedem Artikel eine Debatte angestoßen werden soll. „Wir legen sehr viel Wert darauf, dass unsere Redakteure einen gewissen Teil ihrer Arbeitszeit mit dem Dialog mit den Lesern verbringen.“
Neue Funktion
Dialog also als journalistisches Selbstverständnis. Die Kommunikationswissenschaftlerin Wiebke Loosen erklärt, dass die Einbeziehung des Publikums nicht ohne Weiteres umzusetzen ist: „Die Anschlusskommunikation zu managen und möglicherweise auch noch in den Dialog einzusteigen, ist Teil einer neuen Funktion des Journalismus. Für deren Umsetzung werden entsprechende Ressourcen benötigt.“ Um diesen Schritt zu erleichtern, hilft es, Erkenntnisse aus Community-Projekten mit anderen zu teilen. Astrid Csuraji hat aufbauend auf diesem Gedanken zusammen mit ihrem Kollegen Bertram Weiß den Newsletter Dialogger entwickelt, der alle 14 Tage erscheint und das Ziel verfolgt, Erfahrungen rund um das Thema Publikumsbeteiligung auszutauschen. Csuraji ist außerdem Mitgründerin von tactile.news, einer Art Innovationslabor, in dem journalistische Kampagnen und Dialog-Formate entwickelt werden. Sie sagt: „Hinhören ist der Schlüssel zum Überleben des Journalismus.“ Die Krise hat bereits gezeigt, dass es sich lohnt.
28. August 2020