#nr19 | Kommentar | Relotius
Schonungslose Selbstkritik? Schön wär’s!
Claas Relotius hat mit seinen Fälschungen eine Schwachstelle des Journalismus sichtbar gemacht. Zeit für eine kritische Selbstreflexion? Nicht für jeden.
von Paula Lauterbach
Der Hunger nach Journalistenpreisen, ein elitäres und sich abschottendes Gesellschaftsressort, eine ungenau arbeitende Dokumentation, die sich von dem Charisma der Kollegen blenden lässt, und Verantwortliche, die Relotius aufgrund seines Erfolges blind vertrauten: Der Abschlussbericht der Untersuchungskommission ist verheerend für den Spiegel. Und notwendig. Ein Fall von solchem Ausmaß ließ nichts anderes als schonungslose Selbstkritik zu. Um künftige Fälschungen zu vermeiden, formuliert die Kommission zahlreiche Verbesserungsvorschläge für den Spiegel. Neben einer verschärften Überprüfung zufällig ausgewählter Artikel soll ein Text pro Woche gar nicht von der Dokumentation überprüft werden. Warum? Jeder Autor soll seine Arbeit so erledigen, dass sie auch ohne Kontrolle der Dokumentation veröffentlicht werden könnte. Das soll nicht zuletzt Bequemlichkeit vorbeugen. Ein journalistisches Selbstverständnis, dass der Spiegel anscheinend vergessen hatte.
„Wir haben schon seit Jahrzehnten Qualitätsstandards, die unmissverständlich sind. Fälschungen würden hart sanktioniert, sie sind unvereinbar mit der Tätigkeit als Journalist.“
BR – Christian Nitsche (Chefredakteur)
Doch der Fall Relotius betrifft nicht nur den Spiegel. Claas Relotius hat auch für andere Medien geschrieben und in großem Stil betrogen, wie gerade erst durch Volker Lilienthal und Journalistik-Studierende der Universität Hamburg – die Autorin dieses Textes eingeschlossen – aufgedeckt wurde: Auch seine frühen Texte für die Financial Times Deutschland enthalten etliche Fälschungen. Dennoch bleiben ausgewiesene Verifikationsabteilungen in Redaktionen eine Seltenheit. Manch Verantwortlicher sieht nicht einmal die Notwendigkeit, die eigenen Kontrollinstanzen kritisch zu hinterfragen. Eine Einstellung, die angesichts des aktuellen Misstrauens gegenüber den Medien – verstärkt durch das Relotius-Trauma – kaum nachzuvollziehen ist. Es gibt keinerlei rationale Gründe, auf eine Instanz zu verzichten, die mit zusätzlicher Expertise Fakten prüft, um Fehler zu vermeiden.
„Bei der F.A.Z. gehört die sorgfältige Recherche der Fakten für jeden Redakteur zum journalistischen Handwerk. Vor der Veröffentlichung werden alle Artikel nochmals geprüft.“
F.A.Z – Petra Hoffmann (Öffentlichkeitsarbeit)
Ein Beispiel, das bezeichnend ist für eine Branche, in der sich viele Redaktionen ihrer Arbeit zu sicher sind, ist der Bayerische Rundfunk (BR). Laut Chefredakteur Christian Nitsche herrschen beim BR seit Jahrzehnten Qualitätsstandards, die unmissverständlich seien. Doch wie konnte es der Bloggerin Marie Sophie Hingst dann gelingen, auch den BR zu täuschen?
„Wir haben an dem Vertrauensvorschuss, den unsere Autoren genießen, auch aufgrund dieses Falles nichts geändert. Ich will nicht bei jedem Artikel denken, dass irgendein Mensch mir mein Leben schwermachen will.“
brand eins – Katja Ploch (Dokumentarin)
Der Abschlussbericht der Relotius-Kommission sollte Pflichtlektüre in allen Redaktionsstuben sein. Als abschreckendes Beispiel, was in einer Redaktion alles schieflaufen kann, und als Anreiz, auch die eigenen Methoden noch einmal zu überdenken.
15. August 2019