Ringvorlesung "Lügenpresse"
Haller: Berichterstattung wies erhebliche Defizite auf
In der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 haben Journalisten ihre öffentliche Aufgabe, Kritik und Kontrolle zu üben, teilweise verfehlt. So lautet ein Ergebnis einer noch unveröffentlichten Studie, die unter Leitung von Message-Gründer Michael Haller an der Hamburg Media School (HMS) entsteht. Die Leitmedien haben Michael Haller zufolge viel zu spät begonnen, auch über die Schwierigkeiten von Bundesregierung, Ländern und Verwaltung angesichts der hohen Zahl ankommender Flüchtlinge zu berichten. Stattdessen habe der Tenor der Medien auf einer optimistischen „Willkommenskultur“ gelegen, sagte Haller am 28. November im Rahmen der Ringvorlesung zum Reizthema „Lügenpresse“ an der Universität Hamburg.
Von Ariane Butzke
Viel zu lange hätten viele deutsche Medien an einer geradezu „euphemistischen Berichterstattung“ festgehalten. Datengrundlage der vorgestellten empirischen Studie bildete das Archiv der WISO/Genios-Datenbank, das weit über hundert Regionalzeitungen (Printausgaben) beinhaltet. Laut Haller repräsentieren sie die journalistische Berichterstattung, ausgenommen waren meinungsbetonte Beiträge wie etwa Kommentare, der abonnierten Medien. Dieser zufolge publizierte die Regionalpresse seit 2009 bis Ende 2015 mehr als 30.000 Berichte, die von der „Willkommenskultur“ handelten. Hauptsächlich sei das Bild eines generösen Deutschlands, das sich selbst mit seiner „Willkommenskultur“ feierte, bedient worden. „Natürlich war diese Berichterstattung der Gegenpol zu dem ‚hässlichen‘ Deutschland in der EU, wo die Bundesregierung wegen der Sparpolitik in Griechenland kritisiert wurde. Noch im Frühjahr 2015 hielten die meisten Deutschen im Westen sich für großartige Gastgeber und Flüchtlingshelfer.“ Haller hält die konstante „Selbstbeweihräucherung“, von der alle ernstzunehmenden Medien „betroffen“ waren, für ein „enormes Mediendefizit“.
„Kritik an der Willkommenskultur in Deutschland wurde höchstens im Sinne der Euphorisierung betrieben. In den Medienberichten forderten die Akteure noch mehr Offenheit und Gastfreundlichkeit“, kritisierte Haller. Sozial schwache und unzufriedene Bundesbürger seien praktisch nicht aufgetaucht. „Dieser ernstzunehmende Teil der Gesellschaft fragt sich natürlich, ob er noch willkommen ist“, unterstrich der Kommunikationswissenschaftler, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Leipzig lehrte. Derzeit leitet er die Journalismusforschung an der HMS.
Im Juli 2015 sei die Berichterstattung über Flüchtlinge „explodiert“, fasste Haller ein weiteres Ergebnis der großangelegten Inhaltsanalyse zusammen. Die große Mehrheit der deutschen Medien habe den Satz „Wir schaffen das“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Leitlinie der Berichterstattung übernommen. „Der gesamte politische Diskurs war auf diese Aussage der Kanzlerin fokussiert. Die Medien haben ihn zum Anlass genommen, ein gesamtgesellschaftliches Selfie davon zu machen, wie toll wir sind.“ Erst im Oktober 2015 sei die Überforderung der Regierung und der Bevölkerung erstmals von einigen Medien thematisiert worden.
Nachhaltig an Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren
„Die anfangs kleine Minderheit derjenigen, die sich unverstanden und missachtet fühlen, wurde immer größer“, erläuterte Haller. Erst mit den Vorkommnissen in der Silvesternacht in Köln habe ein Umschwung in der Berichterstattung stattgefunden. „Die Medien haben eine radikale Kehrtwendung hingelegt. Plötzlich waren junge männliche Flüchtlinge und Asylbewerber der Problembär in Deutschland“. Haller zufolge lässt sich dieser Umschwung wie eine „Wiedergutmachung“ für die bisherigen Versäumnisse deuten. „Spätestens hier wurde deutlich, dass die Zeitungen dem Meinungsumschwung eines wachsenden Teils der Bevölkerung hinterher liefen. Dadurch hat die gesamte Medienlandschaft nachhaltig an Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren“, fasste Haller zusammen.
Konkret bemängelte Haller, der auch Gründungsherausgeber der journalistischen Fachzeitschrift Message ist, dass die Flüchtlingsfrage überwiegend auf institutioneller Ebene behandelt worden sei. „Fast 75 Prozent der zum Thema Flüchtlinge Befragten waren entweder in der Politik, den Behörden oder in der Justiz ansässig. Da entsteht schnell der Eindruck, die Berichterstattung sei abgehoben.“ Journalisten hätten neben dem parteipolitischen Konfliktstoff auch über die sozialen und psychosozialen Probleme „vor der Haustür“ berichten müssen. Auch konkrete Maßnahmen, die zu recherchieren gewesen wären, hätten die Berichterstattung laut Haller qualitativ aufgewertet und dem Diskurs seine Abstraktheit nehmen können.
Bedeutet das nun, dass die Flüchtlingsberichtserstattung des Jahres 2015 „Lügenpresse“ war? Nein, so Haller. „Die Berichterstattung weist im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage bis heute erhebliche Defizite auf. Das bedeutet aber nicht, dass der Vorwurf ‚Lügenpresse‘ angemessen ist.“
Die Studie unter Leitung von Prof. Haller entstand mit Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung und soll zu Beginn des neuen Jahres veröffentlicht werden.
1. August 2017