Relotius
Spiegel-Chef Klusmann: „Die Quote liegt bei 99 Prozent gefälscht“

Über Relotius hinaus: Spiegel-Revision offenbart Fehlentwicklungen in der Redaktionskultur

Von Julian Marc Schröder

Die vom Spiegel eingesetzte sogenannte Aufklärungskommission versucht in ihrem Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre Relotius aufzudecken, wie der Schwindler so lange unbemerkt Fälschungen für das Nachrichtenmagazin produzieren konnte. Schuld sei die abgekapselte Sonderstellung des Gesellschaftsressorts, eine versagende Dokumentation und der interne Druck, Journalistenpreise zu gewinnen. Zudem diagnostizieren die Ermittler eine mangelhafte Fehlerkultur im Haus und weisen der Reportage als Stilform eine besonders hohe Anfälligkeit für Täuschungen zu. Besonders irritierend: Für Spiegel-Stories wurden die zu einer vorgefertigten These passenden Protagonisten gecastet.

„Das Verhältnis der Ressortleitung zu Relotius war geprägt von absolutem Zutrauen, zum Teil Bewunderung.“ So lautet ein Satz des Spiegel Abschlussberichts zur Relotius-Affäre, der sich jetzt wie ein schlechter Scherz liest. Es ist bei weitem nicht der Einzige, der schockiert. Schnell wird klar, wie Relotius mit seinem schreiberischen Blendwerk so lange davonkommen konnte.

Claas Relotius, der seit 2014 als freier Journalist und ab April 2017 als fester Redakteur für den Spiegel schrieb, hatte bis zum Dezember 2018 bei rund 60 Texten Gelegenheit, seiner Erfindungskraft freien Lauf zu lassen. Der intern als „Jahrhunderttalent“ gefeierte Spiegel-Redakteur fälschte, trickste und täuschte, um perfekte Geschichten zu schreiben. Fakten zu ignorieren, die angebliche Wahrheit zu erfinden – das schwerste Vergehen für jeden Journalisten, ein fortgesetzter Betrug an den Lesern, der nun auch auf den Spiegel abfärbt. „Es gibt Geschichten, die im Kern wahr sind, aber so gespickt sind mit falschen Zutaten, dass ich sage, dass die Quote bei 99 Prozent gefälscht liegt“, so der Chefredakteur des Spiegel Steffen Klusmann beim Pressegespräch zum Abschlussbericht. Dass Relotius aufflog, ist dem freien Spiegel-Reporter Juan Moreno zu verdanken, der gegen erhebliche Widerstände im Haus Relotius‘ Geschichten nachrecherchierte. Moreno erhält dafür nun den „Leuchtturm“-Preis von Netzwerk Recherche.

Erschreckende Ergebnisse

Nachdem der Spiegel den Betrug von Relotius am 19. Dezember in eigener Sache bekannt gemacht hatte, versprach das Magazin, eine Kommission einzuberufen, die den Skandal aufklären sollte.

Die Kommission bestand aus der freien Journalistin und früheren Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“ Brigitte Fehrle, dem kommissarischen Blattmacher des Spiegel Clemens Höges und dem seit ersten Januar amtierenden Nachrichtenchef des Spiegel Stefan Weigel. Es war also nur eine Unabhängige dabei, alles Journalisten, kein Sachverständiger aus der Wissenschaft. Und doch haben die drei mit ihrer fünf Monate in Anspruch nehmenden Revision ganze Arbeit geleistet. Zusammen mit Chefredakteur Steffen Klusmann und Geschäftsführer Thomas Hass präsentierten Fehrle und Weigel am 24. Mai ihre Ergebnisse. Sie sind erschreckend.

Die Strukturen im Spiegel haben demnach wesentlich dazu beigetragen, dass Relotius so lange unentdeckt blieb. Oder präziser: der Mangel an Strukturen. Relotius war Redakteur des Gesellschaftsressorts. Ein Ressort, das der Abschlussbericht als elitär und abgeschottet beschreibt und das bei Kritik von Kollegen sich immer des Schutzes der wechselnden Chefredeakteure sicher sein konnte. Über die Zeit sei so der Hass in Redaktion und Dokumentation auf das Gesellschaftsressort gewachsen. Diese Isolation begünstigte Relotius‘ Fälschungsserie. Niemand wollte genauer hinsehen, auch nicht in der Dokumentation.

Dokumentare hätten Fälschungen aufdecken können

Wie wenige andere Medien besitzt der Spiegel eine Instanz, die journalistische Fehler beseitigen soll, bevor die Texte veröffentlicht werden: die Dokumentation. Beim Spiegel arbeiten dort nach eigenen Angaben rund 50 Dokumentare, deren Aufgabe es ist, alle Texte vor Publikation einer gründlichen Verifikation zu unterziehen. Von diesen 50 Mitarbeitern sei jedoch nur einer für das ganze Gesellschaftsressort zuständig gewesen, was von den Verantwortlichen niemand in Frage gestellt habe. Immer der gleiche Mann – das ließ gefährliche Vertrautheit und Gutgläubigkeit entstehen. Die Leitung der Dokumentation habe der Kommission gegenüber zugegeben, dass man bei sorgfältiger Arbeit auch Relotius‘ Fälschungen hätte aufdecken können, wenn man sich kritisch mit seinen Texten auseinandersetzt hätte, heißt es in dem Revisionsbericht.

Was für den Außenstehenden selbstverständlich klingt, hat das zentrale Kontrollorgan des Spiegel nicht vollbracht. Dies gilt jedoch nicht nur für die Dokumentation, sondern für das gesamte Unternehmen. Claas Relotius sei bei seinen Kollegen, Vorgesetzten und Dokumentaren über die Maßen beliebt gewesen, was zu einem blinden Glauben gegenüber jedem Märchen geführt habe, das Relotius zu Papier brachte.

Man hat ihm auch nur allzu gerne geglaubt.

Die Reportagen des Gesellschaftsressorts räumten in den vergangenen Jahren eine Reihe von Journalistenpreisen ab. Daraus sei eine Erwartungshaltung entstanden, die von der nächsten Geschichte einen weiteren großen Wurf verlange. Relotius hat diese Gier ausgenutzt und mit seinen Fälschungen bedient. Wie vom Fließband lieferte er eine scheinbar perfekte Geschichte nach der anderen. Bei solch wunderbaren Werken hat sich laut Bericht niemand damit aufgehalten zu prüfen, ob die Geschichten nicht zu schön sind, um wahr zu sein. Schlimmer noch: kaum jemand wunderte sich, fragte sich, woher Relotius all das wissen wollte, wenn er sich mal wieder als allwissender Gedankenleser seiner Protagonisten betätigt hatte.

„Gerade eben nicht mehr falsch“

Der Bericht zitiert die Äußerung eines Dokumentars, wonach „nicht selten“ kurz vor Druck Fakten vom Dokumentar so hingebogen werden sollten, dass ein Text „gerade eben nicht mehr falsch ist“, um eine These zu retten, die in einer Konferenz vorgestellt wurde.

Ein weiterer Faktor für den Erfolg von Relotius ist laut Kommission die Stilform der Reportage. Die von Journalisten erklärte „Königsdisziplin“ sei vom Gesellschaftsressort oft akribisch bis ins kleinste Detail geplant worden. Wie bei einem Filmcasting seien zum Plot passende Protagonisten gesucht worden. Der Bericht zitiert hierfür einen blamablen E-Mail-Verkehr zwischen Relotius und Kollegen:

„Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze ankündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut (…) Wenn ihr die richtigen Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres.“

Das ist ein journalitsicher Offenbarungseid für ein früher sogenanntes Nachrichtenmagazin, das vorgab, der Devise seines Gründers Rudolf Augstein – „Sagen was ist“ – immer noch zu folgen. Der Bericht relativiert, dass dieser Detailierungsgrad unüblich gewesen sei. Chefredakteur Klusmann möchte auch weiterhin an der Reportage festhalten: „Ich halte die journalistische Form der Reportage für essenziell und wichtig für den Journalismus. Auch für den Spiegel. Es muss halt stimmen. Die Reportage ist ja nicht ein auf Betrug ausgelegtes Format.“

Kollektives Versagen

Letztlich kommen viele Fehler von unterschiedlichen Akteuren zusammen. Je nach Auffassung lässt sich so die Schuld aufteilen (aber nicht entschuldigen) oder man kann von einem kollektiven Versagen sprechen. Wichtig ist jetzt, es Fälschern künftig schwerer bis unmöglich zu machen, Redaktion und Publikum Lügen aufzutischen. Die Kommission hat dazu eine lange Liste an Verbesserungsvorschlägen präsentiert. Sie erinnert an selbstverständliche journalistische Standards, schlägt aber auch konkrete Änderungen im Arbeitsalltag des Spiegel vor. Wichtigste Neuerung ist die „erweiterte Verifikation“ eines zufällig ausgewählten Textes für jede Ausgabe. Hierbei überprüft die Dokumentation die Geschichte bis in ihr letztes Detail und der Autor oder die Autorin muss jegliche Notizen, Fotos, Videos und Audioaufnahmen zu Verfügung stellen. Fälscher sollen so abgeschreckt werden. Die Kommission fordert auch eine Ombudsstelle für Hinweisgeber wie den Spiegel-Reporter Juan Moreno, dem zunächst niemand glauben wollte.

Der Betrug beim Spiegel ist kein Einzelfall. Man darf nicht vergessen, dass auch andere Medien nicht vor Fälschern sicher sind. Relotius erfand bereits bei einer Reihe anderer großer Medien Geschichten. Vor kurzem deckte Message auf, wie Relotius bereits zwischen August 2010 und April 2012 bei der Financial Times Deutschland (FTD) täuschte. Klusmann war auch damals bei der FTD der Chefredakteur von Relotius und kommentierte nun: „Ehrlich gesagt wundert mich das nicht. Egal ob Zeit, NZZ, Süddeutsche, wo auch immer, er hat überall getrickst. Es wäre ja ein Wunder gewesen, wenn er bei der FTD damals nicht getrickst hätte.“

Weitere Fälle bewusster Fälschungen beim Spiegel hat die Kommission nicht gefunden. Aber sie kennt offenbar Hinweise auf Manipulationen in Spiegel-Texten der 1950er-Jahre und fordert: „Die Arbeit muss in diesem Punkt weitergehen.“ Möglicherweise ist dies eine Anspielung auf Lutz Hachmeister, der mehrfach darauf hingewiesen hat, dass das „Sturmgeschütz der Demokratie“ in seiner Frühzeit Nazis eine Heimstatt bot. „Sagen was ist“ – mit den Tatsachen werden die es so genau nicht genommen haben.

Wenn der Spiegel sich wirklich seiner Vergangenheit zuwenden wollte und Artikel aus dem vorigen Jahrhundert, aus der 1950er-, vielleicht auch -60er oder -70er-Jahren einer Revision unterwerfen würde – nicht auszudenken, was dabei herauskommen könnte.

30. Mai 2019