#NR23 | Handwerk
»Wenn der Leser der Held seiner Erkenntnisreise wird, ist die Geschichte gelungen.«
Manuel Stark ist Mitbegründer von Hermes Baby, einer Agentur für Erzähljournalismus, und dem Ressort Green bei der Zeit. Seine Reportagen verbinden empathisches Erzählen mit komplexen wissenschaftlichen Fakten. Ein Gespräch über die Widerborstigkeit der Wirklichkeit und wie man sie lesenswert zu Papier bringt.
Manuel, ein Grundsatz von Hermes Baby lautet: »Wir orientieren uns an Menschen und nicht an Themen.« Wie verwandelt sich eine spannende Themenidee zu einer Geschichte über einen Menschen?
Ich habe zwei Prozesse, der eine ist die viel schönere Form. Wenn ich unterwegs merke, dass die Person, mit der ich im Biergarten sitze, etwas Besonderes macht – das ist toll. Der Mensch ist mir dann vor dem Thema begegnet. Aber das ist, wenn man mit diesem Beruf seine Miete bezahlen will, eher die Ausnahme und nicht verlässlich. Verlässlich sind zum Beispiel Google Alerts für Themen, die mir etwas bedeuten – Biodiversität, Nachhaltigkeit, Mensch-Umwelt-Beziehungen. Das hilft mir, auf Ideen zu kommen, die ich spannend finde. Auf der Basis solcher Meldungen beginnt dann die Recherche, und die Geschichte entsteht auf dem Weg dahin.
Welche Kriterien müssen gegeben sein, damit du dich für eine Reportage entscheidest?
Erzählungen sind dann das richtige Format, wenn eine gewisse Dynamik in der Luft liegt. Eine Reportage erkundet, stellt Fragen und findet bis zum Schluss keine eindeutige Antwort. Denn dafür ist sie nicht die richtige Form.
Nicht jede Recherche braucht eine Erzählung. Ganz im Gegenteil: Ich fände das total schlimm, wenn wir nur noch Erzählungen hätten. Da werde ich als Gründer einer Erzählagentur in der Branche oft falsch verstanden. Erzählungen sind die Kirsche auf der Torte – echt weit weg vom Schwarzbrot, der Grundlage des Journalismus. Mir ist bewusst, dass mein Journalismus das Erste ist, was Verlage wegkürzen werden, wenn sie Geldprobleme bekommen. Ich liefere den Luxus.
Hast du ein Beispiel für diese Dynamik, die in der Luft liegt?
Ein gutes Beispiel ist, als ich über einen Bauer geschrieben habe, der in Lützerath seinen Hof nicht an RWE abgeben wollte. Eine andere Zeitung hatte vor mir darüber berichtet. Dort war eine starre redaktionelle Mission in der Dramaturgie zu erkennen: Kleiner Bauer gegen großen Energiekonzern – David gegen Goliath. Ich dachte mir: Niemals ist das so einfach. Es war medienwirksam, die Geschichte so zu erzählen, aber entsprach nicht der Realität. Ich habe bei meiner Recherche versucht zu verstehen, wie es wirklich ist. Beim Erzählen muss man nicht alles so vereinfachen. Das ist Unsinn und kann einem nur unterlaufen, wenn man keine Ahnung von Erzähltechniken hat. Die Grautöne sind das Spannende.
Welche Relevanz hat das Ungesagte?
Das Nichtsagen ist wichtiger als das Sagen. Der Kuleshov-Effekt ist in dem Kontext interessant. Das ist ein Effekt, den bereits Hitchcock für seine Filme verwendete. Vereinfacht gesagt bedeutet es: Gib deinen Zuschauern, Lesern, Hörern immer nur den Rechenweg vor, niemals das Ergebnis. Wenn wir zwei Bilder nebeneinandersetzen und eine Wenn-dann-Beziehung zwischen ihnen suggerieren, dann denken wir uns automatisch eine Verbindung dazu. Wir deuten Eindrücke also niemals einzeln, sondern immer nur in Bezug auf ihren Kontext. Dieser Effekt ist zentral für das Erzählen: Das, was wir weglassen, ist eine Einladung mitzudenken. Überall, wo der Leser der Held seiner eigenen Erkenntnisreise wird, ist die Geschichte gelungen.
Das gibt dem Autor bzw. der Autorin aber auch eine große Macht, die Realität zu verfälschen.
Ja, der Autor kann sich immer auf die Fakten im Text berufen, aber hat zwischen den Zeilen vielleicht ein verzogenes Bild der Realität konstruiert, das bei den Lesern im Kopf bleibt. Und das passiert bei größeren Medien regelmäßig – absichtlich oder unabsichtlich. Ein großes Problem. Deswegen plädiere ich für die Kenntnis von verschiedenen Erzähltechniken. Gar nicht, weil ich will, dass jeder jetzt nur noch erzählt. Sondern weil ich denke, dass man mit diesem Wissen bessere analytische Texte schreibt.
Wie passt denn die Wahrheit mit gutem Erzählen zusammen?
Gutes Erzählen verwebt Information und Emotion. Nur diese Verknüpfung schafft ein Abbild der Wirklichkeit. Ich finde Texte unglaubwürdig, die mir ein Einzelschicksal nahebringen, und dann behaupten, diese Geschichte stehe stellvertretend für eine Gruppe. Menschen passen nie in eine Statistik, aber der Journalismus tut gerne so. Und da fängt das Problem an: Die Figur ist auf einmal flach und schwarz-weiß. Statistik sorgt nicht für Identifikation, das schafft nur die Individualität.
Und zuletzt: Gute Geschichten brauchen Empathie – keine Sympathie. Ich kann am Ende der Recherche immer noch denken: Du bist ein Arschloch.
Ist es dir schon passiert, dass du zugunsten der Dramaturgie die Wahrheit verzerrt hast?
Bevor ich mich mit klassischen Erzähltechniken befasst habe, war ich manchmal verführt, zugunsten meiner These die Wahrheit zu strapazieren. Also zum Beispiel »sehr viele« zu schreiben, obwohl es nur 30 Prozent waren. Mir fehlte das Handwerk, mit dieser Widerborstigkeit der Wirklichkeit gut umzugehen. Als Reporter bin ich ein Regisseur im Schatten der Bühne. Man merkt dem Text direkt an, wenn der Autor die Bühne betritt und zum Redner wird. Das ist der Moment, wo ich als Autor versage. Das ist mir schon passiert und dafür schäme ich mich hart.
Jetzt macht mir die Wirklichkeit keine Angst mehr, auch wenn alles ganz anders kommt, als ich durch die Dramaturgie geplant hatte. Mit den Erwartungen zu brechen macht die Geschichten oft erst so gut.
Was sind die Lektüren deines Werkzeugkoffers für gutes Erzählen?
Ich empfehle das Buch »Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben« von Roy Peter Clark. Der ist viel besser als Wolf Schneider, weniger arrogant und liefert mehr Inhalt. Was mich aber auch wahnsinnig fasziniert, ist »The Seven Basic Plots« von Christopher Booker. Er ist Ethnologe und untersucht die sieben Handlungsmuster, die in der Weltgeschichte immer wieder vorkommen. Das ist kein Journalismus, aber das Buch hilft dabei, ein passendes Erzählmuster zu finden, an dem man sich grob orientieren kann.
Die Bücher sehen bestimmt schlau im Regal aus, aber benutzt du so was auch in der Praxis?
Ja, klar. Beispiel: Du schreibst über eine Virologin, die einen Corona-Impfstoff finden will. Sie steht den ganzen Tag nur am Mikroskop, es gibt kaum Szenen – was machst du? Man ist schnell am Ende. Es sei denn, man nimmt Bookers Monster-besiegen-Plot und setzt das Coronavirus an die Position des Monsters. Diese Erzählebene ist an sich noch zu platt, aber gefüllt mit Statistiken und Wissenschaft wird das eine spannende Mischung. Viele sagen: Erzählen und Zahlen vertragen sich nicht. Aber das ist Müll. Jeder liebt Zahlen, die Frage ist nur, mit welcher Bedeutung sie aufgeladen werden. Das ist das A und O von gelungenem Wissenschaftsjournalismus, der sich an die breite Bevölkerung richtet.
Haben aufwendig recherchierte und lange Erzählungen eine Zukunft im Journalismus?
Gelungener Journalismus muss verführen und darf nicht in diesem Gestus steckenbleiben, dass Menschen nach Informationen streben. Dieser Kampf um Aufmerksamkeit gelingt durch Verführung meiner Meinung nach besser als durch Mahnen. Erzählungen laden einen dazu ein, deswegen brauchen wir sie gerade jetzt mehr denn je.
Die Fragen stellte Stella Lueneberg.
16. August 2023